Language of document : ECLI:EU:C:2006:429

Rechtssache C‑540/03

Europäisches Parlament

gegen

Rat der Europäischen Union

„Einwanderungspolitik – Recht minderjähriger Kinder von Drittstaatsangehörigen auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Schutz der Grundrechte – Recht auf Achtung des Familienlebens – Verpflichtung zur Berücksichtigung des Wohls des minderjährigen Kindes“

Leitsätze des Urteils

1.        Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen

(Artikel 230 EG)

2.        Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Achtung des Familienlebens

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 7 und 24)

3.        Visa, Asyl, Einwanderung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86

(Richtlinie 2003/86 des Rates, Artikel 4 Absatz 1, 5 Absatz 5 und 17)

4.        Visa, Asyl, Einwanderung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86

(Richtlinie 2003/86 des Rates, Artikel 4 Absatz 6, 5 Absatz 5 und 17)

5.        Visa, Asyl, Einwanderung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86

(Richtlinie 2003/86 des Rates, Artikel 5 Absatz 5, 8 und 17)

1.        Der Umstand, dass die mit einer Nichtigkeitsklage angefochtenen Bestimmungen einer Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum einräumen und es ihnen erlauben, unter bestimmten Umständen nationale Rechtsvorschriften anzuwenden, die von den mit der Richtlinie vorgegebenen Grundsatzregelungen abweichen, kann nicht dazu führen, dass diese Bestimmungen der Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit durch den Gerichtshof nach Artikel 230 EG entzogen werden.

Im Übrigen kann es sein, dass derartige Bestimmungen als solche die Grundrechte missachten, wenn sie den Mitgliedstaaten vorschreiben oder ihnen ausdrücklich oder implizit gestatten, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten.

(vgl. Randnrn. 22-23)

2.        Das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gehört zu den Grundrechten, die in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden. Dieses Recht, mit seinen nahen Verwandten zu leben, bringt für die Mitgliedstaaten Verpflichtungen mit sich, bei denen es sich um negative Verpflichtungen handeln kann, wenn einer von ihnen eine Person nicht ausweisen darf, oder um positive, wenn er verpflichtet ist, eine Person in sein Hoheitsgebiet einreisen und sich dort aufhalten zu lassen. So kann es, auch wenn die EMRK es nicht als ein Grundrecht eines Ausländers gewährleistet, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, wie es in Artikel 8 Absatz 1 dieser Konvention geschützt ist, darstellen, wenn einer Person die Einreise in ein Land, in dem ihre nahen Verwandten leben, oder der Aufenthalt dort verweigert wird.

Im Übereinkommen über die Rechte des Kindes wird der Grundsatz der Achtung des Familienlebens ebenfalls anerkannt. Das Übereinkommen gründet auf der in seiner sechsten Begründungserwägung ausgedrückten Erkenntnis, dass das Kind zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie aufwachsen soll. Artikel 9 Absatz 1 dieses Übereinkommens sieht dementsprechend vor, dass die Vertragsstaaten sicherstellen, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, und nach Artikel 10 Absatz 1 folgt aus dieser Verpflichtung, dass von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet werden.

Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union erkennt in ihrem Artikel 7 das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens an. Diese Bestimmung ist in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Artikel 24 Absatz 2 dieser Charta und unter Beachtung des in Artikel 24 Absatz 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen, dass das Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Eltern unterhält.

Diese verschiedenen Texte unterstreichen die Bedeutung des Familienlebens für das Kind und empfehlen den Staaten die Berücksichtigung des Kindeswohls, sie begründen aber für die Mitglieder einer Familie kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Staates und lassen sich nicht dahin auslegen, dass den Staaten bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung kein Ermessensspielraum verbliebe.

(vgl. Randnrn. 52-53, 57-59)

3.        Während Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen aufgibt, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei ihren Ermessensspielraum ausüben könnten, bewirkt Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz unter genau definierten Umständen, nämlich dann, wenn ein Kind über 12 Jahre unabhängig vom Rest der Familie ankommt, dass die Mitgliedstaaten ihren Ermessensspielraum zum Teil behalten, indem ihnen zugestanden wird, zu prüfen, ob das Kind ein zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie im geltenden nationalen Recht vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt, bevor sie ihm die Einreise und den Aufenthalt gemäß der Richtlinie gestatten.

