Language of document :

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 18. April 2024(1)

Rechtssache C394/22

Oilchart International NV

gegen

O.W. Bunker (Netherlands) BV,

ING Bank NV

(Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Antwerpen [Berufungsgericht Antwerpen, Belgien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b – Begriff ,Zivil- und Handelssache‘ – Ausgenommene Rechtsgebiete – Konkurs, Vergleiche und ähnliche Verfahren – Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 – Art. 3 Abs. 1 – Klagen, die unmittelbar aus Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen“






1.        Die Oilchart International NV (im Folgenden: Oilchart) ist eine belgische Gesellschaft, die eine ausstehende Rechnung betreffend das Auftanken eines Seeschiffs im Hafen von Sluiskil (Niederlande) einklagt. Diese Rechnung war noch offen, als die Schuldnerin, die O.W. Bunker BV NL (im Folgenden: OWB NL), eine Gesellschaft niederländischen Rechts, insolvent wurde. Die Klage des Ausgangsverfahrens wurde nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in den Niederlanden in Belgien erhoben.

2.        Diese Situation wirft die Frage auf, ob der Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen, Belgien), ein Gericht, bei dem das Insolvenzverfahren nicht anhängig ist, für die Klage zuständig sein kann, mit der Oilchart die Bezahlung der betreffenden Rechnung geltend macht.

3.        Die Rechtssache gibt dem Gerichtshof neuerlich Gelegenheit, seine Rechtsprechung zur Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(2) (im Folgenden: Brüssel‑Ia-Verordnung)(3), einerseits, und der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren(4) (im Folgenden: Insolvenzverordnung)(5), andererseits, weiterzuentwickeln.

4.        Für die Entscheidung über die Frage seiner internationalen Zuständigkeit will das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob die Klage des Gläubigers vor einem anderen nationalen Gericht als demjenigen, bei dem das Insolvenzverfahren anhängig ist, wegen einer Rechnung, die beim Insolvenzverwalter zur Prüfung eingereicht wurde, in den Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung oder der Brüssel‑Ia-Verordnung fällt.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      BrüsselIa-Verordnung

5.        Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b der Brüssel‑Ia-Verordnung bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. …

(2)      Sie ist nicht anzuwenden auf:

b)      Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren,

…“

2.      Insolvenzverordnung

6.        Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung lautet:

„Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.“

B.      Niederländisches Recht

7.        Art. 25 der Wet van 30 september 1893 op het faillissement en de surséance van betaling (Gesetz vom 30. September 1893 über Insolvenz und Zahlungsaufschub [niederländisches Insolvenzgesetz, im Folgenden: NIG]), sieht vor:

„1.      Klagen, die Rechte oder Pflichten aus der Insolvenzmasse betreffen, sind von bzw. gegenüber dem Insolvenzverwalter zu erheben.

2.      Werden solche Klagen von oder gegenüber dem Insolvenzschuldner erhoben oder betrieben und führen sie zu einer Verurteilung des Insolvenzschuldners, entfaltet das betreffende Urteil keine Rechtswirkung gegenüber der Insolvenzmasse.“

8.        Art. 26 NIG bestimmt:

„Klagen auf Erfüllung einer Forderung aus der Insolvenzmasse können gegen den Insolvenzschuldner ausschließlich nach Maßgabe von Art. 110 erhoben werden.“

9.        Laut Art. 110 Abs. 1 NIG sind „Forderungen beim Insolvenzverwalter durch Einreichung einer Rechnung oder einer anderen schriftlichen Erklärung, aus der Art und Höhe der Forderung hervorgeht, verbunden mit Belegen oder Abschriften hiervon, und einer Erklärung darüber, ob ein Vorrecht, ein Pfandrecht, eine Hypothek oder ein Zurückbehaltungsrecht geltend gemacht wird, anzumelden.“

II.    Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

10.      Am 21. Oktober 2014 lieferte Oilchart im Hafen von Sluiskil (Niederlande) Treibstoff an das Seeschiff MS Evita K, das der Gesellschaft Sharsburg Navigation SA gehört. Die Eigentümerin des Schiffes hatte den Treibstoff über ihre Agentin Orient Shipping Rotterdam bei der dänischen Gesellschaft OW Bunker & Trading A/S (im Folgenden: OWB A/S) bestellt, die diese Bestellung an OWB NL, ein derselben Gruppe angehörendes Unternehmen, übermittelte. OWB NL ihrerseits erwarb den Treibstoff von Oilchart.

11.      Am 21. Oktober 2014 stellte die OWB A/S der Orient Shipping Rotterdam eine Rechnung in Höhe von 117 179 US-Dollar (USD).

12.      Am 22. Oktober 2014 stellte Oilchart OWB NL eine Rechnung in Höhe von 116 471,45 USD für die Lieferung von Treibstoff (im Folgenden: fragliche Rechnung). Die Rechtbank te Rotterdam (Bezirksgericht Rotterdam, Niederlande) stellte am 21. November 2014 den Konkurs von OWB NL fest. Infolgedessen blieb die fragliche Rechnung zur Zahlung offen. Oilchart meldete ihre Forderung aus dieser Rechnung zur Prüfung durch die Konkursverwalter von OWB NL an.

13.      Nach Eintritt des Konkurses von OWB NL standen bei Oilchart eine Reihe von Rechnungen aus, die OWB NL gestellt worden waren (darunter die fragliche Rechnung), weshalb Oilchart vorsorglich den Arrest einiger Seeschiffe erwirkte, die sie mit Treibstoff betankt hatte. Um die Freigabe der Schiffe zu erreichen, gewährten die Schiffseigner oder die Versicherungsvereine (im Folgenden: P&I-Clubs) Oilchart Bürgschaften in Höhe des Betrags der Rechnungen, die Oilchart OWB NL gestellt hatte. Diese Bürgschaften konnten gemäß ihren Bedingungen auf der Grundlage eines in Belgien gegen OWB NL oder gegen den Schiffseigentümer ergangenen Gerichtsurteils oder Schiedsspruchs in Anspruch genommen werden.

14.      Am 11. März 2015 erhob Oilchart vor der Rechtbank van koophandel te Antwerpen (Handelsgericht Antwerpen, Belgien) Klage gegen OWB NL. Die Gesellschaft ING Bank NV (im Folgenden: ING) trat diesem Verfahren als eine Gläubigerin von OWB NL(6) bei. In ihrer Klageschrift bezeichnete Oilchart ihre Forderung als zivilrechtliche Forderung aus Lieferungen oder Leistungen. Sie machte außerdem eine Nebenforderung gegen ING geltend, die ihrerseits Widerklage erhob. Mit Urteil vom 15. März 2017 bejahte die Rechtbank van koophandel te Antwerpen (Handelsgericht Antwerpen) ihre Zuständigkeit für die Klage von Oilchart, wies die Zahlungsklage jedoch mit der Begründung als unzulässig ab, dass Oilchart eine Zahlungsforderung gemäß dem NIG nur beim Insolvenzverwalter des Insolvenzverfahrens anmelden könne.

15.      Am 16. Mai 2017 legte Oilchart gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht, dem Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen), ein. Dieses Gericht sah sich zur Prüfung seiner internationalen Zuständigkeit nach Art. 28 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung veranlasst(7).

16.      In diesem Zusammenhang ist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, das auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs verweist, zu prüfen, ob der Anspruch, der der von Oilchart gegen OWB NL erhobenen Klage zugrunde liegt, den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung oder aber den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren entspringt. Darüber hinaus möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung die Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift ausschließt, wonach ein Gläubiger in einem Mitgliedstaat Zahlungsklage in Bezug auf eine Forderung erheben kann, die er in einem anderen Mitgliedstaat bereits als Insolvenzforderung angemeldet hat.

17.      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass sich nur anhand der abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren beurteilen lasse, welcher Natur die Klage und die Möglichkeit sei, eine solche Klage gegen die insolvente Gesellschaft zu erheben. Die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit müsse jedoch vor der Anwendung der abweichenden Sonderregeln des niederländischen Insolvenzrechts erfolgen und dürfe nicht durch die Anwendung dieser Vorschriften erfolgen.

18.      Unter diesen Umständen hat der Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

a)      Ist Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Brüssel‑Ia-Verordnung in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung dahin auszulegen, dass unter die Begriffe „Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren“ in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Brüssel‑Ia-Verordnung auch ein Verfahren fällt, in dem die in der Klageschrift angeführte Forderung als eine schlichte Forderung aus Lieferungen und Leistungen beschrieben wird, ohne dass eine bereits eingetretene Insolvenz der beklagten Partei erwähnt wird, wobei die eigentliche Rechtsgrundlage der Forderung auf die besonderen abweichenden Bestimmungen des NIG gestützt wird, und in dem

–        zu prüfen ist, ob eine solche Forderung als eine überprüfbare Forderung (Art. 26 in Verbindung mit Art. 110 NIG) oder eine nicht überprüfbare Forderung (Art. 25 Abs. 2 NIG) anzusehen ist,

–        die Frage, ob beide Forderungen gleichzeitig geltend gemacht werden können und ob die eine die andere nicht ausschließt, unter Berücksichtigung der spezifischen Rechtsfolgen jeder Forderung (einschließlich der Möglichkeit, eine nach Eintritt der Insolvenz übernommene Bankbürgschaft in Anspruch zu nehmen) nach den spezifischen Regeln des niederländischen Insolvenzrechts zu beurteilen ist?

