URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
25. Februar 1999 (1)
„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie Gesamtheit von Dienstleistungen
Erbringung einer einheitlichen Dienstleistung Begriff Steuerbefreiungen
Versicherungsumsätze Beistandsleistungen Dienstleistungen von
Versicherungsvertretern Beschränkung der Steuerbefreiung von
Versicherungsumsätzen auf Umsätze zugelassener Versicherer“
In der Rechtssache C-349/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom House of Lords
in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Card Protection Plan Ltd (CPP)
gegen
Commissioners of Customs & Excise
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 2
Absatz 1 und Artikel 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG
des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gemeinsames Mehrwertsteuersystem:
einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn sowie der Richter
G. Hirsch (Berichterstatter), G. F. Mancini, H. Ragnemalm und R. Schintgen,
Generalanwalt: N. Fennelly
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Card Protection Plan Ltd (CPP), vertreten durch Roderick Cordara,
QC, und Barrister Perdita Cargill-Thompson, im Auftrag von Solicitor Clare
Mainprice,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Assistant
Treasury Solicitor John E. Collins als Bevollmächtigten im Beistand der
Barrister Stephen Richards und Christopher Vajda,
der Bundesregierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder,
Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigten,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Richard
Lyal und Enrico Traversa, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Card Protection Plan Ltd (CPP),
vertreten durch Clare Mainprice und Roderick Cordara, der Regierung des
Vereinigten Königreichs, vertreten durch John E. Collins und Nicholas Paines, QC,
und der Kommission, vertreten durch Richard Lyal, in der Sitzung vom 24. März
1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juni
1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Das House of Lords hat mit Beschluß vom 15. Oktober 1996, beim Gerichtshof
eingegangen am 21. Oktober 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag vier Fragen
nach der Auslegung von Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 13 Teil B Buchstabe a der
Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung
der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl.
L 145, S. 1; Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Card Protection Plan
Ltd (Klägerin) und den Commissioners of Customs & Excise (Commissioners), die
im Vereinigten Königreich für die Erhebung der Mehrwertsteuer zuständig sind,
über eine Mehrwertsteuerbefreiung nach Section 17 und Schedule 6, Group 2, des
Value Added Tax Act 1983 (Mehrwertsteuergesetz; VAT Act 1983).
Nationales Recht
- 3.
- Zur entscheidungserheblichen Zeit waren nach Section 17 und Schedule 6, Group
2, des VAT Act 1983 u. a. von der Mehrwertsteuer befreit:
„1. die Versicherung und Rückversicherung durch Personen, denen gemäß
Section 2 des Insurance Companies Act 1982 die Erlaubnis erteilt wurde,
die Versicherungstätigkeit zu betreiben;
2. ...
3. die Vermittlung von Versicherungen und Rückversicherungen jeder Art im
Sinne der Punkte 1 und 2;
4. die Bearbeitung von Versicherungsansprüchen durch Versicherungsmakler,
Versicherungsagenten und Personen, denen die Erlaubnis zum Betreiben
der Versicherungstätigkeit im Sinne von Punkt 1 erteilt wurde.“
Gemeinschaftsrecht
- 4.
- Nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie unterliegen
„1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein
Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt“,
der Mehrwertsteuer.
Artikel 13 der Sechsten Richtlinie Steuerbefreiungen im Inland lautet:
„...
B. Sonstige Steuerbefreiungen
Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten
unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen
Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von
Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen,
von der Steuer:
a) die Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der
dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und
-vertretern erbracht werden;
...“
- 5.
- Im Anhang zur Ersten Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur
Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme
und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der
Lebensversicherung) (ABl. L 228, S. 3) in der Fassung der Richtlinie 84/641/EWG
des Rates vom 10. Dezember 1984 (ABl. L 339, S. 21) heißt es:
„A. Einteilung der Risiken nach Versicherungszweigen
...
18. Beistand
Beistandsleistungen zugunsten von Personen, die auf Reisen oder während der
Abwesenheit von ihrem Wohnsitz oder ständigen Aufenthaltsort in Schwierigkeiten
geraten.“
- 6.
