Language of document : ECLI:EU:C:2017:176

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 7. März 2017(1)

Rechtssache C‑621/15

W,

X,

Y

gegen

Sanofi Pasteur MSD SNC,

Caisse primaire d'assurance maladie des Hauts-de-Seine,

Caisse Carpimko

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationsgerichtshof, Frankreich])

„Haftung für fehlerhafte Produkte – Arzneimittelhersteller – Impfung gegen Hepatitis B – An Multipler Sklerose erkrankter Geschädigter – Beweislast – Dem Kläger obliegender Beweis für den Schaden aufgrund eines Fehlers bei der Impfung und für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden – Art und Weise der Beweisführung – Vermutungsregelung – Fehlen eines wissenschaftlichen Konsenses – Ursächlicher Zusammenhang“






I –    Einführung

1.        1998 und 1999 wurde Herr W gegen Hepatitis B geimpft. Kurz darauf traten bei ihm Symptome einer Multiplen Sklerose auf. In den darauffolgenden Jahren verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Er verstarb im Jahr 2011.

2.        Familienangehörige von Herrn W (im Folgenden: Kassationsbeschwerdeführerinnen) erhoben Schadensersatzklage gegen die Sanofi Pasteur MSD SNC, die den Impfstoff hergestellt hatte und eine der drei Kassationsbeschwerdegegnerinnen des Ausgangsverfahrens ist (im Folgenden: Sanofi oder Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1). Die Kassationsbeschwerdeführerinnen machten geltend, die Multiple Sklerose des Verstorbenen sei durch den Impfstoff verursacht worden. Die Klage wurde jedoch mit der Begründung abgewiesen, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem Fehler des Impfstoffs und dem von Herrn W erlittenen Schaden bewiesen worden sei. Zum Beweis dieses Zusammenhangs hatten sich die Kassationsbeschwerdeführerinnen auf eine Regelung des französischen Rechts berufen, der zufolge ein ursächlicher Zusammenhang vermutet werden kann, wenn eine Krankheit kurz nach der Verabreichung des als fehlerhaft gerügten Arzneimittels auftritt und es weder beim Betroffenen selbst noch in seiner Familie einschlägige Vorerkrankungen gibt.

3.        Die Kassationsbeschwerdeführerinnen machten die Sache schließlich bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) anhängig, die nunmehr den Gerichtshof nach der Auslegung der EU-Produkthaftungsrichtline(2) (im Folgenden: Richtlinie) fragt. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob i) die vorstehend beschriebenen Vermutungen mit der Richtlinie vereinbar sind, ii) die systematische Heranziehung solcher Vermutungen mit der Richtlinie vereinbar ist und iii) der Kläger im Fall der Unvereinbarkeit solcher Vermutungen mit der Richtlinie den wissenschaftlichen Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs erbringen muss.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Richtlinie 85/374

4.        Die Richtlinie harmonisiert bestimmte die Produkthaftung betreffende Regelungen u. a. durch folgende Bestimmungen:

„Artikel 4

Der Geschädigte hat den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen.“

Artikel 6

(1) Ein Produkt ist fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere:

a)      der Darbietung des Produkts,

b)      des Gebrauchs des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann,

c)      des Zeitpunkts, zu dem das Produkt in den Verkehr gebracht wurde,

zu erwarten berechtigt ist.

Artikel 7

Der Hersteller haftet aufgrund dieser Richtlinie nicht, wenn er beweist,

e)      dass der vorhandene Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik zu dem Zeitpunkt, zu dem er das betreffende Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte;

…“

B –    Französisches Recht

5.        Zur maßgeblichen Zeit haftete nach Art. 1386-1 (jetzt Art. 1245‑8) des französischen Zivilgesetzbuchs der Hersteller für den durch seine fehlerhaften Produkte verursachten Schaden unabhängig davon, ob ein Vertragsverhältnis mit dem Geschädigten besteht. Gemäß Art. 1386-9 hat der Kläger den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen.

6.        Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), dass bezüglich der gesetzlichen Haftung der Arzneimittelhersteller für die von ihnen hergestellten Impfstoffe der Beweis für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Fehler des Produkts und dem Schaden des Betroffenen aus „ernsthaften, klaren und übereinstimmenden Vermutungen“(3) hergeleitet werden kann.

7.        Nach der Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) kann ein Richter feststellen, dass der kurze Zeitraum zwischen der Injektion des Hepatitis-B-Impfstoffs und dem Auftreten erster Symptome einer Multiplen Sklerose in Verbindung mit dem Fehlen jeglicher persönlicher oder familiärer Vorbelastung in Bezug auf die Erkrankung solche ernsthaften, klaren und übereinstimmenden Vermutungen begründen. Das kann auch dann der Fall sein, wenn die medizinische Forschung im Allgemeinen nicht das Vorliegen eines solchen Zusammenhangs bestätigt(4).

III – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

8.        In der Zeit von Dezember 1998 bis Juli 1999 erhielt Herr W drei Injektionen eines von Sanofi hergestellten Hepatitis-B-Impfstoffs. Ab August 1999 traten bei ihm verschiedene Beschwerden auf. Im November 2000 wurde bei Herrn W Multiple Sklerose diagnostiziert. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Er litt zu einem Grad von 90 % an funktionellen Schädigungen und benötigte zum Zeitpunkt seines Todes am 30. Oktober 2011 Betreuung rund um die Uhr.

9.        2006 nahmen Herr W, seine Ehegattin und seine beiden Töchter im Klageweg Sanofi aus gesetzlicher Haftung wegen des ihm durch den Impfstoff zugefügten Schadens in Anspruch. Sie machten geltend, der kurze Zeitraum zwischen der Impfstoffinjektion und dem Auftreten erster Symptome einer Multiplen Sklerose in Verbindung mit dem Fehlen jeglicher persönlicher oder familiärer Vorbelastung in Bezug auf eine solche Erkrankung begründeten ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutungen für das Vorliegen eines Fehlers des Impfstoffs sowie eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen diesem Fehler und der Krankheit von Herrn W.