Sowie

b)      Ist Art. 25 Abs. 2 NIG mit Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung Nr. 1346/2000 vereinbar, soweit diese Rechtsvorschrift es zulässt, eine solche Forderung (nach Art. 25 Abs. 2 NIG) vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats statt vor dem Insolvenzgericht des Mitgliedstaats, in dem die Insolvenz eingetreten ist, geltend zu machen?

19.      Oilchart, ING, die niederländische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Am 31. März 2023 hat der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht ein Auskunftsersuchen zum Rechtsrahmen des Ausgangsverfahrens übermittelt, das am 28. April 2023 beantwortet wurde. In der mündlichen Verhandlung vom 1. Februar 2024 haben ING und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

III. Würdigung

20.      Im Zusammenhang mit der Prüfung seiner internationalen Zuständigkeit für die von Oilchart erhobene Klage hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob die in Rede stehende Klage in der vorliegenden Rechtssache als eine Insolvenzklage einzustufen ist und daher unter die Ausnahme für Konkursverfahren nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Brüssel‑Ia-Verordnung (im Folgenden: Insolvenzausnahme) fällt(8). Da die Zweifel des Gerichts in diesem Punkt den Sachverhalt und die Art der von Oilchart erhobenen Klage betreffen, werde ich auf diese Problembereiche in meinen Vorbemerkungen (Abschnitt A) eingehen, bevor ich die beiden Fragen des vorlegenden Gerichts untersuche (Abschnitte B und C).

A.      Vorbemerkung zu den Sachverhaltsfeststellungen des vorlegenden Gerichts

21.      Es ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht festgestellt hat, dass Oilchart die Klageforderung, obwohl sie deren Rechtsgrundlage in der Klageschrift nicht angegeben habe, stets auf Art. 25 Abs. 2 NIG gestützt habe. Das vorlegende Gericht führt jedoch auch aus, dass Oilchart dieselbe Forderung einerseits gemäß Art. 26 in Verbindung mit Art. 110 NIG (als eine überprüfbare Forderung auf Zahlung aus der Insolvenzmasse) bei dem Konkursverwalter des in den Niederlanden anhängigen Konkursverfahrens angemeldet habe und andererseits gemäß Art. 25 Abs. 2 NIG (als eine nicht überprüfbare Forderung außerhalb der Insolvenzmasse) vor den belgischen Gerichten gegenüber dem Konkursschuldner(9), OWB NL, einklage(10). Es ist daher als sehr bedeutsam festzuhalten, dass Oilchart dieselbe Forderung zweifach geltend macht: Einmal gegenüber dem Konkursverwalter im Rahmen des Konkursverfahrens und einmal vor den belgischen Gerichten als eine zivilrechtliche Forderung. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts kann jedoch ein und dieselbe Forderung nicht gleichzeitig eine überprüfbare und eine nicht überprüfbare Forderung sein.

22.      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass sowohl ING als auch die niederländische Regierung geltend gemacht haben, dass die von Oilchart beim vorlegenden Gericht erhobene Klage nicht auf die von Oilchart angeführte Rechtsgrundlage – Art. 25 Abs. 2 NIG – gestützt werden könne.

23.      Diesbezüglich ist festzuhalten, dass Art. 25 Abs. 2 NIG im Wesentlichen vorsieht, dass, wenn Klagen gegen den Konkursschuldner (und nicht gegen den Verwalter) erhoben werden, ein Urteil betreffend die Klageforderung keine Rechtswirkung gegenüber der Konkursmasse entfaltet. Anders ausgedrückt: Wenn der Gläubiger eine Klage außerhalb des Insolvenzverfahrens gegen den Schuldner erhebt, kann die Entscheidung nach dieser Bestimmung nur „außerhalb der Masse“ Wirkungen entfalten und nicht gegen den Verwalter oder in die Insolvenzmasse vollstreckt werden. ING und die niederländische Regierung machen geltend – wobei ihre Argumentation eine gewisse Plausibilität für sich hat –, dass diese Bestimmung nicht als Rechtsgrundlage für eine Klage dienen könne, die die Insolvenzmasse betreffe.

24.      Da das vorlegende Gericht keine Feststellung zu der Frage der zutreffenden Rechtsgrundlage für die bei ihm erhobene Klage getroffen hat, lässt sich nicht feststellen, ob es international zuständig sein kann. Die Rechtssache stellt den Gerichtshof somit vor ein Rätsel. Einerseits führt das vorlegende Gericht aus, förmliche Rechtsgrundlage der Klageforderung sei Art. 25 Abs. 2 NIG, wonach eine außerhalb des Insolvenzverfahrens erhobene Klage keine Wirkung gegenüber der Insolvenzmasse entfalten könne. Andererseits betont das vorlegende Gericht, dass die Klage Auswirkungen auf die Masse und das Insolvenzverfahren habe.

25.      Meines Erachtens ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die in Rede stehende Forderung rechtlich einzuordnen, da es in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV nicht Aufgabe des Gerichtshofs ist, über die Auslegung nationaler Rechtsvorschriften zu entscheiden oder zu beurteilen, ob die Auslegung solcher Vorschriften durch das vorlegende Gericht richtig ist(11). Folglich kann der Gerichtshof im Rahmen der ihm übertragenen Zuständigkeiten weder auf Argumente zu der nach nationalem Recht zutreffenden rechtlichen Begründung der Klage eingehen noch über die Einordnung der beim vorlegenden Gericht erhobenen Klage entscheiden.

26.      Da es Sache des vorlegenden Gerichts ist, die hier in Rede stehende Klage im Interesse der Feststellung seiner internationalen Zuständigkeit zutreffend einzuordnen, ist es in Ausübung seiner Herrschaft über das Verfahren auch seine Aufgabe, die zutreffende Rechtsgrundlage der Klageforderung festzustellen.

27.      In den nachfolgenden Erwägungen gehe ich davon aus, dass die Klage auf der Grundlage einer Bestimmung des NIG, dem lex concursus, gestützt erhoben (und vom vorlegenden Gericht auch so eingeordnet) wurde, und dass sie Auswirkungen auf die Insolvenzmasse hat, während die genaue Rechtsgrundlage vom vorlegenden Gericht festzustellen ist.

B.      Zur ersten Frage

28.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine gegen eine insolvente Gesellschaft erhobene Klage, die auf eine Forderung aus einer vertraglichen Verpflichtung zur Bezahlung einer Lieferung von Gegenständen gestützt wird, unter den Begriff „Zivil- und Handelssache“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung und damit in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt oder ob sie in den Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung fällt, weil die Forderung Gegenstand eines in einem anderen Mitgliedstaat anhängigen Insolvenzverfahrens ist.

29.      Insbesondere geht aus den Vorlagefragen hervor, dass das vorlegende Gericht Zweifel hegt, ob es für die in Rede stehende Klage zuständig ist, was nur dann der Fall wäre, wenn die Forderung nicht im Zusammenhang mit dem in den Niederlanden eröffneten und dort anhängigen Insolvenzverfahren stünde. Nach gefestigter Rechtsprechung überträgt Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung den Gerichten des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, die ausschließliche Zuständigkeit für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens, worunter auch Insolvenzanfechtungsklagen fallen(12).

30.      Zur Beantwortung dieser Frage untersuche ich zunächst die Auswirkungen eines in Bezug auf dieselbe vertragliche Forderung parallel anhängigen Klageverfahrens, wobei ich mich auf den Zweck der Insolvenzausnahme konzentriere (Nr. 1). Danach analysiere ich den Inhalt der beiden in der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien (Nr. 2).

1.      Die Auswirkungen einer parallel anhängigen Klage

31.      Wie ein Rechtswissenschaftler es formuliert hat, handelt es sich bei Insolvenzverfahren um von der Gesetzgebung und der Rechtsprechung geschaffene Kunstgebilde. Es gibt kein „Wesen“ von Insolvenzverfahren, aus dem bestimmte Merkmale eines solchen Verfahrens abgeleitet werden könnten. Wichtig für die Benennung oder Einordnung von Klageverfahren sind die rechtlichen (und wirtschaftlichen) Folgen, die sich aus einer solchen Benennung oder Einordnung ergeben, und die Voraussetzungen, unter denen diese Folgen gerechtfertigt werden können(13). Demgemäß sind Insolvenzverfahren Verfahren, bei denen durch die Schaffung eines Gesamtverfahrens der Versuch unternommen wird, eine Lösung für das Problem der Gläubiger zu finden, nämlich dass eine gemeinsame Masse von Vermögenswerten besteht(14) (im Folgenden: Problem der gemeinsamen Masse)(15). Das Gesamtverfahren, mit dem zerstörerische Zugriffe auf (Schuldner‑)Vermögen verhindert werden sollen und das das Bestehen etwaiger Vorrechte unter Gläubigern anerkennt, ist der Existenzgrund für die Insolvenzausnahme. In den vorliegenden Schlussanträgen bezeichne ich dies als einen „ergebnisorientierten Ansatz“.