- Artikel 2 der Richtlinie 77/92/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 über
Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung der
Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für die Tätigkeiten
des Versicherungsagenten und des Versicherungsmaklers (aus ISIC-Gruppe 630),
insbesondere Übergangsmaßnahmen für solche Tätigkeiten (ABl. 1977, L 26, S. 14),
nimmt auf die Tätigkeiten des Versicherungsvertreters und des
Versicherungsmaklers Bezug, für die die Richtlinie gilt.
Der Ausgangsrechtsstreit
- 7.
- Die Klägerin bietet Kreditkarteninhabern gegen Entgelt einen Plan an, der Schutz
gegen finanzielle Verluste oder Unannehmlichkeiten bieten soll, die sich aus dem
Verlust oder dem Diebstahl der Karte sowie bestimmter anderer Gegenstände,
etwa Autoschlüssel, Reisepässe oder Versicherungspolicen, ergeben.
- 8.
- Soweit der Kartenschutzplan (Plan) eine Entschädigung für finanzielle Verluste des
Karteninhabers im Falle des Verlustes oder des Diebstahls vorsieht, hat die
Klägerin eine Gruppenversicherung bei einem Versicherungsunternehmen
abgeschlossen. Die Gruppenversicherung wurde von einem von der Klägerin
beauftragten Versicherungsmakler erstellt. Zur entscheidungserheblichen Zeit war
der Versicherer die Continental Assurance Company of London (Versicherer). Die
Kunden der Klägerin werden in der Police als die Versicherten genannt. Wenn ein
Karteninhaber Kunde der Klägerin wird, so wird sein Name in eine Liste der
Versicherten aufgenommen, die durch die Police geschützt sind. Die Klägerin führt
an den Versicherer zu Beginn jedes Versicherungsjahres Versicherungsprämien ab;
Anpassungen, die erforderlich werden, weil Karteninhaber während des Jahres dem
Plan bei- oder aus ihm austreten, erfolgen am Ende des Jahres.
- 9.
- Soweit die von der Klägerin angebotenen Dienstleistungen dem im Anhang zur
Police beschriebenen, vom Versicherer gewährten Versicherungsschutz entsprechen,
lassen sie sich wie folgt zusammenfassen:
eine Entschädigung bei betrügerischer Verwendung von Karten
(Versicherungssumme innerhalb der ersten 24 Stunden, die auf die
Entdeckung des Verlustes oder Diebstahls folgen, 750 UKL für jeden
Schadensfall; nach Meldung des Verlustes an die Klägerin ist der
Versicherungsschutz unbeschränkt);
eine Entschädigung für die Kosten der Wiederbeschaffung verlorener
Gepäckstücke, Taschen oder Gegenstände, wenn diese mit von der Klägerin
ausgegebenen Anhängern versehen sind (Versicherungssumme 25 UKL für
jeden Schadensfall);
eine Entschädigung für die Kosten für Aussagen vor der Polizei und/oder
die Geltendmachung von Versicherungsansprüchen für wertvolle
Gegenstände und/oder wichtige Dokumente, deren Seriennummern bei der
Klägerin registriert worden sind (Versicherungssumme ebenfalls 25 UKL für
jeden Schadensfall);
Vorkehrungen, damit Vertreter des Versicherers einen ganztägigen
Telefondienst für die Beratung über den Zugang zu ärztlicher Behandlung
bereitstellen, der die Vermittlung von Arztterminen im Ausland umfaßt;
Entschädigung durch Barvorschuß in Notfällen nach Kartenverlust, begrenzt
auf 500 UKL für jeden Schadensfall und innerhalb von 14 Tagen
rückzahlbar;
Entschädigung zum Zweck der Besorgung von Flugscheinen von jedem Ort
der Welt in die Heimat des Karteninhabers nach dem Verlust von Karten
(Entschädigung von bis zu 1 500 UKL für jeden Schadensfall, rückzahlbar
innerhalb von 14 Tagen).
- 10.