10.      Das Tribunal de Grande Instance de Nanterre (Regionalgericht Nanterre, Frankreich) gab der Klage in erster Instanz statt. Dieses Urteil wurde jedoch von der Cour d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles, Frankreich) aufgehoben. Das letztgenannte Gericht entschied, dass die von den Kassationsbeschwerdeführerinnen geltend gemachten Umstände zum Bestehen einer Vermutung für einen Ursachenzusammenhang führten, jedoch für den Nachweis eines Fehlers des Impfstoffs nicht hinreichten. Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) hob das Urteil der Court d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles) auf und entschied, dass diese ihre Entscheidung über das Fehlen von Mängeln des Impfstoffs nicht rechtlich begründet habe.

11.      Die Sache wurde daher an die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) verwiesen, die ihrerseits das erstinstanzliche Urteil des Tribunal de Grande Instance de Nanterre (Regionalgericht Nanterre) aufhob. Die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) entschied, dass der kurze Zeitraum zwischen der Injektion des Impfstoffs und dem Auftreten erster Symptome einer Multiplen Sklerose in Verbindung mit dem Fehlen jeglicher persönlicher oder familiärer Vorbelastung in Bezug auf eine solche Erkrankung keine ernsthaften, klaren und übereinstimmenden Vermutungen für das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Impfstoff und der Krankheit von Herrn W begründeten.

12.      Insoweit führte die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) aus, dass kein wissenschaftlicher Konsens bestehe, auf den ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Hepatitis-B-Impfung und Multipler Sklerose gestützt werden könne. Nationale und internationale Gesundheitsbehörden hätten einen Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer (für die Multiple Sklerose) kennzeichnenden zentralen oder peripheren Demyelinisation und der Impfung gegen Hepatitis B verworfen. Außerdem sei die Ursache einer Multiplen Sklerose unbekannt. Schließlich verwies das Gericht auf epidemiologische Studien, denen zufolge 92 % bis 95 % der von Multipler Sklerose betroffenen Kranken keinerlei familiäre Vorbelastung aufwiesen.

13.      Das Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) wurde erneut bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) angefochten, die das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Erste Frage:

Steht Art. 4 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte auf dem Gebiet der Haftung von Arzneimittelherstellern für die von ihnen hergestellten Impfstoffe einer Art und Weise der Beweisführung entgegen, bei der das Tatsachengericht in Ausübung seiner Befugnis zur freien Würdigung des Sachverhalts feststellen kann, dass die Tatsachen, die der Kläger geltend macht, ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutungen begründen, die den Fehler des Impfstoffs und den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und der Krankheit beweisen, ungeachtet der Feststellung, dass die medizinische Forschung keinen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und dem Auftreten der Krankheit herstellt?

Zweite Frage:

Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Steht Art. 4 der Richtlinie 85/374 einer Vermutungsregelung entgegen, wonach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Fehler, der einem Impfstoff zugeschrieben wird, und dem Schaden, den der Geschädigte erlitten hat, stets als bewiesen anzusehen ist, wenn bestimmte Hinweise auf einen Ursachenzusammenhang vorliegen?

Dritte Frage:

Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Ist Art. 4 der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen, dass der dem Geschädigten obliegende Beweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Fehler, der dem Impfstoff zugeschrieben wird, und dem Schaden, den der Geschädigte erlitten hat, nur dann als erbracht gelten kann, wenn dieser Zusammenhang wissenschaftlich belegt ist?

14.      Die Kassationsbeschwerdeführerinnen und die Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 sowie die deutsche, die französische und die tschechische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der deutschen Regierung haben die Beteiligten, die am schriftlichen Verfahren teilgenommen haben, auch in der Sitzung vom 23. November 2016 mündlich verhandelt.

IV – Würdigung

A –    Einführung

15.      Nach Art. 4 der Richtlinie obliegt es in Produkthaftungsfällen dem Geschädigten, den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Schaden und Fehler zu beweisen. Im vorliegenden Fall geht es um die unionsrechtlichen Anforderungen und Voraussetzungen für die Erbringung dieses Beweises.

16.      Vorab weise ich darauf hin, dass durch die Richtlinie der Beweismaßstab und die Vorschriften darüber, welche Beweise diesem Maßstab genügen, nicht harmonisiert werden. Grundsätzlich handelt es sich hierbei um Bereiche, die im nationalen Recht insbesondere unter Berücksichtigung der sich aus den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität ergebenden Anforderungen zu regeln sind. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, aus diesen allgemeinen Grundsätzen und auch nicht aus einer Richtlinie, in der lediglich die Grundregeln für die Feststellung der Haftung festgelegt sind, detaillierte Regeln für die Beibringung von Beweismitteln für gegebenenfalls Millionen verschiedener Produkte herzuleiten.

17.      Allerdings setzt das Unionsrecht hinsichtlich der Beibringung von Beweismitteln einige Grenzen, die ich nachstehend näher darstellen werde, damit der Gerichtshof dem nationalen Gericht Hinweise für die Entscheidung der Rechtssache geben kann.

18.      Bevor ich mich mit den Fragen des vorlegenden Gerichts im Einzelnen befasse (D), werde ich zuerst einige allgemeine Ausführungen zu den in der Richtlinie vorgesehenen Anforderungen an die Beibringung von Beweismitteln (B) und eine Bemerkung zur Terminologie machen (C).

B –    Anforderungen der Richtlinie an die Beibringung von Beweismitteln

19.      Gemäß der Richtlinie obliegt es dem Geschädigten, den Fehler, den Schaden und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen(5). Die verfahrensrechtlichen Folgen dieser Regel liegen auf der Hand – erbringt der Geschädigte diesen Beweis nicht, muss sein Anspruch zurückgewiesen werden(6).

20.      Wie der Gerichtshof jedoch bereits ausgeführt hat, soll die Richtlinie den Bereich der Haftung für fehlerhafte Produkte nicht über die von ihr geregelten Punkte hinaus abschließend harmonisieren(7). Insbesondere harmonisiert die Richtlinie nicht die Regeln für die Beibringung von Beweismitteln, anhand deren bestimmt wird, wie der Geschädigte den ihm obliegenden Beweis erbringen kann(8). Bezogen auf den vorliegenden Fall enthält die Richtlinie keine konkrete Aufzählung der Beweismittel, die der Geschädigte dem nationalen Gericht vorzulegen hat. Die Richtlinie regelt auch weder die Zulässigkeit der vorgelegten Beweismittel und das ihnen zuzumessende Gewicht noch die Frage, welche Schlüsse daraus gezogen werden können oder müssen(9).

21.      Somit ist es Sache des nationalen Rechtssystems jedes einzelnen Mitgliedstaats, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie zur praktischen Umsetzung der Richtlinie detaillierte Regeln für die Beibringung von Beweismitteln festzulegen(10).