32.      In der vorliegenden Rechtssache hat das vorlegende Gericht im Hinblick auf die wirtschaftlichen und rechtlichen Folgen der Klage eindeutig festgestellt, dass die in Rede stehende Klage Auswirkungen auf die Insolvenzmasse hat(16). Insbesondere ist es der Auffassung, dass Oilchart durch die Erhebung dieser Klage bei einem belgischen Gericht nach Eintritt des Konkurses von OWB NL ein Urteil zu ihren Gunsten zu erstreiten suche, um danach die Bürgschaften in Anspruch zu nehmen. Demgemäß führt das vorlegende Gericht aus, Oilchart ziele mit ihrem Versuch einer individuellen Forderungsdurchsetzung darauf ab, frei von Konkurrenz den Ausgleich der Forderung zu erreichen, die OWB NL gegenüber der dänischen Gesellschaft OW Bunker zusteht. Die parallel bei den belgischen Gerichten anhängige Klage habe unmittelbare Auswirkung auf den Rang der Gläubiger und möglicherweise auf die Zusammensetzung der Insolvenzmasse(17). Auf diese Weise könnte das die Gläubiger zusammenführende Gesamtverfahren nach niederländischem Insolvenzrecht durch ein Urteil des belgischen Gerichts zu Gunsten von Oilchart, die ihre Forderung als eine nicht mit Vorrechten ausgestattete Gläubigerin außerhalb der „gemeinsamen Masse“ befriedigen würde, ausgehebelt werden. Folglich würde die in Rede stehende Klage eine Umgehung des Verfahrens der kollektiven Forderungsbeitreibung darstellen, was durch die Schaffung der Insolvenzausnahme gerade vermieden werden soll.

33.      Bei parallel anhängigen Klagen sind Gläubiger in einem rein nationalen Verfahrenskontext im Allgemeinen von einer Verfahrensaussetzung betroffen, wodurch die individuelle Geltendmachung oder Beitreibung von Forderungen außerhalb des Insolvenzverfahrens verhindert werden soll. In einer Situation mit grenzüberschreitender Dimension haben die anderen Mitgliedstaaten, wenn ein Insolvenzverfahren eröffnet wird, dieses Verfahren anzuerkennen(18). Dies bedeutet, dass eine solche Aussetzung, wenn sie gegenüber den Gläubigern ergeht(19), auch von diesen Mitgliedstaaten anzuerkennen ist. In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof keine Anhaltspunkte für das Bestehen eines solchen Mechanismus und für die Absicht des vorlegenden Gerichts, sich auf ihn zu stützen. Da feststeht, dass die in Rede stehende Forderung beim Verwalter des Konkursverfahrens in den Niederlanden angemeldet wurde, ist es Sache des vorlegenden Gerichts festzustellen, ob Oilchart einer solchen Verfahrensaussetzung oder sonstigen Beschränkung für eine parallele Klageerhebung unterliegt. Sollte dies der Fall sein, könnte man auch argumentieren, dass die in Rede stehende Forderung nicht nur materiell-rechtlich, sondern auch verfahrensrechtlich Teil des Insolvenzverfahrens ist und somit von der Insolvenzverordnung erfasst wird. Wenn also zulasten von Gläubigern eine Verfahrensaussetzung oder Verfahrensbeschränkung beschlossen wird, hätte dies zur Folge, dass einem ausländischen Gericht die Zuständigkeit für die Klage fehlt.

34.      Dieser Ansatz entspricht zum einen dem Gebot des Schutzes der Gläubigerinteressen und den Grundsätzen der Einheitlichkeit und Universalität des Insolvenzverfahrens(20), die der Insolvenzverordnung zugrunde liegen(21). Da es sich bei einem Insolvenzverfahren um ein Gesamtverfahren handelt(22), wird sich das Gericht, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, mit dem größten Teil der Angelegenheiten des Schuldners befassen(23). Dieser Ansatz zielt darauf ab, im Fall der Insolvenz die Interessen und die Rangfolge der Gläubiger zu schützen und einen effizienteren und wirksameren Mechanismus der Befriedigung der Gläubiger zu gewährleisten(24).

35.      In diesem Sinne sollten in einem Mitgliedstaat eröffnete Insolvenzverfahren in anderen Mitgliedstaaten volle Wirkung entfalten. Ich möchte hier hervorheben, dass eines der Hauptziele der Insolvenzverordnung darin besteht, die Wirksamkeit von Insolvenzverfahren sicherzustellen, indem ein „forum shopping“ vermieden wird, was insbesondere den Erwägungsgründen 2 und 4 der Verordnung zu entnehmen ist. In diesem Sinne hat der Gerichtshof in seinem Urteil Seagon(25) ausdrücklich festgehalten, dass eine solche Bündelung sämtlicher sich unmittelbar aus der Insolvenz eines Unternehmens ergebender Klagen vor den Gerichten des für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständigen Mitgliedstaats offenkundig auch dem Zweck der Verbesserung der Effizienz und der Beschleunigung von grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren entspricht(26). Anstatt dass jeder einzelne Gläubiger Nachforschungen betreffend das Vermögen des Schuldners anstellt und ermittelt, ob die Behauptung des Schuldners, er sei zahlungsunfähig, zutrifft, erfolgt dies im Insolvenzverfahren vom Insolvenzverwalter zum Nutzen aller Gläubiger, was nicht nur Kosten spart, sondern auch die Effizienz der Abwicklung erhöht(27).

36.      Folglich fällt eine den Gegenstand eines Insolvenzverfahrens bildende Forderung in die Zuständigkeit des Insolvenzverwalters, der unter der Aufsicht des Insolvenzgerichts tätig wird. Daher darf diese Forderung grundsätzlich nicht künstlich aus dem Gesamtverfahren herausgelöst werden.

37.      Zum anderen ist der Prioritätsgrundsatz anzuwenden. Der Umstand, dass ein Insolvenzverfahren im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Insolvenzverordnung eröffnet wurde, führt zu einer Änderung der Rechtsstellung einer der Parteien. Die wichtigste Folge des eröffneten Insolvenzverfahrens besteht darin, dass auf Insolvenzverfahren im Sinne dieser Verordnung das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dessen Gebiet ein solches Verfahren eröffnet wird, und dass das eröffnete Verfahren in allen anderen Mitgliedstaaten automatisch anerkannt wird(28). Diese Anerkennung bewirkt, dass das Gericht eines anderen Mitgliedstaats nicht befugt ist, die Entscheidung des Insolvenzgerichts zu überprüfen(29). Dies hat zur Folge, dass alle Vermögenswerte, die zum Vermögen des insolventen Rechtssubjekts gehören, der Geltendmachung von Ansprüchen eines einzelnen Gläubigers entzogen sind, wodurch eine Umgehung des Insolvenzverfahrens verunmöglicht wird. Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, hat jedes Gericht (außer dem zuerst angerufenen) zu verhindern, dass Entscheidungen ergehen, die mit dem Insolvenzverfahren unvereinbar sind(30).

38.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof (Große Kammer) in seinem kürzlich ergangenen Urteil die Auffassung vertreten hat, dass Schiedsverfahren zwar nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 44/2001 – der Vorgängerin der Brüssel‑Ia-Verordnung, die dieselbe Ausnahmeregelung enthält – ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen sind, dass die Lis-pendens-Regel aber insbesondere für den von einem Schiedsrichter erlassenen Schiedsspruch gilt. Er hat dazu ausgeführt, dass „das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aussetzt, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, und sich, sobald diese Zuständigkeit feststeht, zugunsten dieses Gerichts für unzuständig erklärt“(31). Der Gerichtshof hat damit (selbst für einen Bereich, der eindeutig nicht in den Anwendungsbereich der Brüssel‑Ia-Verordnung fällt) die Bedeutung der Priorität des zuerst angerufenen Gerichts hervorgehoben. In analoger Anwendung auf die vorliegende Rechtssache ist es daher wichtig, die Priorität des niederländischen Insolvenzgerichts zu achten.

39.      In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission hierzu vorgetragen, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Auswirkungen auf die Zuständigkeit des Gerichts, bei dem parallel eine Klage erhoben worden sei, sondern vielmehr auf das auf die Klage anwendbare Recht habe. Nach Ansicht der Kommission ist die lex concursus bestimmend für die Zulässigkeit oder die Begründetheit der parallel erhobenen Klage, die abzuweisen sei. Meines Erachtens führt ein solcher Ansatz erstens dazu, dass die Zuständigkeitsvorschriften der Insolvenzverordnung, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 1, ihre Bedeutung verlieren. Zweitens räumt die Kommission mit der Aussage, es sei Sache des Gerichts des anderen Mitgliedstaats, die parallel anhängige Klage abzuweisen, im Grunde ein, dass diese Klage problematisch ist. Es bleibt jedoch einem nationalen Gericht überlassen, für die parallel anhängige Klage auf der Grundlage einer ausländischen lex concursus eine Lösung zu finden (d. h. eine Klageabweisung wegen fehlender Begründetheit auszusprechen). Um die Erreichung der vorgenannten Ziele sicherzustellen(32), sollte das nationale Gericht meines Erachtens die Möglichkeit haben, sich für unzuständig zu erklären, ohne die Bestimmungen einer ausländischen lex concursus prüfen zu müssen, weil die in Rede stehende Klage in die ausschließliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts eines anderen Mitgliedstaats fällt. Ein solcher Ansatz würde den Parteien des Insolvenzverfahrens mehr Rechtssicherheit bieten und nach erfolgter Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat eine gewisse Stringenz in der Anwendung von Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung in verschiedenen Mitgliedstaaten bewirken(33).