- Im übrigen umfaßt der Plan im wesentlichen folgende Leistungen:
Speicherung der Kreditkarten des Kunden im Computer der Klägerin;
Bereitstellung einer ganztägigen Telefonverbindung, um einen Verlust zu
melden und das Erforderliche zu veranlassen, um die
Kreditkartenunternehmen zu unterrichten; Ausgabe von Aufklebern mit
dieser Telefonnummer;
im Falle eines Verlustes Unterstützung bei der Bestellung von Ersatzkarten;
im Falle einer Adressenänderung Unterstützung bei der Unterrichtung der
Kreditkartenunternehmen;
Ausgabe von vorgedruckten Schlüsselanhängern, die deren Wiederauffinden
im Falle eines Verlustes erlauben;
Übersendung eines jährlichen Ausdrucks, den der Kunde überprüfen kann;
Ausgabe einer Arztkarte, in der persönliche medizinische Daten eingetragen
werden können;
Rabatte bei der Kfz-Miete.
- 11.
- Die Commissioners betrachteten die Dienstleistungen der Klägerin seit 1983 als
steuerfrei. 1990 unterwarfen sie einen zwischen der Klägerin und einem Kunden
gegen einen Mitgliedsbeitrag von 16 UKL für einen Dreijahreszeitraum
geschlossenen „Musterdienstleistungsvertrag“ der Mehrwertsteuer zum Normalsatz.
Diese Entscheidung stützte sich auf zwei Gründe: Zum einen umfasse der Plan ein
„Dienstleistungspaket“, dessen einzelne Dienstleistungen sämtlich der Steuer
unterlägen und das im Kern die Registrierung von Kreditkarten durch die Klägerin
und die Unterrichtung über einen Verlust betreffe, um jede weitere Haftung im
Falle einer betrügerischen Verwendung auszuschließen; zum anderen bestehe keine
vertragliche Beziehung zwischen dem Versicherer und den Kunden der Klägerin,
die besondere Rechtsbeziehungen im Zusammenhang mit der Versicherungspolice
geschaffen hätte, so daß es keine Versicherungsleistung gegenüber dem Kunden
gebe.
- 12.
- Die Klägerin focht diesen Bescheid mit der Begründung an, eine solche
Vertragsbeziehung bestehe sehr wohl; auch sei die Leistung ganz oder teilweise von
der Steuer befreit. Die entsprechende Klage wies das VAT & Duties Tribunal,
London, ab. Der High Court gab dem Rechtsmittel der Klägerin teilweise statt. Der
Court of Appeal wies mit Urteil vom 23. November 1993 die Klage in vollem
Umfang ab; der Plan sei eine „Kartenregistrierungsdienstleistung“; die
Versicherungsbestandteile seien demgegenüber nebensächlich. Auf ein weiteres
Rechtsmittel der Klägerin hin setzte das House of Lords das Verfahren aus und
legte dem Gerichtshof die folgenden vier Fragen zur Vorabentscheidung vor:
1. Wovon hängt es nach den Bestimmungen der Sechsten
Mehrwertsteuerrichtlinie und insbesondere nach deren Artikel 2 Absatz 1
ab, ob ein Umsatz für die Zwecke der Mehrwertsteuer aus einer einzigen
zusammengesetzten Leistung oder aus zwei oder mehr voneinander
unabhängigen Leistungen besteht?
2. Stellt die Erbringung einer Dienstleistung oder mehrerer Dienstleistungen
von der Art, wie sie die Card Protection Plan (CPP) im Rahmen des von ihr
angebotenen Kartenschutzplans erbringt, für die Zwecke der
Mehrwertsteuer eine einzige zusammengesetzte Dienstleistung oder zwei
oder mehr voneinander unabhängige Dienstleistungen dar? Spielen
besondere Merkmale des vorliegenden Falles, etwa die Zahlung eines
einheitlichen Preises durch den Kunden oder die Beteiligung der
Continental Assurance Company of London plc neben der CPP, bei der
Beantwortung dieser Frage eine Rolle?
3. Stellt eine solche Dienstleistung oder stellen solche Dienstleistungen
„Versicherungsumsätze ... einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen,
die von ... Versicherungsvertretern erbracht werden“, im Sinne von Artikel
13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie dar?