22.      Außerdem ist angesichts des ganz unterschiedlichen Charakters der Produkte, die von der Richtlinie erfasst werden, der von ihnen möglicherweise verursachten Schäden und der Art der möglichen Verursachung der Schäden zu erwarten, dass diese detaillierten Regeln nicht in allen Punkten identisch sind. Daher muss es meines Erachtens in den durch Art. 4 der Richtlinie gezogenen Grenzen den Mitgliedstaaten freistehen, angemessen zu differenzieren und einschlägige Beweisregeln je nach Art der betreffenden Produkte anzupassen.

23.      Ferner hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Festlegung der Regeln für die Beibringung von Beweismitteln das Ziel verfolgen können, die aus einem unterschiedlichen Informationsstand resultierenden Ungleichgewichte zwischen dem Verbraucher und dem Hersteller zu beheben(11). Diese Möglichkeit ist auch Ausdruck der allgemeinen unionsrechtlichen Erfordernisse des Zugangs zu den Gerichten sowie des Verbraucherschutzes(12). In Verbindung mit den Ausführungen in der vorangegangenen Nummer liegt auf der Hand, dass ein solcher unterschiedlicher Informationsstand vor allem in Bereichen wie etwa der Haftung pharmazeutischer Unternehmen besonders ausgeprägt ist.

24.      Allerdings gilt die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Regeln für die Beibringung von Beweismitteln in den von der Richtlinie erfassten Fällen nicht unbegrenzt. Die nationalen Regeln für die Beibringung von Beweismitteln müssen sich im Gesamtergebnis so auswirken, dass die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt werden(13). Anders ausgedrückt muss sich die nationale Durchführung der Richtlinie im Allgemeinen und des Art. 4 im Besonderen in den durch diese Bestimmungen gezogenen Grenzen halten und gleichzeitig die wirksame Umsetzung der genannten Vorschriften in das nationale Rechtssystem gewährleisten.

25.      Insbesondere wären nationale Regeln für die Beibringung von Beweismitteln, die die nationalen Gerichte bei der Wahrnehmung ihrer Befugnis zur Würdigung der einschlägigen Beweise behindern(14) oder nicht streng genug sind, so dass es de facto zu einer Beweislastumkehr kommt, mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar(15).

26.      Im vorliegenden Fall steht in erster Linie die substanzielle Frage im Mittelpunkt, ob die nationalen Regeln für die Beibringung von Beweismitteln, die bei der Durchführung der Richtlinie angewendet werden, diesem Grundsatz genügen.

27.      Bevor ich mich zu dem Vorstehenden allgemein äußere, möchte ich zunächst einige Vorbemerkungen zur Terminologie und insbesondere zum Begriff „Vermutung“ machen.

C –    Vermutung

28.      Die genaue Bedeutung des Begriffs „présomption“ (in der originalen französischen Sprachfassung), die für den vorliegenden Fall von zentraler Bedeutung ist, wurde in der mündlichen Verhandlung eingehend diskutiert. Dabei stellte sich heraus, dass auf den ersten Blick identisch klingende (oder zumindest identisch übersetzte) Begriffe in den einzelnen nationalen Rechtssystemen recht unterschiedlich verstanden und sogar unterschiedlich angewendet werden. Wie häufig in einem mehrsprachigen und multikulturellen unionsrechtlichen System kann ein augenscheinlich gleichlautender Begriff unterschiedliche Bedeutungen haben(16).

29.      So lässt sich nach meinem Verständnis „présomption“ im französischen Recht als Methode der rechtlichen Beweisführung definieren, wonach eine nicht erwiesene Tatsache aus einer anderen Tatsache, die bewiesen worden ist, gefolgert wird. Eine „Tatsachenvermutung“ liegt vor, wenn es dem Richter freisteht, sich im Einzelfall auf eine solche auf Schlussfolgerungen beruhende Beweisführung zu stützen. Eine allgemein geltende „gesetzliche Vermutung“ liegt vor, wenn der Gesetzgeber eine nicht erwiesene Tatsache aus einer anderen Tatsache folgert, die bewiesen worden ist. Eine gesetzliche Vermutung wird als „einfache“ gesetzliche Vermutung bezeichnet, wenn sie durch Beweis des Gegenteils widerlegt werden kann. Ist eine Widerlegung nicht zulässig, gilt die gesetzliche Vermutung als „unwiderleglich“ bzw. als „absolut“(17).

30.      Ein etwas anderer, wenngleich ähnlicher Ansatz gilt im deutschen Recht(18). Demgegenüber ist das nachstehende Zitat zum Gebrauch dieses Begriffs im englischen Recht ein Indiz dafür, dass einer Transliteration des französischen Begriffs „présomption“ in den englischen Begriff „presumption“ klare Grenzen gesetzt sind: „In bestimmten Fällen kann das Gericht Schlussfolgerungen aus den von einer Partei bewiesenen Tatsachen ziehen. … Dabei handelt es sich um nichts anderes als um übliche Beispiele für Indizienbeweise. Es ist daher irrig, sie als Vermutungen im engeren Sinne zu behandeln, da sie zu keinem Zeitpunkt die Beweislast auf denjenigen verlagern, gegen den die Beweise vorgebracht werden … Sie werden häufig – unserer Ansicht nach fälschlicherweise – als ‚Vermutungen‘ bezeichnet.“(19)

31.      Das vorlegende Gericht verwendet den Begriff „présomption“ in seinem Vorabentscheidungsersuchen. Dieser Begriff wurde in diesem Sinne auch in anderen Sprachfassungen der Vorlagefragen übersetzt und im Amtsblatt veröffentlicht, wobei auch die Parteien und die Streithelfer in ihren dem Gerichtshof vorgetragenen Erklärungen diesen Begriff verwenden. Um im gegenwärtigen Verfahrensstadium nicht noch größere terminologische Verwirrung zu stiften, werde ich bei diesem Begriff bleiben. Der Klarheit halber lege ich nachstehend jedoch dar, in welchem Sinne ich diesen Begriff verwende. Er entspricht meinem Verständnis der Wirkung des Begriffs im französischen Recht, wie von den Parteien in der mündlichen Verhandlung sachdienlich ausgeführt wurde.