40.      Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht schließlich eindeutig hervor, dass die beim vorlegenden Gericht eingeklagte Forderung identisch ist mit der im niederländischen Insolvenzverfahren geltend gemachten Forderung. Da über das Vermögen der Schuldnerin der Konkurs eröffnet wurde und die Sache unter niederländisches Insolvenzrecht fällt, sollte das vorlegende Gericht prüfen, ob eine Verfahrensaussetzung vorliegt, die andere Gerichte daran hindert, sich mit der Sache zu befassen. In diesem Fall würde ich argumentieren, dass eine Klage, die auf eine vertragliche Verpflichtung gestützt wird – welche Gegenstand des niederländischen Insolvenzverfahrens ist und bezüglich derer grundsätzlich eine Verfahrensaussetzung von Klagen einzelner Gläubiger erfolgen sollte –, in den Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung und in die Zuständigkeit des Gerichts fällt, bei dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Allerdings ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs, die zuweilen in die entgegengesetzte Richtung weist, recht widersprüchlich.

2.      Das von der Rechtsprechung aufgestellte Doppelkriterium

41.      Während in Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung lediglich von „Insolvenzverfahren“ die Rede ist, umfasst diese Bestimmung gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch „Verfahren mit Insolvenzbezug“. In seinen grundlegenden Urteilen Gourdain(34) und Seagon(35) hat der Gerichtshof entschieden, dass Verfahren mit Insolvenzbezug nicht in den Anwendungsbereich der Vorgängerregelung zur Brüssel‑Ia-Verordnung, sondern in den Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung fallen. Insoweit hat der Gerichtshof das im Urteil Gourdain aufgestellte Doppelkriterium (im Folgenden: Gourdain-Kriterien) angewandt.

42.      Konkret fällt nach der in dieser Rechtsprechung aufgestellten Formel eine Klage, die unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren hervorgeht (erstes Kriterium) und in engem Zusammenhang damit steht (zweites Kriterium), in den Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung(36) und somit nicht in den Anwendungsbereich der Brüssel‑Ia-Verordnung(37). In Verbindung mit der Anforderung, den in Art. 1 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung niedergelegten Begriff „Zivil- und Handelssachen“ weit auszulegen(38), beschränkt sich die in der Brüssel‑Ia-Verordnung enthaltene Insolvenzausnahme auf Angelegenheiten, die die Gourdain-Kriterien erfüllen(39). Während der Gerichtshof konsequent die Gourdain-Kriterien angeführt hat, wurden sie in der Praxis uneinheitlich angewandt(40).

43.      Da der Gerichtshof dazu neigt, die beiden Kriterien zusammen zu prüfen(41), ist es insbesondere sehr schwierig, ihre Tragweite und ihren genauen Inhalt zu bestimmen. Zum Beispiel findet sich in der Rechtsprechung nicht immer die oben genannte Formel, und es besteht Ungewissheit hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den beiden Kriterien und ihres jeweiligen Inhalts(42). Bisweilen prüft der Gerichtshof nur ein Kriterium(43). Gelegentlich hält er ein Kriterium für ausschlaggebend und stellt fest, dass es das andere überwiegt(44), was die Frage nach dem kumulativen Charakter dieser Kriterien aufwirft. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs lassen sich daher nicht immer in sich schlüssige Regeln entnehmen. Vor diesem Hintergrund werde ich nacheinander den Inhalt und die Anwendung dieser Kriterien untersuchen.

a)      Das erste Kriterium: Die Klage geht unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervor

44.      Um festzustellen, ob eine Klage unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren hervorgeht, prüft der Gerichtshof ihre Rechtsgrundlage(45). Diesbezüglich ist nach seiner Auffassung zu ermitteln, ob der Anspruch oder die Verpflichtung, die der Klage als Grundlage dient, den allgemeinen Regelungen des Zivil- und Handelsrechts entspringt oder aber den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren(46). Der Gerichtshof hat betont, dass festzustellen ist, ob die in Rede stehende Klage ihren Ursprung im Insolvenzverfahrensrecht oder in anderen Regeln hat(47).

45.      Bevor ich die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Kriterium untersuche, möchte ich zunächst eine Vorbemerkung zum Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache anbringen. Das vorlegende Gericht führt aus, dass Oilchart nach dem Konkurs der OWB NL den Arrest – d. h. eine vollstreckungssichernde Pfändung – bestimmter Seeschiffe in Belgien beantragt und erwirkt habe. Um die Freigabe der Schiffe zu erreichen, hätten die Schiffseigner oder die P&I-Clubs Oilchart Bürgschaften in Höhe des Betrags der Rechnungen, die Oilchart OWB NL gestellt habe, gewährt. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ermöglichen diese Bürgschaften es Oilchart u. a., sie auf der Grundlage eines gegen OWB NL ergangenen Urteils in Anspruch zu nehmen.

46.      Hierzu möchte ich anmerken, dass, sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass die Sache unter Art. 1 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung fällt, noch die Zuständigkeit des belgischen Gerichts festzustellen wäre, da die Treibstofflieferung in den Niederlanden stattfand und das Insolvenzverfahren auch im Mittelpunkt des hauptsächlichen Interesses der Schuldnerin in diesem Mitgliedstaat eröffnet wurde. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass im vorliegenden Verfahren zwischen der Rechtsgrundlage der Verpflichtung und dem Mechanismus der Durchsetzung dieser Verpflichtung zu unterscheiden ist. Während die Rechtsgrundlage der Klage den aus dem Vertragsverhältnis zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner herrührenden Pflichten entspringt, erfolgte die Sicherung der Erfüllung dieser Verpflichtungen durch die Pfändung von Schiffen und die Begründung von Bürgschaften. Ich würde daher argumentieren, dass diese Bürgschaften eine Durchsetzung der Rechte von Oilchart darstellen, aber als solche nicht den Ursprung der Verpflichtung bilden.

47.      Dies vorausgeschickt untersuche ich als Nächstes die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf das erste Kriterium, die je nach dem gewählten Ansatz ganz unterschiedlich ausfällt.

48.      Bisweilen wählt der Gerichtshof offenbar einen formalistischen Ansatz. In seinem Urteil Riel  beispielsweise hat der Gerichtshof ausdrücklich klargestellt, dass die Bestimmung, auf deren Grundlage die Prüfungsklage des Klägers des Ausgangsverfahrens erhoben wurde, „im österreichischen Insolvenzrecht zu verorten ist“, und dass „sich … aus dem Wortlaut dieser Bestimmung [ergibt], dass diese Klage im Rahmen eines Insolvenzverfahrens von daran beteiligten Gläubigern bei Streitigkeiten über die Richtigkeit oder Rangordnung von ihrerseits angemeldeten Forderungen erhoben werden kann“(48).  Kürzlich hat der Gerichtshof im Urteil Tiger  entschieden, dass eine Klage des Insolvenzverwalters, der vom Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, bestellt wurde, ihre Rechtsgrundlage in den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs hat, die sich speziell auf Insolvenz beziehen(49).

49.      Der Gerichtshof prüft jedoch offenbar auch, ob die in Rede stehende Klage von den einzelnen Gläubigern entweder vor, während oder nach der Durchführung des Insolvenzverfahrens erhoben werden kann. Im Urteil Nickel & Goeldner  Spedition  hat der Gerichtshof ausgeführt, dass eine Klage auf Erfüllung einer aus der Erbringung von Dienstleistungen in Gestalt der Durchführung eines Beförderungsvertrags entstandenen Forderung vom Gläubiger selbst hätte erhoben werden können, bevor ihm durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über sein Vermögen die Verfügungsgewalt hierüber entzogen wurde, und dass sie sich dann nach den in Zivil- und Handelssachen anwendbaren Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit gerichtet hätte(50).  Entsprechend hat der Gerichtshof im Urteil NK  entschieden, dass die in Rede stehende Klage, die zum einen vom Gläubiger selbst erhoben werden kann, so dass sie nicht in die ausschließliche Zuständigkeit des Insolvenzverwalters fällt, und zum anderen von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens unabhängig ist, nicht als unmittelbare und untrennbare Folge eines solchen Verfahrens angesehen werden kann(51).

50.      In der vorliegenden Rechtssache fällt die von Oilchart erhobene Klage, wenn man die in den Urteilen Riel und Tiger aufgestellte Formel wörtlich versteht, daher, da das vorlegende Gericht ja zu der Beurteilung gelangt ist, dass Rechtsgrundlage der Klage Art. 25 Abs. 2 NIG sei, – und in Ermangelung einer Einordnung der Forderung in diesem Stadium – in den Anwendungsbereich der Bestimmungen des NIG, so dass niederländisches Insolvenzrecht gilt. Zieht man jedoch die Erwägungen der Urteile Nickel & Goeldner Spedition  und NK  heran, so kann die in Rede stehende Klage von den einzelnen Gläubigern erhoben werden, und die Klage weist deshalb möglicherweise keinen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren auf.