Namentlich:
a) Umfaßt „Versicherung“ im Sinne von Artikel 13 Teil B Buchstabe a
der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie für die Zwecke derBeantwortung dieser Frage die Arten von Tätigkeiten, insbesondere
die Leistung von „Beistand“, die im Anhang der Richtlinie
73/239/EWG des Rates (der Ersten Richtlinie des Rates über die
Direktversicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung) in der
durch die Richtlinie 84/641/EWG des Rates geänderten Fassung
aufgeführt sind?
b) Sind die „dazugehörigen Dienstleistungen, die von
... Versicherungsvertretern erbracht werden“, in Artikel 13 Teil B
Buchstabe a der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie die Tätigkeiten,
die in Artikel 2 der Richtlinie 77/92/EWG des Rates aufgeführt sind,
oder schließen sie diese Tätigkeiten ein?
4. Ist es mit Artikel 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten
Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar, wenn ein Mitgliedstaat den
Geltungsbereich der Steuerbefreiung für „Versicherungsumsätze“ auf
Dienstleistungen beschränkt, die von Personen erbracht werden, die für die
Durchführung der Versicherungstätigkeit nach dem Recht dieses
Mitgliedstaats zugelassen sind?
Die dritte Frage
- 13.
- Die dritte Frage ist vorab zu erörtern; sie geht dahin, ob Dienstleistungen, wie sie
die Klägerin nach dem Plan ihren Kunden erbringt, Versicherungsumsätze oder
dazugehörige Dienstleistungen, die von Versicherungsvertretern erbracht werden,
im Sinne des Artikels 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie sind.
- 14.
- Die Klägerin bringt vor, alles, was der Kunde nach dem Plan erhalte, falle
unmittelbar unter den Begriff des Versicherungsumsatzes im Sinne des Artikels 13
Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie. Die Bundesregierung, die Regierung
des Vereinigten Königreichs und die Kommission räumen ein, daß der Plan gewisse
Versicherungsleistungen zumindest einschließe. Die Regierung des Vereinigten
Königreichs trägt vor, es sei Sache des nationalen Gerichts, zu entscheiden, ob die
Klägerin als Versicherungsvertreter handele. Für die Kommission steht hingegen
fest, daß die Tätigkeiten der Klägerin nicht die eines Versicherungsvertreters im
strengen oder technischen Sinne seien.
- 15.
- Nach ständiger Rechtsprechung sind die in Artikel 13 der Sechsten Richtlinie
vorgesehenen Steuerbefreiungen autonome gemeinschaftsrechtliche Begriffe, die
eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des
Mehrwertsteuersystems vermeiden sollen (siehe Urteil vom 15. Juni 1989 in der
Rechtssache 348/87, Stichting Uitvoering Financiële Acties, Slg. 1989, 1737,
Randnr. 11).
- 16.
- Die Sechste Richtlinie definiert weder den Begriff der „Versicherungsumsätze“
noch den der „Versicherungsvertreter“ in Artikel 13 Teil B Buchstabe a.
- 17.
- Auch die Richtlinie 73/239 definiert, was den Begriff der „Versicherungsumsätze“
angeht, den Begriff der Versicherung nicht. Wie jedoch der Generalanwalt in
Nummer 34 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, ist es nach allgemeinem
Verständnis das Wesen eines Versicherungsumsatzes, daß der Versicherer sich
verpflichtet, dem Versicherten gegen vorherige Zahlung einer Prämie beim Eintritt
des Versicherungsfalls die bei Vertragsschluß vereinbarte Leistung zu erbringen.
- 18.
- Die Leistung, zu deren Erbringung im Versicherungsfall der Versicherer sich
verpflichtet, braucht nicht in der Zahlung eines Geldbetrags, sondern kann auch in
Beistandsleistungen entweder durch Geldzahlung oder Sachleistungen bestehen, wie
sie im Anhang der Richtlinie 73/239 in der Fassung der Richtlinie 84/641 aufgeführt
sind. Es gibt nämlich keinen Grund, den Begriff „Versicherung“ in der Sechsten
Richtlinie anders als in der Versicherungsrichtlinie zu verstehen.
