Language of document : ECLI:EU:T:2022:443

Rechtssache T150/20

Tartu Agro AS

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 13. Juli 2022

„Staatliche Beihilfen – Landwirtschaft – Pachtvertrag über landwirtschaftliche Flächen in Estland – Beschluss, mit dem die Beihilfe als unvereinbar mit dem Binnenmarkt erklärt wird und deren Rückforderung angeordnet wird – Vorteil – Bestimmung des Marktwerts – Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers – Komplexe wirtschaftliche Beurteilungen – Richterliche Kontrolle – Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte – Sorgfaltspflicht“

1.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen zu Vorzugsbedingungen – Einbeziehung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 36)

2.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Verpachtung landwirtschaftlicher Flächen durch eine Behörde zu Vorzugsbedingungen – Beurteilung anhand des Kriteriums der normalen Marktbedingungen – Marktpreis – Bestimmungsmethode – Beurteilungsspielraum der Kommission – Grenzen – Erfordernis einer Methode, die geeignet ist, den Preis zu ermitteln, der dem Marktwert möglichst nahekommt – Der Kommission obliegende Beweislast – Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte des streitigen Geschäfts und seines Kontextes

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 37, 38, 48, 53-55, 56-58, 59, 63, 64, 68, 69, 73, 84, 97-99)

3.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Rechtlicher Charakter – Auslegung anhand objektiver Kriterien – Gerichtliche Überprüfung – Umfang – Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten – Prüfung der sachlichen Richtigkeit, der Zuverlässigkeit und der Kohärenz der Beweise – Prüfung der Vollständigkeit der maßgeblichen Daten – Kontrolle der Einhaltung der den Beteiligten verliehenen Verfahrensgarantien

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 39, 40)

4.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Verpflichtungen der Kommission – Sorgfältige und unparteiische Prüfung – Berücksichtigung möglichst vollständiger und verlässlicher Informationen – Umfang der Verpflichtung – Vollständigkeit der Prüfung der im Verfahren vorgebrachten Umstände – Wahrnehmung von Untersuchungsbefugnissen bei Vorliegen für unzureichend erachteter Angaben

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 74-76, 82-84, 95)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Verpachtung landwirtschaftlicher Flächen durch eine Behörde zu Vorzugsbedingungen – Beurteilung anhand des Kriteriums der normalen Marktbedingungen – Einbeziehung von Aufwendungen, die der Begünstigte aufgrund zusätzlicher vertraglicher Verpflichtungen tätigt, in die Pachteinnahmen – Fehlender Vergleich der wirtschaftlichen Vernünftigkeit des Verhaltens der betreffenden Behörde mit der eines privaten Wirtschaftsteilnehmers – Offensichtlicher Beurteilungsfehler

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 62, 100-102)

Zusammenfassung

Die Tartu Agro AS ist eine Gesellschaft estnischen Rechts, die seit 1997 als Nachfolgerin eines staatlichen Landwirtschaftsbetriebs Milch, Fleisch und Getreide erzeugt. Nach einem nicht offenen Ausschreibungsverfahren schloss sie mit den estnischen Behörden am 16. November 2000 einen Pachtvertrag mit einer Laufzeit von 25 Jahren über landwirtschaftliche Flächen von insgesamt über 3 000 ha. Die finanziellen Bedingungen dieses Vertrags umfassten zwei Aspekte, nämlich zum einen die Verpflichtung, einen jährlichen Pachtzins zu entrichten, der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses 3,24 Estnische Kronen (EEK)/ha (etwa 0,20 Euro/ha) betrug(1), und zum anderen die Übernahme verschiedener Kosten, u. a. jährliche Mindestinvestitionen in Entwässerungssysteme, die Instandhaltung der Fläche und Bodenverbesserung, sowie die Zahlung der Grundsteuer für den Verpächter.

Nachdem 2014 eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission eingegangen war, mit der vor diesem Hintergrund geltend gemacht wurde, dass Tartu Agro eine rechtswidrige staatliche Beihilfe gewährt worden sei, eröffnete die Europäische Kommission mit Beschluss vom 27. Februar 2017 das förmliche Prüfverfahren. Dieses Verfahren führte am 24. Januar 2020 zum Erlass des angefochtenen Beschlusses(2). Darin stellte die Kommission fest, dass die estnischen Behörden der Klägerin eine Beihilfe gewährt hätten, indem sie landwirtschaftliche Flächen zu Vorzugsbedingungen an sie verpachtet hätten, erklärte diese Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar und ordnete ihre Rückforderung an.