32.      Somit werde ich in den vorliegenden Schlussanträgen den Begriff „Vermutung“ in Bezug auf eine Situation benutzen, in der eine Tatsache oder ein Tatsachenkomplex (A) feststeht und daraus auf die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer anderen Tatsache oder eines anderen Tatsachenkomplexes geschlossen wird (B). Was die praktische Handhabung betrifft, dient der Begriff „Vermutung“ hier im Wesentlichen zur Bezeichnung einer Form von Indizienbeweis oder mittelbarer Beweisführung.

33.      „Vermutungen“ im oben beschriebenen Sinne von Indizienbeweisen findet man recht häufig. Sie sind im Allgemeinen Ausdruck zurückliegender Erfahrungswerte darüber, wie sich das Geschehen normalerweise wahrscheinlich entwickelt, die als Faustregeln gelten, um Gerichtsverfahren zu erleichtern und zu beschleunigen. Sie lassen sich gewissermaßen einfach als ein Mittel zur Beschreibung des Vorgangs bezeichnen, dem Richter zu der Erkenntnis zu verhelfen, welche der prozessführenden Parteien sich durchsetzen sollte. Der Kläger legt dem Richter einige Tatsachenbeweise vor, aus denen der Richter bestimmte Schlussfolgerungen bezüglich der Wahrscheinlichkeit anderer, damit zusammenhängender Tatsachen zieht. In diesem Stadium erscheint die Argumentation des Klägers stichhaltiger. Der Beklagte hält dem weitere belastbare Beweismittel entgegen, so dass sich die Waage wieder zu seinen Gunsten neigt(20). In seiner Erwiderung muss der Kläger etwas noch Überzeugenderes vortragen, andernfalls läuft er Gefahr, den Prozess zu verlieren(21).

34.      Für die Zwecke meiner späteren Würdigung und wiederum in Anlehnung an das französische Recht unterscheide ich hier zwischen „gesetzlichen Vermutungen“ und „Tatsachenvermutungen“. Ich werde den Begriff „gesetzliche Vermutung“ zur Bezeichnung einer Vermutung verwenden, die der Richter rechtlich zwingend anerkennen muss. Mit anderen Worten, um das vorstehende Beispiel heranzuziehen: Der Richter muss die Tatsache B aus der Tatsache A folgern, so dass insoweit seine freie Beweisführung in gewisser Weise eingeschränkt ist. Den Begriff „Tatsachenvermutung“ hingegen benutze ich hier zur Bezeichnung einer Situation, in der – in unserem Beispiel – der Richter die Möglichkeit hat, B aus A zu schließen, allerdings nur im Rahmen der freien Beweiswürdigung.

35.      Eine zweite für diese Prüfung wichtige Unterscheidung betrifft diejenige zwischen widerleglichen und unwiderleglichen Vermutungen. Um noch einmal das vorstehende Beispiel aufzugreifen: Meines Erachtens ist eine Vermutung dann unwiderleglich, wenn es der Gegenpartei nicht gestattet ist, die Vermutung zu entkräften, und zwar unabhängig davon, welche Beweismittel sie dem Gericht vorlegt. Demgegenüber ist eine Vermutung widerleglich, wenn die Gegenpartei weitere Beweismittel vorlegen darf, die den Richter im Rahmen der Gesamtwürdigung zu dem Ergebnis gelangen lassen, dass die Vermutung nicht haltbar ist.

36.      Unter Berücksichtigung dieser terminologischen Klarstellung wende ich mich nunmehr den konkreten Fragen des nationalen Gerichts zu.

D –    Fragen des nationalen Gerichts

37.      Steht Art. 4 der Richtlinie einer Regelung entgegen, wonach bestimmte Tatsachen die Tatsachenvermutung begründen, dass ein Impfstoff fehlerhaft ist und eine Krankheit verursacht hat, selbst wenn die medizinische Forschung allgemein keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und der Krankheit herstellt? Ändert sich die Antwort auf diese Frage, wenn es sich um eine gesetzliche Vermutung im Gegensatz zu einer Tatsachenvermutung handelt? Muss der ursächliche Zusammenhang zwischen Impfstoff und Krankheit durch wissenschaftliche Beweise belegt werden? So lauten im Wesentlichen die drei Fragen des nationalen Gerichts.

38.      Bei Verwendung der oben (in Abschnitt C) entwickelten Terminologie bezieht sich die erste Frage meines Erachtens auf eine „widerlegliche Tatsachenvermutung“. Der über die Rechtssache entscheidende Richter ist daher nicht zur Anwendung der Vermutung verpflichtet, die aber selbst dann, wenn er dies tut, lediglich Teil seiner Gesamtwürdigung der Tatsachen bildet. Dem Beklagten steht daher frei, zur Widerlegung der Vermutung weitere Beweismittel vorzulegen. Solche Beweismittel können dergestalt sein, dass sie die Tatsachengrundlage der Vermutung unmittelbar entkräften oder beliebige andere Elemente enthalten, aufgrund deren der Richter zu der Überzeugung gelangt, dass die Klage abzuweisen ist(22).

39.      Meiner Ansicht nach steht die Richtlinie solchen Tatsachenvermutungen grundsätzlich nicht entgegen. Sie gebietet auch nicht, dass der medizinischen Forschung oder ganz allgemein der wissenschaftlichen Forschung besonderes Gewicht beigemessen wird.

40.      Wie oben in Nr. 20 dargelegt, regelt Art. 4 der Richtlinie die Beweislast, nicht jedoch die Beweisregeln, die Art und Weise der Beweisführung oder den Beweismaßstab. Insbesondere schreibt die Bestimmung nicht generell vor, welches Gewicht bestimmten Beweismitteln zuzumessen ist, und regelt auch nicht die Anwendung von Vermutungen.

41.      Ich halte es für sachdienlich, hier zu Prüfungszwecken drei Gesichtspunkte der ersten Frage zu unterscheiden, nämlich 1. Bedeutung der medizinischen Forschung, 2. Anwendung von Vermutungen und 3. Beweis der Kausalität im Gegensatz zum Beweis des Fehlers.