Diese letztgenannte Bestimmung steht nicht im Gegensatz zum in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegten Recht auf Achtung des Familienlebens, da dieses Recht nicht so auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat danach notwendigerweise verpflichtet wäre, die Familienzusammenführung in seinem Hoheitsgebiet zu gestatten, und da die genannte Bestimmung dem Mitgliedstaat nur seinen Ermessensspielraum belässt, wobei er diesen auf die Prüfung eines von den nationalen Rechtsvorschriften festgelegten Kriteriums beschränkt, die der Mitgliedstaat unter Wahrung insbesondere der in den Artikeln 5 Absatz 5 und 17 der Richtlinie niedergelegten Grundsätze vorzunehmen hat. Jedenfalls kann das Erfordernis der Integration unter mehrere der in Artikel 8 Absatz 2 der Konvention genannten rechtmäßigen Ziele fallen.

Dass der Begriff der Integration in der Richtlinie 2003/86 nicht definiert wird, kann insoweit nicht als eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten gedeutet werden, diesen Begriff in einer Weise zu verwenden, die gegen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere gegen die Grundrechte verstößt. Die Mitgliedstaaten, die von der Ausnahmeregelung Gebrauch machen wollen, können nämlich keinen unbestimmten Integrationsbegriff heranziehen, sondern müssen das zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie in ihren Rechtsvorschriften vorgesehene Integrationskriterium anwenden, wenn sie die besondere Situation eines Kindes über 12 Jahre prüfen, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt. Folglich kann Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit ermächtigt, Umsetzungsbestimmungen zu erlassen, die im Widerspruch zum Recht auf Achtung des Familienlebens stehen.

Auch ist nicht ersichtlich, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber dem Wohl der Kinder in Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz nicht genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht hätte. Denn der Inhalt des Artikels 4 Absatz 1 belegt, dass das Kindeswohl ein entscheidendes Anliegen beim Erlass dieser Bestimmung war, und es ist nicht ersichtlich, dass ihr letzter Unterabsatz dem nicht hinreichend Rechnung trüge oder die Mitgliedstaaten, die sich für die Berücksichtigung eines Integrationskriteriums entscheiden, ermächtigte, dieses Anliegen außer Acht zu lassen. Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten vielmehr auf, das Wohl minderjähriger Kinder gebührend zu berücksichtigen.

In diesem Zusammenhang stellt die Wahl des Alters von 12 Jahren kein Kriterium dar, mit dem gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen würde, da dieses Kriterium auf eine Phase im Leben des minderjährigen Kindes abstellt, in der es bereits über einen verhältnismäßig langen Zeitraum ohne seine Familienmitglieder in einem Drittstaat gelebt hat, so dass eine Integration in ein anderes Umfeld zu mehr Schwierigkeiten führen kann.

Daraus folgt, dass Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls oder das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstößt, und zwar weder als solcher noch insofern, als er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zu einem derartigen Vorgehen ermächtigen würde.

(vgl. Randnrn. 60-62, 66, 70-71, 73-74, 76)

4.        Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung räumt den Mitgliedstaaten die Befugnis ein, die Anwendung der in der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen für die Familienzusammenführung auf Anträge zu beschränken, die gestellt wurden, bevor Kinder das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben. Doch kann diese Bestimmung nicht so ausgelegt werden, als würde sie es den Mitgliedstaaten verbieten, einen Antrag in Bezug auf ein über 15 Jahre altes Kind zu prüfen, oder sie dazu ermächtigen, von der Prüfung abzusehen.