- 19.
- Außerdem steht fest, daß der Ausdruck „Versicherungsumsätze“ in Artikel 13 Teil
B Buchstabe a zumindest den Fall erfaßt, in dem der fragliche Umsatz von dem
Versicherer, der die Deckung des versicherten Risikos übernommen hat, selbst
getätigt wird. Wie die Regierung des Vereinigten Königreichs zu Recht vorgetragen
hat, ist es Sache des nationalen Gerichts, zu entscheiden, ob die Klägerin selbst
Verpflichtungen eines Versicherers übernommen hat.
- 20.
- Die Klägerin trägt jedoch vor, daß sie den Kunden nur zugesagt habe, das
Erforderliche zu veranlassen, damit ein Dritter ihnen Versicherungsleistungen
erbringe, und sich nicht selbst verpflichtet habe, den Versicherungsschutz zu
erbringen. Die Kommission hat hierzu betont, daß die Klägerin eine Gruppenpolice
für ihre Kunden halte.
- 21.
- Unter diesen Umständen ist die Klägerin Nehmerin einer Gruppenversicherung;
ihre Kunden sind die Versicherten. Sie verschafft diesen, soweit es um die
Dienstleistungen geht, die in der Police des Versicherers aufgeführt sind, gegen
Entgelt im eigenen Namen und für eigene Rechnung Versicherungsschutz durch
Einschaltung eines Versicherers. Unter dem Gesichtspunkt der Mehrwertsteuer
findet somit der Leistungsaustausch einerseits zwischen dem Versicherer und der
Klägerin, andererseits zwischen der Klägerin und ihren Kunden statt, wobei der
Umstand ohne Belang ist, daß der Versicherer nach dem mit der Klägerin
geschlossenen Vertrag deren Kunden den Versicherungsschutz unmittelbar gewährt.
- 22.
- Eine Dienstleistung, wie sie die Klägerin erbringt, ist ein Versicherungsumsatz im
Sinne des Artikels 13 Teil B Buchstabe a. Zwar sind die in Artikel 13 der Sechsten
Richtlinie aufgeführten Steuerbefreiungen eng auszulegen (siehe Urteil Stichting
Uitvoering Financiële Acties, Randnr. 13). Jedoch ist der Ausdruck
„Versicherungsumsätze“ grundsätzlich weit genug, um die Gewährung von
Versicherungsschutz durch einen Steuerpflichtigen zu umfassen, der nicht selbst der
Versicherer ist, der aber im Rahmen einer Gruppenversicherung seinen Kunden
einen solchen Schutz durch Inanspruchnahme der Leistungen eines Versicherers,
der das versicherte Risiko zu decken übernimmt, verschafft.
- 23.
- Für diese Auslegung spricht auch der Zweck der Sechsten Richtlinie, die die
Versicherungsumsätze von der Steuer befreit, in Artikel 33 aber den
Mitgliedstaaten die Befugnis beläßt, Abgaben auf Versicherungsverträge
beizubehalten oder einzuführen. Erfaßte also der Ausdruck
„Versicherungsumsätze“ nur Umsätze der Versicherer selbst, so könnte der
Endverbraucher nicht nur mit dieser Abgabe, sondern im Fall von
Gruppenversicherungen auch mit der Mehrwertsteuer belastet werden. Das
widerspräche dem Zweck der in Artikel 13 Teil B Buchstabe a vorgesehenen
Steuerbefreiung.
- 24.
- Unter diesen Voraussetzungen braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob die
Klägerin eine der in Artikel 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie
erwähnten Tätigkeiten als Versicherungsvertreter ausgeübt hat.
- 25.
- Auf die dritte Frage ist somit zu antworten, daß ein Steuerpflichtiger, der kein
Versicherer ist und der im Rahmen einer Gruppenversicherung, deren
Versicherungsnehmer er ist, seinen Kunden als Versicherten durch Einschaltung
eines Versicherers, der das versicherte Risiko übernimmt, Versicherungsschutz
verschafft, einen Versicherungsumsatz im Sinne des Artikels 13 Teil B Buchstabe
a der Sechsten Richtlinie tätigt. Der Ausdruck „Versicherung“ in dieser
Bestimmung umfaßt die im Anhang der Richtlinie 73/239 in der Fassung der
Richtlinie 84/641 aufgeführten Beistandsleistungen.