1.      Medizinische Forschung

42.      Die Richtlinie verlangt den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Fehler und Schaden. Sie erfordert jedoch nicht, dass der ursächliche Zusammenhang durch – medizinische oder sonstige – Beweismittel bestimmter Art nachgewiesen wird. Die Richtlinie bestimmt auch nicht, dass das Fehlen medizinischer Forschung zum Beleg eines ursächlichen Zusammenhangs abschließender Beweis dafür ist, dass kein Fehler oder kein ursächlicher Zusammenhang vorliegt. Dies ist nicht verwunderlich angesichts des sehr allgemeinen Charakters der Richtlinie, die für die Produkthaftung in einer enormen Anzahl von Sektoren gilt(23), unter denen es viele gibt, für die die medizinische Forschung schlicht ohne Bedeutung ist.

43.      Dennoch lassen sich einige allgemeine Bemerkungen über die Anforderungen an die Kläger, Beweismittel konkret in Form medizinischer Forschung vorzulegen, und über die sonstige Bedeutung solcher Beweismittel machen. Unter a) werde ich nachstehend prüfen, ob medizinische Forschung als Voraussetzung für das Durchgreifen eines Anspruchs verlangt werden kann. Unter b) werde ich untersuchen, ob medizinische Forschung als Voraussetzung für das Eingreifen einer Tatsachenvermutung verlangt werden kann.

a)      Medizinische Forschung als Voraussetzung für das Durchgreifen eines Anspruchs

44.      Ein Erfordernis, wonach der Beweis für das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs im Sinne von Art. 4 der Richtlinie spezifisch durch medizinische Forschung erbracht werden muss, wäre meines Erachtens aus folgenden Gründen mit der genannten Bestimmung und dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar.

45.      Erstens könnte eine solche spezifische Beweisanforderung den Haftungsnachweis in Fällen, in denen es keine medizinische Forschung gibt, praktisch unmöglich machen, und zwar ungeachtet der Art oder der Qualität anderweitiger Beweismittel. In solchen Fällen würde der Richtlinie ihre Wirksamkeit genommen und die freie Beweiswürdigung des nationalen Gerichts unzulässig eingeschränkt.

46.      Zweitens ist die richterliche Kausalitätsbewertung im Einzelfall von der wissenschaftlichen Bewertung der (potenziellen) Kausalität im Allgemeinen zu unterscheiden. Die letztgenannte Bewertung mag für die erstgenannte relevant sein und umgekehrt, aber die beiden dürfen nicht miteinander verwechselt werden(24). Nach Art. 4 der Richtlinie hat der Kläger zu beweisen, dass der ihm verabreichte Stoff den Schaden in seinem konkreten Fall verursacht hat. Die Bestimmung verlangt von ihm nicht den Nachweis, dass nach der allgemeinen medizinischen Forschung die potenzielle Schädlichkeit des Stoffes generell belegt ist. Deshalb ginge eine systematische Postulierung einer solchen zusätzlichen Anforderung weit über Art. 4 der Richtlinie hinaus(25).

47.      Drittens würde eine Vorschrift, wonach ein Hersteller nicht haftet, wenn keine einen ursächlichen Zusammenhang belegende medizinische Forschung vorliegt, ebenfalls eine Verletzung von Art. 4 der Richtlinie darstellen, da damit de facto die Liste der in Art. 7 der Richtlinie aufgeführten Ausnahmetatbestände erweitert würde. Art. 7 Buchst. e sieht ausdrücklich und konkret vor, dass die Haftung ausgeschlossen sein kann, wenn dargetan wird, dass zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts das Vorliegen eines Fehlers wissenschaftlich nicht belegt werden konnte(26). Hätte der Gesetzgeber weitere Beispiele für Sachverhalte aufnehmen wollen, bei denen aufgrund (des Fehlens) medizinischer Forschung die Haftung ausgeschlossen werden muss, dann hätte er dies auch getan.

48.      Meiner Meinung nach wäre es deshalb nach der Richtlinie und dem Effektivitätsgrundsatz problematisch, wenn das Fehlen allgemeiner medizinischer Forschung systematisch als schlüssiger Grund für die Zurückweisung des klägerischen Vorbringens angesehen würde.

49.      Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, dass bei Sachverhalten wie dem vorliegenden die medizinische Forschung irrelevant wäre. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wie oben ausgeführt, ist medizinische Forschung, selbst wenn sie belegt, dass ein Produkt im Allgemeinen potenziell bedenklich ist, nicht gleichzusetzen mit dem Beleg dafür, dass das Produkt den Schaden in einem Einzelfall verursacht hat.

50.      Beweisrechtlich wäre es jedoch verfehlt, solche Forschung unberücksichtigt zu lassen. Die systematische Zurückweisung von Beweismitteln in Form medizinischer Forschung als unbeachtlich wäre somit in Anbetracht der Richtlinie und des Effektivitätsgrundsatzes genauso problematisch wie die systematische Zurückweisung von Beweismitteln anderer Art in Fällen, in denen es keine medizinische Forschung gibt. In Form von medizinischer Forschung vorgelegte Beweismittel müssen angemessen geprüft werden.

51.      Abschließend bleibt zu diesem Punkt festzuhalten, dass die vorstehenden Ausführungen die meines Erachtens allgemeine Grundregel widerspiegeln, die sich aus dem Effektivitätsgrundsatz ergibt, nämlich die freie Beweiswürdigung des nationalen Richters bei der Anwendung des Unionsrechts(27). Wie unten erörtert, steht dem an sich nicht entgegen, wenn das nationale Recht bestimmten Beweismitteln besonderes Gewicht zumisst oder eine Vermutung an sie knüpft. Dies bedeutet jedoch, dass bei der Umsetzung von Art. 4 der Richtlinie nationale Beweisregeln die ernsthafte Gefahr eines Widerspruchs zum Effektivitätsgrundsatz in sich bergen, wenn sie entweder i) den Richtern ausdrücklich die Berücksichtigung potenziell relevanter Beweismittel untersagen(28) oder ii) bestimmte Beweismittel systematisch als schlüssigen unwiderleglichen Beweis für eine gegebene Tatsache ansehen(29).

b)      Medizinische Forschung als Voraussetzung für das Eingreifen einer Vermutung

52.      In seiner ersten Frage erklärt das vorlegende Gericht nicht ausdrücklich, dass bei Fehlen einer medizinischen Forschung der Anspruch automatisch zurückzuweisen wäre. Die Frage scheint vielmehr zu implizieren, dass der Anspruch für den Fall, dass es keine medizinische Forschung gibt, trotzdem durchgreifen könnte, dass dieses Ergebnis aber nicht auf Tatsachenvermutungen gestützt werden kann(30).