51.      Um die rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen der Insolvenzausnahme und insbesondere des Problems der gemeinsamen Masse zu berücksichtigen, sollte der Gerichtshof das erste Kriterium gleichwohl so anwenden, dass sowohl die ausschließliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts(52) als auch die Interessen der anderen Gläubiger gewahrt bleiben und ein „forum shopping“ vermieden wird(53). Wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Forderung dieselbe ist wie die im Insolvenzverfahren in Rede stehende, sollte der Gerichtshof daher prüfen, ob sie unter das Insolvenzverfahren fällt.

52.      Soweit der Gerichtshof im Urteil Riel die Auffassung vertreten hat, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Klage auf Feststellung des Bestehens einer Forderung, die im Kontext eines Insolvenzverfahrens erhoben werden soll, in engem Zusammenhang damit steht und unmittelbar aus diesem Insolvenzverfahren hervorgeht(54), sollte diese Beurteilung mutatis mutandis für die Geltendmachung eines Zahlungsanspruchs eines Gläubigers wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gelten.

53.      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil H(55) entschieden hat, dass der Umstand, dass eine Klage „grundsätzlich auch dann erhoben werden kann, wenn kein Insolvenzverfahren über das Vermögen der betreffenden Schuldnergesellschaft eröffnet worden ist, … dieser Umstand für sich genommen der Einstufung einer solchen Klage als Klage, die unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren hervorgeht und in engem Zusammenhang damit steht, nicht entgegensteht, sofern diese Klage … tatsächlich im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erhoben wird“. Solche Forderungen „weichen“ gerade wegen der Insolvenz des Schuldners von den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts „ab“. Folglich liegt in der Feststellung des Konkurses des Schuldners das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal(56). Wenn die Insolvenz des Schuldners festgestellt und mit der Klage eine Forderung geltend gemacht wird, die in die Insolvenzmasse fällt, wird Rechtsgrundlage dieser Forderung eine insolvenzrechtliche Bestimmung der lex concursus, so dass diese Klage als eine Klage einzustufen ist, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgeht.

54.      Ich möchte hinzufügen, dass die meisten Forderungen, die in die Insolvenzmasse fallen, wie leicht nachzuvollziehen ist, den allgemeinen Vorschriften des Zivil- und Handelsrechts entspringen, nämlich insbesondere dann, wenn es wie in der vorliegenden Rechtssache um die Durchsetzung einer vertraglichen Verpflichtung der Bezahlung einer Lieferung von Gegenständen geht. Mit anderen Worten: Fällt eine Forderung aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der Anmeldung der Forderung beim Insolvenzverwalter in die Insolvenzmasse, so gelten für sie die abweichenden Vorschriften dieses Verfahrens. Anderenfalls könnten alle zivil- und handelsrechtlichen Ansprüche, die beim Insolvenzverwalter angemeldet wurden, vor einem anderen Gericht in einem anderen Mitgliedstaat geltend gemacht werden, wodurch die Grundsätze der Bündelung der Ansprüche und der vis attractiva concursus bedeutungslos würden(57).

55.      Der Gerichtshof sollte daher meines Erachtens in Verfolgung eines ergebnisorientierten Ansatzes in Bezug auf das erste Kriterium (Prüfung der Rechtsgrundlage) dem in Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung niedergelegten Grundsatz der ausschließlichen Zuständigkeit zum Durchbruch verhelfen(58), wodurch die Wirksamkeit des Insolvenzverfahrens erhöht und dazu beigetragen würde, das Ziel einer Vermeidung von „forum shopping“ zu erreichen(59). Ich würde die „Rechtsgrundlagenprüfung“ daher als eine Prüfung ansehen, mit der der Gerichtshof feststellt, ob die Verpflichtung dem Insolvenzrecht entspringt.

56.      Ich bin folglich der Ansicht, dass der Bestand der Pflichten von OWB NL zusammen mit den korrespondierenden Ansprüchen von Oilchart die Rechtsgrundlage der Klage bildet. Die Durchsetzung der Ansprüche hängt von der Anwendung der Bestimmungen des niederländischen Insolvenzrechts betreffend die Wirkung der in den Niederlanden festgestellten Insolvenz ab(60). Ich möchte dem Gerichtshof daher empfehlen, zu der Beurteilung zu gelangen, dass die Klage von Oilchart unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgeht und auf einer Forderung beruht, die in die Insolvenzmasse fällt.

b)      Das zweite Kriterium: die Enge des Zusammenhangs zwischen der Klage und dem Insolvenzverfahren

57.      Was das zweite Kriterium betrifft, so ist für die Frage, ob eine Klage in engem Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren steht, gemäß der vom Gerichtshof aufgestellten Formel entscheidend, wie eng der Zusammenhang zwischen der Klage und dem Insolvenzverfahren ist(61).  Dieses Kriterium erlaubt somit die Berücksichtigung von Begleitumständen, die nichts mit der Rechtsgrundlage zu tun haben.

58.      Im Prinzip soll mit dem zweiten Kriterium die Frage beantwortet werden, ob eine Klage, die mit der hier in Rede stehenden vergleichbar ist, gleichzeitig mit oder unabhängig von einem Insolvenzverfahren erhoben werden kann. Im Urteil German Graphics Graphische Maschinen  hat der Gerichtshof beispielsweise entschieden, dass eine auf eine Eigentumsvorbehaltsklausel gestützte Klage gegen den Insolvenzverwalter im Wesentlichen deshalb keinen ausreichend engen Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren aufweist, weil die mit einer solchen Klage aufgeworfene Rechtsfrage von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens unabhängig ist(62). In seinem Urteil Feniks  hat der Gerichtshof kürzlich die Auffassung vertreten, dass sich eine Gläubigeranfechtungsklage, mit der der Inhaber einer Forderung beantragt, ihm gegenüber eine für seine Ansprüche angeblich nachteilige Handlung für unwirksam zu erklären, mit der sein Schuldner ein Rechtsgut an einen Dritten übertragen hat, nicht im Rahmen eines Insolvenzverfahrens hält(63). In der vorliegenden Rechtssache müsste der Gerichtshof, wenn er eine solche „Möglichkeitsprüfung“ vornähme, zu der Beurteilung gelangen, dass die in Rede stehende Klage keinen Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren aufweist, da sie unabhängig von einem Insolvenzverfahren erhoben werden kann, es sei denn, das Insolvenzrecht sieht eine Aussetzung dieses Klageverfahrens vor.

59.      In diesem Zusammenhang prüft der Gerichtshof gelegentlich den prozessualen Kontext, indem er untersucht, ob der Gläubiger ein kollektives oder ein individuelles Interesse verfolgt. Im Urteil F‑Tex  haben die Parteien beispielsweise geltend gemacht, die Klage der Zessionarin entspreche nach Ursprung und Inhalt im Wesentlichen einer vom Insolvenzverwalter erhobenen Klage(64). Allerdings hat der Gerichtshof vertreten, dass „für die Geltendmachung der an einen Zessionar abgetretenen Forderung andere Regeln gelten als im Rahmen eines Insolvenzverfahrens“(65). Erstens kann der Zessionar im Unterschied zum Insolvenzverwalter, der grundsätzlich verpflichtet ist, im Interesse der Gläubiger zu handeln, frei entscheiden, ob er die abgetretene Forderung geltend machen will. Zweitens handelt der Zessionar, wenn er sich entschließt, seine Forderung geltend zu machen, in seinem eigenen Interesse und zu seinem persönlichen Vorteil. Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass die Klage des Ausgangsverfahrens aufgrund ihrer Merkmale also nicht in engem Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren steht(66). Wendete der Gerichtshof diese Erwägungen auf das Ausgangsverfahren an, müsste er zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Geltendmachung des von Oilchart erworbenen Anspruchs anderen Regeln unterliegt als denen, die in Insolvenzverfahren gelten; denn Oilchart kann – anders als ein Insolvenzverwalter – frei entscheiden, ob sie im eigenen Interesse tätig wird und ihren Anspruch geltend macht. Die Klage von Oilchart steht daher nicht in engem Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren.

60.      Im Urteil Valach, in dem der Gerichtshof den Umfang der Pflichten des Gläubigerausschusses, der einen Sanierungsplan abgelehnt hatte, geprüft hat, wurde ein ergebnisorientierterer Ansatz verfolgt. Insbesondere hat der Gerichtshof den Standpunkt vertreten, dass, um zu beurteilen, ob die Haftung der Mitglieder des Gläubigerausschusses wegen der Ablehnung des Sanierungsplans eintreten kann, insoweit insbesondere zu prüfen sein wird, welchen Umfang die Pflichten dieses Ausschusses im Insolvenzverfahren haben und ob die Ablehnung mit diesen Pflichten vereinbar war. Die betreffende Klage wurde dahin beurteilt, dass sie einen hinreichend engen Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren aufweist(67). In diesem Urteil wird zwar nicht erläutert, aus welchen Gründen der Gerichtshof zu diesem Ergebnis gelangt ist, doch lässt sich sein Ansatz meines Erachtens durch die Notwendigkeit erklären, die Auswirkungen der Klage auf die Insolvenzmasse und insbesondere die zugrunde liegende Verpflichtung zur Erhaltung der zur Masse gehörenden Vermögenswerte zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Prüfung wäre zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass Oilchart vor dem Hintergrund des Insolvenzverfahrens daran gehindert ist, ihre Forderung gesondert individuell geltend zu machen. Daher wäre festzustellen, dass die in Rede stehende Klage mit dem Insolvenzverfahren in einem hinreichend engen Zusammenhang steht.