Die erste und die zweite Frage
- 26.
- Die ersten beiden Fragen sind zusammen zu prüfen. Es geht darum, wovon es bei
einem Plan, wie ihn die Klägerin ihren Kunden liefert, im Hinblick auf die
Mehrwertsteuer abhängt, ob ein Umsatz, der aus mehreren Teilen besteht, als
einheitliche Leistung oder als zwei oder mehrere voneinander unabhängige
Leistungen zu betrachten ist.
- 27.
- Die Frage nach dem Umfang eines Umsatzes hat aus mehrwertsteuerlicher Sicht
sowohl für die Lokalisierung des Ortes von Dienstleistungen als auch für die
Anwendung des Steuersatzes oder, wie im vorliegenden Fall, der in der Sechsten
Richtlinie vorgesehenen Befreiungen besondere Bedeutung. Wegen der Vielfalt
gewerblicher Umsätze kann die Frage nach der richtigen Vorgehensweise dabei
nicht für alle Fälle erschöpfend beantwortet werden.
- 28.
- Wie der Gerichtshof im Urteil vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C-231/94
(Faaborg-Gelting Linien, Slg. 1996, 2395, Randnrn. 12 bis 14) jedoch für
Restaurationsleistungen entschieden hat, ist bei einem Umsatz, der ein
Leistungsbündel darstellt, eine Gesamtbetrachtung erforderlich.
- 29.
- Da sich zum einen aus Artikel 2 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie ergibt, daß jede
Dienstleistung in der Regel als eigene, selbständige Leistung zu betrachten ist, und
da zum anderen eine wirtschaftlich einheitliche Dienstleistung im Interesse eines
funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden darf,
ist das Wesen des fraglichen Umsatzes zu ermitteln, um festzustellen, ob der
Steuerpflichtige dem Verbraucher mehrere selbständige Hauptleistungen oder eine
einheitliche Leistung erbringt, wobei auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers
abzustellen ist.
- 30.
- Eine einheitliche Leistung liegt insbesondere vor, wenn ein oder mehrere Teile die
Hauptleistung, ein oder mehrere andere Teile aber Nebenleistungen darstellen, die
das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Eine Leistung ist als
Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für die Kundschaft
keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des
Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (Urteil
vom 22. Oktober 1998 in den Rechtssachen C-308/96 und C-94/97, Madgett und
Baldwin, Slg. 1998, I-0000, Randnr. 24).
- 31.
- Dem Umstand, daß ein Gesamtpreis in Rechnung gestellt wird, kommt damit keine
entscheidende Bedeutung zu. Freilich kann es für das Vorliegen einer einheitlichen
Leistung sprechen, wenn ein Leistungserbringer seinen Kunden eine aus mehreren
Teilen zusammengesetzte Dienstleistung gegen Zahlung eines Gesamtpreises
erbringt. Sollte sich aber aus den in den Randnummern 7 bis 10 beschriebenen
Umständen ergeben, daß die Kunden trotz des einheitlichen Preises aus ihrer Sicht
zwei gesonderte Dienstleistungen erwerben, nämlich eine
Versicherungsdienstleistung und eine Kartenregistrierungsdienstleistung, so wäre
der Teil des einheitlichen Preises, der sich auf die Versicherungsdienstleistung
bezieht und jedenfalls von der Steuer befreit bliebe, herauszurechnen. Hierbei wäre
die einfachstmögliche Berechnung- oder Bewertungsmethode zu verwenden (in
diesem Sinne Urteil Madgett und Baldwin, Randnrn. 45 f.).
- 32.