53.      Ebenso wie bei anderen detaillierten Regeln für die Erbringung von Beweismitteln ist in der Richtlinie nicht festgelegt, ob und unter welchen Voraussetzungen die Möglichkeit des Rückgriffs auf Tatsachenvermutungen besteht oder nicht besteht. In der Regel ist dies daher vorbehaltlich der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität eine Frage des nationalen Rechts. Erst recht ist die Ablehnung der Anwendung einer Vermutung in Fällen, in denen ein bestimmtes Beweiselement wie etwa medizinische Forschung fehlt, ein im nationalen Recht zu regelnder Bereich.

54.      Im Unionsrecht geht es im Allgemeinen eher um die ungerechtfertigte Anwendung von Vermutungen, die zu einer Beweislastumkehr führen oder auf sonstige Weise den Effektivitätsgrundsatz aushebeln können, vor allem weil die Anwendung auf irrelevanten oder unzureichenden Beweismitteln beruht(31). Vorliegend dreht sich die Auseinandersetzung jedoch konkret um eine Versagung der Anwendung der im nationalen Recht vorgesehenen Vermutungen im Fall der Nichterfüllung bestimmter Voraussetzungen (fehlende medizinische Forschung).

55.      Können solche Voraussetzungen im Widerspruch zum Effektivitätsgrundsatz stehen? Zumindest theoretisch ist diese Frage zu bejahen. So hat der Gerichtshof z. B. im Bereich des Wettbewerbsrechts entschieden, dass es angesichts der Schwierigkeiten, eine heimliche Absprache durch unmittelbare Beweise zu belegen, zulässig sein muss, den Beleg durch mittelbare Beweise zu erbringen (d. h. durch Heranziehung von „Tatsachenvermutungen“ im obigen Sinne(32)). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu entscheiden, ob unter den Umständen des vorliegenden Falles der Ausschluss von Vermutungen dem Kläger den Beweis der Kausalität oder des Fehlers mangels unmittelbarer Beweise unmöglich macht oder übermäßig erschwert und damit möglicherweise im Widerspruch zum Effektivitätsgrundsatz steht.

56.      Ich möchte über die Bewertung des vorlegenden Gerichts nicht spekulieren. Allerdings verstehe ich die Sache allgemeiner über die konkrete Formulierung der Frage hinaus nicht so, dass es um den Ausschluss jedweder Heranziehung von Vermutungen geht, wenn keine medizinische Forschung vorliegt. Das vorlegende Gericht möchte vielmehr wissen, ob der Ausschluss einer bestimmten Tatsachenvermutung(33) gerechtfertigt ist. Insoweit ist die praktische Frage, die das vorlegende Gericht ausloten möchte, die Frage der Zulänglichkeit der Beweise, die einer bestimmten Vermutung zugrunde liegen, die in Fällen der vorliegenden Art regelmäßig herangezogen wird.

57.      Ich wende mich nunmehr dieser Frage zu.

2.      Vermutungen

58.      Im Einklang mit dem oben in Abschnitt B dargelegten generellen Ansatz bei den Regeln für die Beibringung von Beweismitteln ist es Sache des nationalen Gerichts, in Anwendung von Art. 4 der Richtlinie über die Vereinbarkeit bestimmter im nationalen Recht geltender Vermutungen mit den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität zu entscheiden.

59.      In der Annahme, dass es sich bei der in Rede stehenden Regel um eine „widerlegliche Tatsachenvermutung“ handelt(34), gebe ich nachstehend jedoch einige allgemeine Hinweise, die es dem Gerichtshof vielleicht ermöglichen, dem nationalen Gericht bei dessen Entscheidung behilflich zu sein.

60.      Wie der Gerichtshof zuvor ausgeführt hat, kann es nationalen Beweisregeln an der nötigen Strenge mangeln mit der Folge, dass sie in der Praxis zu einer Umkehrung der Beweislast führen und im Widerspruch zum Effektivitätsgrundsatz stehen würden(35). Eine solche Beweislastumkehr würde im vorliegenden Fall auch zu einem Verstoß gegen Art. 4 der Richtlinie führen. Wenn ich richtig verstehe, geht dahin auch das wesentliche Vorbringen der Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 im vorliegenden Fall.

61.      Unter welchen Umständen könnte es einer Vermutung an der „nötigen Strenge mangeln“?

62.      Meiner Ansicht nach gibt es drei Szenarien, bei denen dies der Fall sein könnte: a) Es werden keine Beweise verlangt, und es gilt einfach eine Vermutung, dass der Kläger sein Vorbringen dargetan hat, b) die Beweismittel, auf die die Vermutung gestützt wird, sind irrelevant oder c) die Beweismittel sind zwar relevant, aber einfach „dürftig“.

a)      Fehlen einer Beweisgrundlage für die Vermutung

63.      Was Buchst. a betrifft, würde eine mangelnde Verpflichtung des Klägers, irgendwelche Beweismittel vorzulegen, bevor sein Anspruch als begründet angesehen wird, auf eine Beweislastumkehr hinauslaufen, die im Widerspruch zu Art. 4 der Richtlinie und dem Effektivitätsgrundsatz stünde(36). Nach meinem Verständnis muss der Kläger im Ausgangsverfahren bestimmte Beweismittel vorlegen, bevor die Vermutung eingreift, so dass dieses Szenario hier nicht weiter erörtert wird.

b)      Auf irrelevante Beweismittel gestützte Vermutung

64.      Was Buchst. b anlangt, meine ich mit „irrelevant“, dass kein rationaler oder logischer Zusammenhang zwischen den vorgelegten Beweismitteln und der gezogenen Schlussfolgerung besteht. So wäre es meiner Ansicht nach im vorliegenden Fall z. B. problematisch, den Umsatz der Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 oder die Anzahl ihrer Beschäftigten als Beweis dafür anzusehen, dass die in Rede stehenden Produkte fehlerhaft sind. Die beiden genannten Merkmale weisen, jedenfalls auf den ersten Blick, einfach keinen Bezug zu der Vermutung auf.

65.      Wenn man zuließe, dass Schlussfolgerungen allein aus irrelevanten Beweismitteln gezogen und Vermutungen darauf gestützt werden, liefe dies darauf hinaus, dass der Kläger von der Pflicht zur Vorlage von Beweismitteln vollständig entbunden wäre. Wie oben bereits dargelegt, würde dies zu einer Umkehrung der Beweislast führen.