61.      Im Urteil SCT Industri schließlich hat der Gerichtshof im Wesentlichen den Zusammenhang zwischen den Klagen der Parteien und dem betroffenen Vermögensgegenstand geprüft. Er vertrat die Auffassung, dass die Klage einer Gesellschaft, über deren Vermögen ein Konkursverfahren eröffnet worden war, auf Rückübertragung des Eigentums an Gesellschaftsanteilen, die an eine andere Gesellschaft veräußert worden waren, in engem Zusammenhang mit dem Konkursverfahren steht, da die Veräußerung auf der Grundlage von für das Konkursverfahren geltenden Bestimmungen erfolgte. Der Gerichtshof hob hervor, dass sich die Aktiva des Unternehmens, dessen Vermögen Gegenstand des Konkursverfahrens war, nach dem Verkauf der fraglichen Gesellschaftsanteile durch den Konkursverwalter erhöht haben(68). Ebenso wirken sich in der vorliegenden Rechtssache die Klagen von Oilchart erkennbar auf die Insolvenzmasse aus. Als Ergebnis dieser Prüfung ist daher davon auszugehen, dass die in Rede stehende Klage mit dem Insolvenzverfahren in einem hinreichend engen Zusammenhang steht.

62.      Aufgrund des oben Ausgeführten gelange ich daher zu dem Ergebnis, dass die Gourdain-Kriterien so auszulegen sind, dass sie der Zielsetzung und dem Existenzgrund  des Insolvenzverfahrens, d. h. dem Problem der gemeinsamen Masse und der effizienten Verwaltung der zur Masse gehörenden Vermögenswerte, Rechnung tragen. Eine enge Auslegung dieser Kriterien führt dazu, dass Gläubiger die Regeln des Insolvenzverfahrens umgehen, Massegegenstände an sich bringen und die Rechte der anderen Gläubiger beeinträchtigen können. Zu einer solchen Umgehung könnte es kommen, wenn mehrere Zuständigkeiten bestünden und die parallel anhängige Klage als eine „Zivil- und Handelssache“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung eingeordnet würde. Meines Erachtens kann die Anwendung der Brüssel‑Ia-Verordnung jedoch nicht dazu dienen, die ausschließliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts(69), die Wirksamkeit des Insolvenzverfahrens(70) und das Gebot des Schutzes der Gläubigerinteressen auszuhebeln(71). Eine Bejahung der Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts nach der Brüssel‑Ia-Verordnung führt nämlich zu einer Umgehung der effizienten und wirksamen Durchführung von Insolvenzverfahren, was das „reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts“ beeinträchtigt(72). Da in der vorliegenden Rechtssache die in Rede stehende Forderung mit derjenigen identisch ist, die beim Insolvenzverwalter in den Niederlanden angemeldet wurde, empfehle ich dem Gerichtshof, festzustellen, dass eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren hervorgeht und in engem Zusammenhang damit steht, so dass sie in den Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung fällt.

63.      Ich schlage daher vor, dass der Gerichtshof antwortet, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Brüssel‑Ia-Verordnung und Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung dahin auszulegen sind, dass, wenn bei einem mitgliedstaatlichen Gericht ein Insolvenzverfahren anhängig ist, in dessen Rahmen eine Forderung wegen einer vertraglichen Verpflichtung der Bezahlung einer Lieferung von Gegenständen angemeldet wurde, und dieselbe Forderung Gegenstand einer gegen das insolvente und von dem Insolvenzverfahren betroffene Unternehmen gerichteten Klage ist, diese Klage in den Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung fällt.

C.      Zur zweiten Frage

64.      Die zweite Frage wird für den Fall gestellt, dass der Gerichtshof die erste Frage dahin beantwortet, dass die in Rede stehende Klage in den Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung fällt.

65.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 Abs. 2 NIG mit Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung vereinbar ist, soweit diese Rechtsvorschrift es zulässt, eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gegen ein insolventes Unternehmen bei dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats als dem, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, zu erheben.

66.      Ich möchte zunächst daran erinnern, dass es im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nicht Sache des Gerichtshofs ist, über die Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit dem Unionsrecht zu entscheiden. Der Gerichtshof beschränkt seine Prüfung auf eine Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen, die für das nationale Gericht hilfreich sein wird, das letztlich  über die Vereinbarkeit der einzelstaatlichen Bestimmungen mit dem Unionsrecht zu befinden hat, um über den Ausgangsrechtsstreit entscheiden zu können(73).

67.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens streitig ist, ob Art. 25 Abs. 2 NIG die zutreffende Rechtsgrundlage für die Klage und wie diese Bestimmung korrekt auszulegen ist. Bevor das vorlegende Gericht über die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Unionsrecht entscheidet, hat es daher, wie ich bereits ausgeführt habe, die Klageforderung einzuordnen und zu beurteilen, ob diese Bestimmung tatsächlich die Rechtsgrundlage der in Rede stehenden Klage sein kann(74).

68.      Hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung ist darauf hinzuweisen, dass letztere Vorschrift, wie ich bereits ausgeführt habe(75), darauf abzielt, das für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zuständige Gericht zu bestimmen. Es handelt sich also um eine Regel der internationalen Zuständigkeit(76). Der Gerichtshof hat sie allerdings dahin ausgelegt, dass sie dem Insolvenzgericht eine ausschließliche Zuständigkeit verleiht(77).

69.      In der vorliegenden Rechtssache bringt Art. 25 Abs. 2 NIG offenbar zum Ausdruck, dass ein gegen einen Konkursschuldner ergangenes Urteil keine Rechtswirkung gegenüber der Konkursmasse entfaltet. Klagen außerhalb der Insolvenzmasse dürfte er danach im Wesentlichen zulassen, er besagt aber, dass Entscheidungen über solche Klagen gegenüber der Konkursmasse nicht vollstreckbar sind.

70.      Aus einer Betrachtung des bloßen Wortlauts von Art. 25 Abs. 2 NIG ergibt sich dann dem ersten Anschein nach, dass diese Bestimmung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung fällt, da sie sich nicht mit der „Eröffnung“ von „Insolvenzverfahren“ befasst, sondern schlicht Klagen wegen nicht überprüfbarer Forderungen außerhalb solcher Verfahren gestattet. Jedenfalls kann Art. 25 Abs. 2 NIG seinem Wortlaut nach entnommen werden, dass er mit Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung vereinbar ist, da er keine Auswirkungen auf die Insolvenzmasse hat.

71.      Dessen ungeachtet darf dann, wenn die Anwendung von Art. 25 Abs. 2 NIG zu einer Praxis führt, die eine Umgehung des Insolvenzverfahrens und der ausschließlichen Zuständigkeit des Insolvenzgerichts ermöglicht, was vom nationalen Gericht festzustellen ist, davon ausgegangen werden, dass die nationale Maßnahme eine Umgehung von Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung bewirkt und daher im Widerspruch zu ihm steht.

72.      In diesem Zusammenhang sollte das vorlegende Gericht prüfen, ob die Anwendung von Art. 25 Abs. 2 NIG zu einer rechtlichen oder wirtschaftlichen Veränderung der Situation der Gläubiger in Bezug auf die Insolvenzmasse oder das Insolvenzverfahren führt (z. B. hinsichtlich der Stellung oder des Rangs von Gläubigern oder der Zusammensetzung der Insolvenzmasse). Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ING in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof geltend gemacht hat, dass die Klagen von Oilchart mit dem Ziel der Inanspruchnahme der von den Schiffseignern oder den P&I-Clubs gewährten Bürgschaften Wirkungen gegenüber Dritten entfalten könne. Sollte die Anwendung dieser Bestimmung hingegen keine solche Wirkung entfalten, wäre die beim vorlegenden Gericht anhängige Klage in Bezug auf dieses Verfahren als „neutral“ einzustufen.

73.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverordnung und der Grundsatz der ausschließlichen Zuständigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, durch die die ausschließliche Zuständigkeit eines zuerst mit einem Insolvenzverfahren befassten mitgliedstaatlichen Gerichts für einen aufgrund einer vertraglichen Verpflichtung bestehenden Anspruch auf Bezahlung einer Lieferung von Gegenständen, der zur Insolvenzmasse gehört, umgangen wird.

IV.    Ergebnis

74.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen, Belgien) gestellten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 1 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren

sind dahin auszulegen, dass, wenn bei einem mitgliedstaatlichen Gericht ein Insolvenzverfahren anhängig ist, in dessen Rahmen eine Forderung aufgrund einer vertraglichen Verpflichtung zur Bezahlung einer Lieferung von Gegenständen angemeldet wurde, und dieselbe Forderung Gegenstand einer gegen das insolvente und von dem Insolvenzverfahren betroffene Unternehmen gerichteten Klage ist, diese Klage in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1346/2000 fällt.

2.      Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 und der Grundsatz der ausschließlichen Zuständigkeit

sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, durch die die ausschließliche Zuständigkeit eines zuerst mit einem Insolvenzverfahren befassten mitgliedstaatlichen Gerichts für einen aufgrund einer vertraglichen Verpflichtung bestehenden Anspruch auf Bezahlung einer Lieferung von Gegenständen, der zur Insolvenzmasse gehört, umgangen wird.