- Auf die ersten beiden Fragen ist daher zu antworten, daß es Sache des vorlegenden
Gerichts ist, im Lichte der vorstehenden Auslegungshinweise zu entscheiden, ob
Umsätze der von der Klägerin getätigten Art im Hinblick auf die Mehrwertsteuer
aus zwei selbständigen Leistungen einer steuerfreien Versicherungsleistung und
einer steuerpflichtigen Kartenregistrierungsleistung zusammengesetzt sind oder
ob eine dieser beiden Leistungen die Hauptleistung, die andere aber die
Nebenleistung darstellt, so daß die letztere das steuerliche Schicksal der
Hauptleistung teilt.
Die vierte Frage
- 33.
- Für den Fall, daß das nationale Gericht zu dem Schluß kommt, die Klägerin habe
als Versicherer gehandelt, der das versicherte Risiko übernommen und damit
Umsätze getätigt habe, die nach nationalem Recht rechtswidrig wären, ist auf den
Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Sechsten Richtlinie hinzuweisen. Dieser
Grundsatz verbietet es, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, von hier nicht
einschlägigen Ausnahmen abgesehen, unerlaubte Geschäfte im Hinblick auf die
Mehrwertsteuer anders zu behandeln als erlaubte (siehe Urteil vom 11. Juni 1998
in der Rechtssache C-283/95, Fischer, Slg. 1998, I-3369, Randnr. 22).
- 34.
- Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat jedoch geltend gemacht, daß die
Beschränkung der Steuerbefreiung auf Umsätze zugelassener Versicherer im
Hinblick auf den einleitenden Satzteil des Artikels 13 Teil B der Sechsten Richtlinie
gerechtfertigt sei.
- 35.
- Entsprechend dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität bewirkt diese
Bestimmung jedoch hinsichtlich der dort vorgesehenen Steuerbefreiung von
Versicherungsumsätzen keine Unterscheidung zwischen erlaubten Geschäften und
solchen, die nach nationalem Recht rechtswidrig sind. Diese beiden Gruppen von
Geschäften sind daher gleich zu behandeln.
- 36.
- Auf die vierte Frage ist somit zu antworten, daß Artikel 13 Teil B Buchstabe a der
Sechsten Richtlinie es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, die Steuerbefreiung für
Versicherungsumsätze auf die Leistungen von Versicherern zu beschränken, die die
nach nationalem Recht hierfür erforderliche Zulassung haben.
Kosten
- 37.
- Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Bundesregierung
sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben,
sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das
Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom House of Lords mit Beschluß vom 15. Oktober 1996 vorgelegten
Fragen für Recht erkannt:
1. Ein Steuerpflichtiger, der kein Versicherer ist und der im Rahmen einerGruppenversicherung, deren Versicherungsnehmer er ist, seinen Kunden als
Versicherten durch Einschaltung eines Versicherers, der das versicherte
Risiko übernimmt, Versicherungsschutz verschafft, tätigt einen
Versicherungsumsatz im Sinne des Artikels 13 Teil B Buchstabe a der
Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche
steuerpflichtige Bemessungsgrundlage. Der Ausdruck „Versicherung“ in
dieser Bestimmung umfaßt die im Anhang der Richtlinie 73/239/EWG des
Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der
Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung)
(ABl. L 228, S. 3) in der Fassung der Richtlinie 84/641/EWG des Rates vom
10. Dezember 1984 aufgeführten Beistandsleistungen.
2. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Lichte der vorstehenden
Auslegungshinweise zu entscheiden, ob Umsätze der im Ausgangsverfahren
fraglichen Art im Hinblick auf die Mehrwertsteuer aus zwei selbständigen
Leistungen einer steuerfreien Versicherungsleistung und einer
steuerpflichtigen Kartenregistrierungsleistung zusammengesetzt sind oder
ob eine dieser beiden Leistungen die Hauptleistung, die andere aber die
Nebenleistung darstellt, so daß die letztere das steuerliche Schicksal der
Hauptleistung teilt.
3. Artikel 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388 erlaubt es
einem Mitgliedstaat nicht, die Steuerbefreiung für Versicherungsumsätze
auf die Leistungen von Versicherern zu beschränken, die die nach
nationalem Recht hierfür erforderliche Zulassung haben.
KapteynHirsch
Mancini
Ragnemalm Schintgen
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. Februar 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
P. J. G. Kapteyn