66.      Die Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass kein logischer Zusammenhang zwischen den vorgelegten Beweismitteln und den gezogenen Schlussfolgerungen bestehe. Sie trägt insoweit insbesondere vor, dass angesichts der Ungewissheiten hinsichtlich der Ursache der Multiplen Sklerose die zeitliche Nähe der Impfung zum Auftreten der Krankheit nicht aufschlussreich sei. Ein solcher zeitlicher Zusammenhang könne sogar den Ursachenzusammenhang ausschließen, nämlich wenn festgestellt werden könnte, dass die Krankheit eine hinreichend lange Inkubationszeit habe.

67.      Was immer man von einer Begründung nach dem Muster post hoc ergo propter hoc halten mag, die absolute Irrelevanz des zeitlichen Zusammenhangs, die die Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 geltend macht, ist meiner Meinung nach nicht so offensichtlich wie bei den oben genannten Beispielen des Umsatzes oder der Beschäftigtenzahl.

68.      Meiner Auffassung nach hat der Gerichtshof aber weder die Aufgabe, darüber zu entscheiden, ob der zeitliche Zusammenhang – oder andere Beweiselemente der in Rede stehenden Vermutung – maßgeblich ist oder nicht, noch die Aufgabe, sich an einer ausführlichen Diskussion über das Thema zu beteiligen. Hierfür gibt es mindestens zwei sehr triftige Gründe.

69.      Erstens hat das nationale Gericht, wie oben ausgeführt, seine Frage allgemein formuliert, ohne die verschiedenen Voraussetzungen für die Anwendung der Vermutung zu nennen. Trotz der in gewissem Umfang erfolgten Erörterung in den Erklärungen der Parteien ist der genaue Inhalt dieser Voraussetzungen tatsächlich weiterhin unklar(37).

70.      Zweitens kämen detaillierte Ausführungen an dieser Stelle dem Vorgang, einzelnen Beweismitteln in Produkthaftungsfällen bestimmter Art besonderes Gewicht beizumessen, gefährlich nahe. Solche Äußerungen sind meines Erachtens mit dem Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens, dem Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie und der freien Beweiswürdigung durch die nationalen Gerichte nicht vereinbar.

c)      Relevante, aber „dürftige“ Beweise

71.      Was Buchst. c angeht, ist es, da es dem Gerichtshof nicht zukommt, sich ausführlich zur Erheblichkeit einzelner Beweismittel zu äußern, erst recht nicht Sache des Gerichtshofs, festzustellen, ob Beweismittel in ihrer Gesamtheit eine bestimmte Vermutung rechtfertigen. Die Frage, ob eine Vermutung gerechtfertigt ist, könnte sogar noch subjektiver als die Frage der Relevanz sein. Dieser Punkt lässt sich anhand zweier Beispiele aus dem Bereich des Wettbewerbsrechts der Union verdeutlichen(38).

72.      Erstens kann sich die Europäische Kommission im Rahmen von gegen sie gerichteten Nichtigkeitsklagen zur Verteidigung ihrer Beschlüsse auf eine widerlegliche(39) Tatsachenvermutungen(40) berufen, wonach eine Muttergesellschaft die Kontrolle über einen von ihrer 100%igen Tochtergesellschaft begangenen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union ausgeübt hat und infolgedessen dafür haftbar ist(41). Ein Beweis für die tatsächliche Teilnahme ist nicht erforderlich – es genügt der Umstand der 100%igen Kapitalbeteiligung. Diese Vermutung wurde vielfach in Zweifel gezogen. Ein Bedenken lautet, dass eine 100%ige Kapitalbeteiligung einfach eine unzureichende Grundlage für die Vermutung bilde(42). Man könnte mit anderen Worten auch sagen, dass der Vermutung die beweisrechtliche Strenge fehlt. Es wäre nicht richtig, zu behaupten, dass die Argumente betreffend den Mangel an beweisrechtlicher Strenge gar nicht existieren oder irgendwie weit hergeholt seien(43). Der Gerichtshof hat die Vermutung jedoch deutlich und wiederholt gebilligt(44).

73.      Zweitens hat die Kommission in Kartellsachen das Vorliegen einer Vereinbarung oder einer abgestimmten Verhaltensweise nachzuweisen. Häufig muss dabei auf Indizienbeweise (d. h. Vermutungen im hier verstandenen Sinne) zurückgegriffen werden. Die Zulänglichkeit dieser Beweise wird im Allgemeinen im Einzelfall bewertet. Der Gerichtshof hat jedoch schon oft wiederholt, dass ein Parallelverhalten der Unternehmen allein noch keinen hinreichenden Beweis darstellt, der die Vermutung einer heimlichen Absprache rechtfertigt. Der Gerichtshof hat mit anderen Worten eine Rechtsregel aufgestellt, aus der eindeutig hervorgeht, dass solche Beweise für sich genommen schlicht zu dürftig sind(45).

74.      Zugegebenermaßen stammen die oben genannten Beispiele aus einem ganz anderen Bereich des materiellen Rechts, jedoch handelt es sich dabei um einen Bereich, in dem eine besonders umfangreiche Rechtsprechung zur beweisrechtlichen Strenge und zu Vermutungen vorliegt. Insoweit tragen sie meiner Ansicht nach zur Verdeutlichung – im unionsrechtlichen Rahmen – des heiklen und letztlich recht subjektiven und häufig sehr einzelfallabhängigen Charakters jeder abschließenden Äußerung zur Zulänglichkeit bestimmter Beweismittel oder zu allgemeinen Regeln für die Gewichtung solcher Beweismittel und Vermutungen bei.

75.      Im Ergebnis muss sich das nationale Gericht, ehe es eine bestimmte Tatsachenvermutung heranzieht, vergewissern, dass die Vermutung auf relevanten Beweismitteln beruht und streng genug ist, um dem Effektivitätsgrundsatz zu genügen, und dass sie in der Praxis nicht auf eine Beweislastumkehr entgegen Art. 4 der Richtlinie hinausläuft.

3.      Fehler und Kausalität

76.      In seiner ersten Frage gibt das nationale Gericht an, dass die Vermutung sowohl für den ursächlichen Zusammenhang als auch den Fehler gelte. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Die vorstehenden Ausführungen zur allgemeinen Möglichkeit, im nationalen Recht Tatsachenvermutungen vorzusehen, und zu den durch das Unionsrecht gezogenen Grenzen dieser Möglichkeit gelten gleichermaßen für Vermutungen bezüglich des Fehlers und Vermutungen bezüglich des ursächlichen Zusammenhangs.