1      Originalsprache: Englisch.


2      ABl. 2012, L 351, S. 1.


3      Diese Verordnung hat die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) ersetzt, die ihrerseits das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1978, L 304, S. 36) in der durch die aufeinanderfolgenden Übereinkommen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen geänderten Fassung (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) ersetzt hatte.


4      ABl. 2000, L 160, S. 1.


5      Die Insolvenzverordnung wurde durch die Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19) ersetzt, die ratione temporis auf die vorliegende Rechtssache nicht anwendbar ist.


6      Es wird vorgetragen, dass ING OWB NL vor Feststellung des Konkurses ein Darlehen gewährt habe, wobei OWB NL und andere Unternehmen der Gruppe ihre gegenwärtigen und zukünftigen Forderungen gegenüber Endkunden an ING abgetreten hätten.


7      Art. 28 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung sieht vor: „Lässt sich der Beklagte, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat und der vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verklagt wird, auf das Verfahren nicht ein, so hat sich das Gericht von Amts wegen für unzuständig zu erklären, wenn seine Zuständigkeit nicht nach dieser Verordnung begründet ist.“


8      Diese Bestimmung enthält zwar den Begriff „Konkurs“, unter Berücksichtigung der Insolvenzverordnung und der Verordnung 2015/848 ist der Begriff „Insolvenz“ im vorliegenden Kontext jedoch eindeutig angemessener, weshalb ich ihn in den vorliegenden Schlussanträgen verwende. Vgl. auch Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (ABl. 2019, L 172, S. 18).


9      In den Akten des Gerichtshofs findet sich der Begriff „Konkurs“. Daher werde ich in den vorliegenden Schlussanträgen diesen Begriff verwenden, soweit ich auf den Sachverhalt der Rechtssache oder auf das niederländische Recht eingehe. Im Zusammenhang mit dem Unionsrecht findet jedoch der Begriff „Insolvenz“ Verwendung, da sowohl die Insolvenzverordnung als auch die Verordnung 2015/848 von Insolvenzverfahren sprechen.


10      Dass es sich um ein und dieselbe Forderung handelt – die Rechnung und der Betrag waren identisch –, hat ING, eine Gläubigerin von OWB NL, in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt.


11      Urteile vom 21. September 2016, Etablissements Fr. Colruyt (C‑221/15, EU:C:2016:704, Rn. 15), und vom 5. Juni 2018, Grupo Norte Facility (C‑574/16, EU:C:2018:390, Rn. 32).


12      Vgl. insbesondere Urteil vom 14. November 2018, Wiemer & Trachte (C‑296/17, EU:C:2018:902, Rn. 23).


13      Eidenmueller, H., „What is an insolvency proceeding?“, American Bankruptcy Law Journal, 92(1), 2018, S. 53 bis 72.


14      Die einflussreichste Theorie betreffend Konkurse, die Theorie von Gläubigerverhandlungen, betrachtet die Insolvenz als ein Problem der gemeinsamen Masse und das Insolvenzrecht daher als einen Bestand an Sonderregeln zur Überwindung dieses Problems. Das Problem der gemeinsamen Masse bei einer Insolvenz besteht darin, dass alle Gläubiger Forderungen gegen das Unternehmen haben, dessen Vermögen nicht ausreicht, um alle Forderungen zu befriedigen. Das Insolvenzverfahren beruht demnach auf dem Gedanken, dass ein besseres Verfahren darin besteht, Einzelvollstreckungen zu verhindern und das Vermögen des Schuldners möglichst gerecht unter den Gläubigern zu verteilen. Ein Gesamtverfahren ist zu bevorzugen (vgl. Jackson, T., The Logic and Limits of Bankruptcy Law, Beard Books, 2001, S. 11 ff.).


15      Vgl. entsprechend UNCITRAL Legislative Guide on Insolvency Law (United Nations 2005, S. 83, Rn. 26), in dem es heißt, dass „eines der Grundprinzipien des Insolvenzrechts … darin [besteht], dass es sich bei Insolvenzverfahren um Gesamtverfahren handelt, die erfordern, dass die Interessen der Gesamtheit der Gläubiger vor dem individuellen klageweisen Vorgehen eines einzelnen von ihnen geschützt werden“.


16      Diesbezüglich ist die Hervorhebung des vorlegenden Gerichts bedeutsam, wonach die in Rede stehende Klage „Auswirkungen auf die Insolvenzmasse“ habe, und zwar insbesondere deshalb, weil es sich um eine Klage handele, die darauf abziele, eine Gesamtverteilung der Vermögenswerte zu umgehen oder eine Schmälerung der zu verteilenden Masse zu erreichen.


17      Wie ING in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, könnte Oilchart, wenn die belgischen Gerichte ihrer Klage stattgäben, von ING eine Zahlung erlangen, wodurch die vom niederländischen Insolvenzverfahren erfasste Forderung aus der in den Niederlanden belegenen Insolvenzmasse entfernt würde.


18      Siehe Art. 16 Abs. 1 der Insolvenzverordnung. Der Gerichtshof hat den Standpunkt vertreten, dass die in dieser Bestimmung niedergelegte Vorrangregel auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht. Tatsächlich ist es dieses gegenseitige Vertrauen, das es nicht nur ermöglicht hat, im Anwendungsbereich der Insolvenzverordnung ein für alle Gerichte verbindliches Zuständigkeitssystem zu schaffen, sondern auch, auf die innerstaatlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Anerkennung und die Vollstreckbarerklärung zugunsten eines vereinfachten Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens für im Rahmen von Insolvenzverfahren ergangene Entscheidungen zu verzichten (vgl. Urteil vom 5. Juli 2012, ERSTE Bank Hungary, C‑527/10, EU:C:2012:417, Rn. 34).


19      Vgl. entsprechend Art. 29 Abs. 1 der Brüssel‑Ia-Verordnung. Vgl. beispielsweise auch die Richtlinie 2019/1023, die in ihrem Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 eine „Aussetzung von Einzelvollstreckungsmaßnahmen“ definiert als „das von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde gewährte oder kraft Gesetzes geltende vorübergehende Ruhen des Rechts eines Gläubigers, eine Forderung gegen einen Schuldner und, wenn im nationalen Recht vorgesehen, gegen einen Dritten, der Sicherheiten geleistet hat, im Rahmen eines Gerichts‑, Verwaltungs- oder anderen Verfahrens durchzusetzen, oder des Rechts, die Vermögenswerte oder das Unternehmen des Schuldners zu pfänden oder außergerichtlich zu verwerten“.


20      Der „Grundsatz der Einheitlichkeit“ besagt, dass nur ein einziges Insolvenzverfahren stattfindet. Der „Grundsatz der Universalität“ besagt, dass dieses Verfahren das gesamte Vermögen des Schuldners erfasst, wo auch immer dies belegen sein mag. Diesbezüglich möchte ich darauf hinweisen, dass die Insolvenzverordnung in ihrem Art. 3 zwischen dem (universellen) Hauptinsolvenzverfahren  und dem (territorialen) Sekundärinsolvenzverfahren unterscheidet (vgl. Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC, C‑341/04, EU:C:2006:281, Rn. 28). Vgl. auch Urteil vom 14. November 2018, Wiemer & Trachte (C‑296/17, EU:C:2018:902, Rn. 40).


21      Hierzu ist festzuhalten, dass „[d]ie Verordnung … die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, [gestattet]“, und bestimmt, dass „[d]ieses Verfahren … universale Geltung mit dem Ziel [hat], das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen“. Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Insolvenzverordnung. Nach Auffassung des Generalanwalts Szpunar (Schlussanträge in der Rechtssache Senior Home, C‑195/15, EU:C:2016:369, Nr. 21) entspricht die Insolvenzverordnung nicht einem auf den Grundsatz der Universalität der Insolvenzverfahren gestützten Modell, sondern einem Modell der abgeschwächten Universalität (auch „korrigierte Universalität“ genannt), da die Verordnung von einem Universalmodell ausgeht, aber eine Reihe besonderer Vorschriften vorsieht, die als Ausnahmeregelungen fungieren und die Universalität des Modells korrigieren oder abschwächen.


22      Siehe oben, Nr. 31.


23      Zum Beispiel hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 16. Januar 2014, Schmid (C‑328/12, EU:C:2014:6, Rn. 39), die Auffassung vertreten, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, für eine Insolvenzanfechtungsklage gegen einen Anfechtungsgegner zuständig sind, der seinen Wohnsitz nicht im Gebiet eines Mitgliedstaats hat. Vgl. auch den Erläuternden Bericht von M. Virgós und E. Schmit zum Übereinkommen über Insolvenzverfahren vom 3. Mai 1996, Dokument des Rates der Europäischen Union 6500/96, DRS 8 (CFC), Nr. 3.


24      Aus den Erwägungsgründen 2 und 8 der Verordnung Nr. 1346/2000 ergibt sich, dass sie effiziente und wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren ermöglichen und die Effizienz und Wirksamkeit solcher Verfahren verbessern soll.


25      Urteil vom 12. Februar 2009 (C‑339/07, EU:C:2009:83, Rn. 22).


26      Vgl. auch Erwägungsgründe 8 und 16 der Insolvenzverordnung.


27      Vgl. in diesem Sinne betreffend die Verwirklichung des Ziels effizienter und wirksamer grenzüberschreitender Insolvenzverfahren Urteil vom 22. November 2012, Bank Handlowy and Adamiak (C‑116/11, EU:C:2012:739, Rn. 62).