Unerheblich ist insoweit, dass der letzte Satz der fraglichen Bestimmung vorsieht, dass die Mitgliedstaaten, die die Ausnahmeregelung anwenden, die Einreise und den Aufenthalt von Kindern, für die der Antrag nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt wird, „aus anderen Gründen als der Familienzusammenführung“ gestatten. Der Ausdruck „Familienzusammenführung“ ist nämlich im Kontext der Richtlinie so auszulegen, dass damit die Familienzusammenführung in den Fällen gemeint ist, in denen sie von der Richtlinie vorgeschrieben wird. Er lässt sich nicht dahin auslegen, dass es einem Mitgliedstaat, der die Ausnahmeregelung anwendet, danach verboten wäre, die Einreise und den Aufenthalt eines Kindes zu genehmigen, um ihm das Zusammenleben mit seinen Eltern zu ermöglichen.

Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie muss im Übrigen im Licht der Grundsätze gelesen werden, die in Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie, der den Mitgliedstaaten die gebührende Berücksichtigung des Kindeswohls vorschreibt, und Artikel 17 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen haben, darunter die familiären Bindungen der betreffenden Person, aufgestellt werden. Folglich bleibt der Mitgliedstaat verpflichtet, den von einem über 15 Jahre alten Kind gestellten Antrag im Hinblick auf das Wohl dieses Kindes und im Bemühen um eine Förderung des Familienlebens zu prüfen.

Ferner ist nicht ersichtlich, dass die Zugrundelegung des Alters von 15 Jahren ein Kriterium darstellt, mit dem gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen würde.

Daraus folgt, dass Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls oder das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstößt, und zwar weder als solcher noch insofern, als er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zu einem derartigen Vorgehen ermächtigen würde.

(vgl. Randnrn. 85-90)

5.        Artikel 8 der Richtlinie 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, der die Mitgliedstaaten ermächtigt, von den Vorschriften dieser Richtlinie über die Familienzusammenführung abzuweichen, führt nicht zum Ausschluss jeder Familienzusammenführung, sondern belässt den Mitgliedstaaten einen beschränkten Ermessensspielraum, indem er es ihnen ermöglicht, sich zu vergewissern, dass die Familienzusammenführung unter guten Voraussetzungen stattfindet, nachdem der Zusammenführende so lange im Aufnahmestaat gelebt hat, dass eine stabile Ansiedlung und ein gewisses Integrationsniveau angenommen werden können. Dass ein Mitgliedstaat diese Faktoren berücksichtigt und dass die Familienzusammenführung um zwei oder gegebenenfalls drei Jahre verzögert werden kann, verstößt daher nicht gegen das insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegte Recht auf Achtung des Familienlebens in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Im Übrigen ist, wie sich aus Artikel 17 der Richtlinie ergibt, die Dauer des Aufenthalts in dem Mitgliedstaat nur einer der Faktoren, die der Mitgliedstaat bei der Prüfung eines Antrags zu berücksichtigen hat, und eine Wartefrist kann nicht auferlegt werden, ohne dass in spezifischen Fällen alle einschlägigen Faktoren berücksichtigt werden. Ebenso verhält es sich mit dem Kriterium der Aufnahmefähigkeit des Mitgliedstaats, das einer der Faktoren sein kann, die bei der Prüfung eines Antrags berücksichtigt werden, sich aber nicht dahin auslegen lässt, dass damit ein wie auch immer geartetes Quotensystem oder eine ohne Rücksicht auf die besonderen Umstände der spezifischen Fälle vorgeschriebene dreijährige Wartefrist zugelassen würde. Denn die in Artikel 17 der Richtlinie vorgesehene Analyse aller Faktoren lässt es nicht zu, nur auf diesen Faktor abzustellen, und gebietet es, dass eine tatsächliche Prüfung der Aufnahmefähigkeit zum Zeitpunkt des Antrags vorgenommen wird.

Außerdem müssen die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie dafür sorgen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.

Folglich verstößt Artikel 8 der Richtlinie nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens oder die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls, und zwar weder als solcher noch insofern, als er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zu einem derartigen Vorgehen ermächtigen würde.

(vgl. Randnrn. 97-101, 103)