Am 24. März 2020 erhob Tartu Agro Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses. Mit seinem Urteil hat das Gericht ihren Anträgen stattgegeben und dies mit den offenkundigen Beurteilungsfehlern, mit denen die Schlussfolgerungen der Kommission zum Vorzugscharakter der finanziellen Bedingungen des streitigen Vertrags behaftet sind, und einem Verstoß der Kommission gegen ihre Sorgfaltspflicht begründet. Insbesondere hat es präzisiert, welche Nachweise erforderlich sind, damit die Kommission im Rahmen ihrer Prüfung angeblicher Vorzugsbedingungen einer Transaktion nach Maßgabe der Regelung über staatliche Beihilfen auf das Vorliegen eines Vorteils schließen kann, wenn diese Prüfung auf einem Vergleich zwischen den fraglichen Bedingungen und den dem Marktpreis entsprechenden Bedingungen beruht. Dabei hat es auch auf den genauen Umfang der Kontrolle hingewiesen, die es in Bezug auf von der Kommission im Bereich der staatlichen Beihilfen vorgenommene komplexe wirtschaftliche Bewertungen auszuüben hat.

Würdigung durch das Gericht

Nach Auffassung des Gerichts waren von den verschiedenen von Tartu Agro geltend gemachten Klagegründen zunächst diejenigen zu prüfen, die sich gegen die von der Kommission vorgenommene Beurteilung der Vereinbarkeit des im Pachtvertrag vorgesehenen Pachtzinses mit dem Marktwert und die Bestimmung der Höhe des Vorteils richteten.

In diesem Kontext hat das Gericht vorab darauf hingewiesen, dass es nach ständiger Rechtsprechung unter den Begriff „staatliche Beihilfe“ fällt, wenn ein Unternehmen einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt, den es unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte. Dies gilt insbesondere für die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen zu Vorzugsbedingungen. Im Übrigen hat die Kommission – gegebenenfalls mit Hilfe von Sachverständigen oder durch Anforderung zusätzlicher Informationen – zu prüfen, ob eine staatliche Maßnahme einen Vorteil beinhaltet, der nicht den normalen Marktbedingungen entspricht. Da die Kommission somit komplexe wirtschaftliche Gegebenheiten zu würdigen hat, darf das Gericht zwar bei der Ausübung seiner richterlichen Kontrolle die von der Kommission vorgenommene wirtschaftliche Beurteilung nicht durch seine eigene ersetzen, hat aber insbesondere zu prüfen, ob die Auslegung von Wirtschaftsdaten durch die Kommission auf sachlich richtigen, zuverlässigen und kohärenten Gesichtspunkten beruht, die die aus ihnen gezogenen Schlüsse stützen und alle relevanten Gesichtspunkte des konkreten Falles darstellen.

Im Licht dieser Grundsätze hat das Gericht sodann die Begründetheit der Rügen geprüft, die Tartu Agro in Bezug auf die Vereinbarkeit des Pachtzinses mit dem Marktpreis und die Berücksichtigung der zusätzlichen Aufwendungen erhoben hatte.

Was erstens die streitigen Schlussfolgerungen betrifft, die die Kommission aus dem Vergleich zwischen dem Pachtzins als solchem und den Marktbedingungen gezogen hat, hat das Gericht zunächst darauf hingewiesen, dass die Kommission ihre Feststellung, dass der von Tartu Agro entrichtete Pachtzins im gesamten Zeitraum 2000 bis 2017 unter dem Marktpreis gelegen habe, auf zwei von den estnischen Behörden im Verwaltungsverfahren vorgelegte Studien stützte. Dabei handelte es sich zum einen um einen Sachverständigenbericht, der eine in Preisspannen angegebene Schätzung der Höhe der Pachtzinsen für landwirtschaftliche Flächen in Estland, aufgeschlüsselt nach geografischen Zonen, für die Jahre 2000 bis 2014 enthielt, und zum anderen – für die Folgejahre – um Daten, die vom estnischen Statistischen Amt veröffentlicht worden waren.

Im konkreten Fall hat das Gericht insbesondere festgestellt, dass die Kommission den von Tartu Agro gezahlten Pachtzins für jedes betrachtete Jahr mit einem Durchschnittsbetrag verglichen hat, der sich aus den in den genannten Studien angegebenen Preisspannen und Daten ergab.