28      Vgl. Art. 4 Abs. 1 und Art. 16 der Insolvenzverordnung.


29      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof auf die Geltung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens hingewiesen, wonach die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die Entscheidung zur Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens anzuerkennen haben, ohne die vom ersten Gericht hinsichtlich seiner Zuständigkeit angestellte Beurteilung überprüfen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC, C‑341/04, EU:C:2006:281, Rn. 42).


30      Urteil vom 18. September 2019, Riel (C‑47/18, EU:C:2019:754, Rn. 42).


31      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2022, London Steam-Ship Owners’ Mutual Insurance Association (C‑700/20, EU:C:2022:488, Rn. 43 und 69). Ich möchte hinzufügen, dass in Anbetracht dessen, dass der Gerichtshof die Auffassung vertreten hat, dass die Lis-pendens-Regel für die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 44/2001 enthaltene Ausnahme gilt, dieselbe Schlussfolgerung mutatis mutandis in Bezug auf die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Brüssel‑Ia-Verordnung enthaltene Ausnahme gezogen werden sollte.


32      Siehe oben, Nrn. 34 bis 37.


33      Vgl. entsprechend Urteil vom 1. März 2005, Owusu  (C‑281/02, EU:C:2005:120, Rn. 31 bis 42), in dem der Gerichtshof die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Rechtsschutzes der in der Europäischen Union ansässigen Personen und der einheitlichen Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften hervorgehoben hat, indem er daran erinnerte, dass „das Brüsseler Übereinkommen … nämlich … unter Ausschluss abweichender nationaler Vorschriften gemeinsame Zuständigkeitsregeln [festlegen soll]“. Zur einheitlichen Anwendung der Insolvenzverordnung vgl. Urteil vom 16. April 2015, Lutz (C‑557/13, EU:C:2015:227, Rn. 48).


34      Urteil vom 22. Februar 1979 (133/78, EU:C:1979:49).


35      Urteil vom 12. Februar 2009 (C‑339/07, EU:C:2009:83, Rn. 20).


36      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. September 2019, Riel (C‑47/18, EU:C:2019:754, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


37      Es ist darauf hinzuweisen, dass dieser Ansatz bestätigt wurde, als diese Kriterien in Art. 6 der Verordnung 2015/848 kodifiziert wurden, wonach die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, für alle Klagen zuständig sind, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen.


38      Vgl. auch Urteil vom 10. September 2009, German Graphics Graphische Maschinen (C‑292/08, EU:C:2009:544, Rn. 23).


39      Garcimartin, F., „Insolvency-Related Judgments and Vis Attractiva Concursus: The EU Approach“, Insolvency Intelligence 1 (2018). Vgl. den Bericht von M. Virgós und E. Schmit, angeführt in Fn. 23, Nr. 77.


40      Vgl. die Kritik des Generalanwalts Bobek an der Anwendung dieser Kriterien in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache NK  (C‑535/17, EU:C:2018:850, Nrn. 44 bis 53).


41      Vgl. beispielsweise Urteile vom 4. Dezember 2019, Tiger (C‑493/18, EU:C:2019:1046), und vom 20. Dezember 2017, Valach u. a. (C‑649/16, EU:C:2017:986).


42      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache NK  (C‑535/17, EU:C:2018:850, Nrn. 44 bis 46).


43      Vgl. zum Beispiel Urteil vom 18. September 2019, Riel (C‑47/18, EU:C:2019:754, Rn. 37).


44      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2019, CeDe Group (C‑198/18, EU:C:2019:1001, Rn. 31 und 32).


45      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Tünkers France und Tünkers Maschinenbau (C‑641/16, EU:C:2017:847, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).


46      Ebd. Vgl. auch Urteile vom 6. Februar 2019, NK (C‑535/17, EU:C:2019:96, Rn. 28), und vom 18. September 2019, Riel (C‑47/18, EU:C:2019:754, Rn. 36).


47      Vgl. Urteil vom 4. September 2014, Nickel & Goeldner Spedition (C‑157/13, EU:C:2014:2145, Rn. 26).


48      Vgl. Urteil vom 18. September 2019 (C‑47/18, EU:C:2019:754, Rn. 37).


49      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 2019 (C‑493/18, EU:C:2019:1046, Rn. 30 und 31).


50      Vgl. Urteil vom 4. September 2014 (C‑157/13, EU:C:2014:2145, Rn. 28). Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt: „Die Tatsache, dass die Zahlungsklage nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Dienstleistungserbringers von dem im Rahmen dieses Verfahrens bestimmten Insolvenzverwalter erhoben wurde und dass dieser im Interesse der Gläubiger handelt, führt nicht zu einer wesentlichen Änderung der Art der geltend gemachten Forderung, die materiell-rechtlich weiterhin unveränderten Regeln unterworfen ist.“


51      Vgl. Urteil vom 6. Februar 2019, NK (C‑535/17, EU:C:2019:96, Rn. 35 und 36). Vgl. auch Urteil vom 10. September 2009, German Graphics Graphische Maschinen (C‑292/08, EU:C:2009:544, Rn. 31). In letzterem Urteil blieb jedoch offen, ob sich das Kriterium der „Unabhängigkeit“ auf das erste oder das zweite Kriterium bezieht.


52      Siehe oben, Nr. 29.


53      Siehe oben, Nr. 35.


54      Urteil vom 18. September 2019 (C‑47/18, EU:C:2019:754, Rn. 33 bis 40).


55      Urteil vom 4. Dezember 2014 (C‑295/13, EU:C:2014:2410).


56      Umgekehrt hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 6. Februar 2019, NK (C‑535/17, EU:C:2019:96), festgestellt, dass der Umstand, dass eine solche Klage auch von den Gläubigern individuell erhoben werden kann, sei es vor, während oder nach dem Konkursverfahren, diese Klage in den Anwendungsbereich der Brüssel‑Ia-Verordnung fallen lässt. Warum der Gerichtshof dies in der Rechtssache NK,  nicht aber in seinem Urteil vom 4. Dezember 2014, H (C‑295/13, EU:C:2014:2410), für erheblich hielt, ist nicht ersichtlich. Vgl. in diesem Sinne Bork, R., und van Zwieten, K. (Hrsg.), „Jurisdiction for actions which derive directly from the insolvency proceedings and are closely linked with them“, in Bork, R., und van Zwieten, K. (Hrsg.), Commentary on the European Insolvency Regulation, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford, 2022, S. 221 bis 243; Online-Ausgabe, Oxford Academic, 19. Mai 2022).


57      Ich stimme dem Vorbringen der Kommission, dass die in Rede stehende Klage als vom Insolvenzverfahren losgelöst anzusehen sei, weil sie sich materiell-rechtlich auf Vorschriften des allgemeinen Rechts stütze, daher nicht zu.


58      Siehe oben, Nr. 29.


59      Siehe oben, Nr. 35.


60      Gemäß Art. 4 Abs. 1 der Insolvenzverordnung gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen grundsätzlich das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird. In der vorliegenden Rechtssache gilt für die Wirkungen der Insolvenz niederländisches Recht.


61      Vgl. Urteile vom 2. Juli 2009, SCT Industri  (C‑111/08, EU:C:2009:419, Rn. 22 bis 25), vom 9. November 2017, Tünkers France und Tünkers Maschinenbau (C‑641/16, EU:C:2017:847, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 6. Februar 2019, NK (C‑535/17, EU:C:2019:96, Rn. 30).


62      Urteil vom 10. September 2009 (EU:C:2009:544, Rn. 30 und 31).


63      Urteil vom 4. Oktober 2018 (C‑337/17, EU:C:2018:805, Rn. 32).


64      Urteil vom 19. April 2012 (C‑213/10, EU:C:2012:215). Der Gerichtshof hat sogar eingeräumt, dass „[sich] [z]war … nicht bestreiten [lässt], dass der Anspruch, auf den die Klägerin des Ausgangsverfahrens ihre Klage stützt, mit der Insolvenz der Schuldnerin zusammenhängt; er geht nämlich auf das Insolvenzanfechtungsrecht zurück, das dem Insolvenzverwalter nach den nationalen Rechtsvorschriften über das Insolvenzverfahren zusteht“.


65      Vgl. Rn. 42 dieses Urteils.


66      Vgl. Urteil vom 19. April 2012, F‑Tex (C‑213/10, EU:C:2012:215, Rn. 41 bis 47).


67      Urteil vom 20. Dezember 2017, Valach u. a. (C‑649/16, EU:C:2017:986, Rn. 38).


68      Urteil vom 2. Juli 2009 (C‑111/08, EU:C:2009:419, Rn. 26 bis 29).


69      Siehe oben, Nr. 29.


70      Siehe oben, Nr. 35.


71      Siehe oben, Nr. 34.


72      Vgl. zweiter Erwägungsgrund der Insolvenzverordnung.


73      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2021, Consulmarketing (C‑652/19, EU:C:2021:208, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


74      Siehe oben, Nrn. 25 und 26.


75      Siehe oben, Nr. 23.


76      Urteil vom 16. Januar 2014, Schmid (C‑328/12, EU:C:2014:6, Rn. 27).


77      Siehe oben, Nr. 29.