Nach Auffassung des Gerichts ist eine solche Prüfung zu allgemein und wenig nuanciert, um nachzuweisen, dass der streitige Pachtzins nicht den normalen Marktbedingungen entspricht. Insbesondere hat die Kommission u. a. die Preise, die sich innerhalb der angegebenen Preisspannen bewegten, das Ausmaß der Fehlermarge, den Kontext zum Zeitpunkt des Abschlusses des streitigen Vertrags und die Besonderheiten der fraglichen Flächen nicht hinreichend berücksichtigt. Daher ermöglichte es die beanstandete Prüfung der Kommission nicht, auf hinreichend plausible und kohärente Weise den möglichst nahe beim Marktwert liegenden Preis zu ermitteln, wie es ihre Aufgabe war.

Überdies hat das Gericht festgestellt, dass die Kommission bei ihrer Bewertung einen Sachverständigenbericht der von den estnischen Behörden im Verwaltungsverfahren ebenfalls vorgelegt worden war, nicht berücksichtigt und damit gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen hat, der sie bei der Ausübung ihres weiten Beurteilungsspielraums unterlag.

Schließlich sind nach Auffassung des Gerichts für die von der Kommission in Bezug auf die Quantifizierung des Vorteils vorgenommene Beurteilung ähnliche Kritikpunkte festzustellen.

Folglich sind die Prüfung der Marktkonformität des Pachtzinses als solchem sowie der Teil der Würdigung, der sich auf die Quantifizierung des entsprechenden Vorteils bezieht, mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet und stellen eine Verletzung der der Kommission obliegenden Sorgfaltspflicht dar.

Was zweitens die Einbeziehung der zusätzlichen Kosten betrifft, die Tartu Agro nach dem streitigen Vertrag – zweiter Aspekt der darin vorgesehenen finanziellen Verpflichtungen – zu tragen hat, hat das Gericht darauf hingewiesen, dass die Kommission bei ihrer Bewertung nur die Hälfte der jährlichen Investitionen in Entwässerungssysteme und der von der Beteiligten jährlich gezahlten Grundsteuerbeträge berücksichtigt hatte und dann zu dem Ergebnis gelangte, dass der von Tartu Agro gezahlte Pachtzins, selbst wenn die so berücksichtigten Beträge hinzugerechnet würden, im gesamten betrachteten Zeitraum unter dem Marktpreis lägen. Hierzu hat das Gericht zunächst festgestellt, dass aus den Gesichtspunkten, die im angefochtenen Beschluss zur Begründung des von der Kommission gewählten Ansatzes dargelegt wurden, nicht hervorgeht, dass die Kommission die in zwei der oben genannten, von der estnischen Regierung vorgelegten Berichte enthaltenen relevanten Informationen berücksichtigt hätte. Außerdem ist die teilweise Berücksichtigung der Investitionen in die Entwässerungssysteme nach Auffassung des Gerichts nicht hinreichend genau. Schließlich hat die Kommission im Rahmen ihrer Würdigung nicht geprüft, ob der estnische Staat wie ein privater Wirtschaftsteilnehmer handelte, als er von Tartu Agro die Übernahme der fraglichen zusätzlichen Kosten verlangte.

Daher hat das Gericht entschieden, dass sowohl die Beurteilung durch die Kommission, die auf einer solchen Berücksichtigung der nach dem streitigen Vertrag vorgesehenen zusätzlichen Kosten beruhte, als auch der Teil der Würdigung, der sich auf die Quantifizierung des entsprechenden Vorteils bezog, mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler und einer Verletzung der Sorgfaltspflicht der Kommission behaftet sind.

Infolgedessen hat das Gericht festgestellt, dass die von Tartu Agro insoweit geltend gemachten Rügen begründet sind, und den angefochtenen Beschluss in vollem Umfang für nichtig erklärt. Nach Auffassung des Gerichts war es nicht erforderlich, über die übrigen Klagegründe zu entscheiden.



1      Aus den Akten geht hervor, dass dieser Betrag später mehrfach angepasst wurde und sich ab dem 1. Januar 2019 auf 136 EEK/ha (etwa 8,69 Euro/ha) belief.


2      Beschluss C(2020) 252 final der Kommission vom 24. Januar 2020 über die staatliche Beihilfe SA.39182 (2017/C) (ex 2017/NN) (ex 2014/CP) – Gewährung einer mutmaßlich rechtswidrigen Beihilfe an AS Tartu Agro (im Folgenden: angefochtener Beschluss).