77.      Dennoch möchte ich drei weitere Bemerkungen anfügen.

78.      Erstens gehe ich davon aus, dass die Tatsachenelemente, die die Grundlage für die Vermutung hinsichtlich des Fehlers und der Kausalität bilden, identisch sind. Ein solcher Ansatz verstößt meines Erachtens für sich genommen weder gegen Art. 4 der Richtlinie noch gegen den Effektivitätsgrundsatz. Entsprechend den vorstehenden Ausführungen stellt das Unionsrecht keine besonderen Beweisanforderungen bezüglich des Fehlers und des ursächlichen Zusammenhangs und schreibt auch nicht vor, dass die Beweisgrundlage für den Fehler eine andere sein muss als für den ursächlichen Zusammenhang.

79.      Zweitens trägt die Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 vor, dass der Fehler aus dem ursächlichen Zusammenhang gefolgert werde.

80.      Das entspricht nicht der Formulierung, die das vorlegende Gericht für seine Frage gewählt hat. Die erste Frage impliziert vielmehr, dass beiden Tatbestandsmerkmalen – dem ursächlichen Zusammenhang und dem Fehler – dieselben Tatsachen zugrunde liegen. Wie oben dargelegt, ist die Beurteilung, ob diese Tatsachen relevant sind und eine hinreichende Grundlage für die Feststellung bilden, dass jedes dieser Tatbestandsmerkmale erfüllt ist, Sache des vorlegenden Gerichts.

81.      Wie verhält es sich, wenn die Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 Recht hat und nach nationalem Recht der Vorgang rechtstechnisch so ausgestaltet ist, dass der Fehler aus dem ursächlichen Zusammenhang gefolgert wird?

82.      Meiner Meinung nach ist dieser Schlussfolgerungsansatz als solcher unproblematisch. In der Praxis dienen die zur Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs herangezogenen Beweismittel mittelbar der Feststellung des Fehlers. Dieser Beweisführungsansatz entspricht einer Vermutung im oben definierten Sinne. Der Rückschluss auf einen Fehler (der unmittelbar schwer zu beweisen ist, weil im vorliegenden Fall das Produkt durch seine Verabreichung „zerstört“ wird(46)) beruht auf einer eher mittelbaren Beweisführung(47). Ähnlich wie bei Vermutungen stellt sich nach dem materiellen Unionsrecht die Frage, ob die Schlussfolgerung auf relevanten und hinreichenden Beweismitteln beruht.

83.      Drittens ist ebenso wie bei der Vermutung eines ursächlichen Zusammenhangs in der Regel jede detaillierte Beurteilung der Erheblichkeit und Zulänglichkeit bestimmter Beweismittel als Grundlage für den Rückschluss auf den Fehler Sache des nationalen Gerichts.

84.      Allerdings gibt es einen Aspekt hinsichtlich des Beweises für den Fehler, der an dieser Stelle zu prüfen ist, da er den Kern der Definition des Begriffs „Fehler“ betrifft.

85.      Nach Art. 6 der Richtlinie ist ein Produkt fehlerhaft, wenn es „nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände … zu erwarten berechtigt ist“. Die Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 macht insoweit insbesondere geltend, dass die Elemente zur Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Produkt und Schaden im Einzelfall allein noch nicht zur Feststellung der Fehlerhaftigkeit genügen könnten. Es sei über den konkreten Fall hinaus eine allgemeinere Kosten-Nutzen-Beurteilung erforderlich.

86.      Ich bin anderer Meinung.

87.      In der Richtlinie ist nicht ausdrücklich niedergelegt, dass der Begriff des Fehlers über den zu untersuchenden spezifischen Fall hinaus beinhaltet, dass das Produkt im Allgemeinen schädlich oder potenziell schädlich ist oder dass eine gesellschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse des Produkts vorgenommen werden muss. Die in Art. 6 enthaltene Definition des Begriffs „Fehler“ und der zugehörige Erwägungsgrund sind zwar unbestimmt formuliert (Sicherheit, die „man“ zu erwarten berechtigt ist bzw. die von „der Allgemeinheit“ berechtigterweise erwartet werden darf). Meines Erachtens ist diese Formulierung jedoch höchstens mehrdeutig. Ich verstehe sie eher dahin, dass damit eigentlich die Mindesterwartungen gemeint sind, die das Produkt bei üblichem Gebrauch erfüllen muss. Sie bedeutet nicht, dass dann, wenn das Produkt in üblicher Weise gebraucht wird und im Einzelfall eine ernsthafte Schädigung verursacht, für eine Schlussfolgerung auf die Fehlerhaftigkeit zwingend eine Kosten-Nutzen-Abwägung des Produkts notwendig ist.

88.      Parallel zu den obigen Ausführungen zum Verhältnis zwischen allgemeiner medizinischer Forschung und dem Einzelfall(48) käme ein solches Erfordernis bezüglich des Fehlers meiner Ansicht nach der Aufstellung (oder zumindest der kühnen Herleitung) neuer Haftungsvoraussetzungen gleich.

89.      Die Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 kann sich auch nicht auf das Urteil Boston Scientific Medizintechnik stützen, das sie zur Begründung ihrer These anführt(49). In jener Rechtssache wurde festgestellt, dass bestimmte medizinische Geräte in einem Produktionslos fehlerhaft waren. Es stellte sich die Frage, ob von dieser Feststellung auf die Fehlerhaftigkeit der anderen Geräte im selben Los geschlossen werden konnte. Dies unterscheidet sich wesentlich von der These, dass ein bestimmtes Produkt nur dann als fehlerhaft angesehen werden kann, wenn das Produkt allgemein als unsicher eingestuft wird.

90.      In Anbetracht dessen und unter Bezugnahme auf das in der ersten Frage des vorlegenden Gerichts angesprochene Szenario meine ich, dass Art. 4 der Richtlinie Tatsachenvermutungen für das Vorliegen des ursächlichen Zusammenhangs und des Fehlers nicht entgegensteht. Solche Vermutungen müssen jedoch den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität sowie den Mindestanforderungen des Art. 4 genügen. Die Vermutungen müssen so streng sein, dass es nicht zu einer Umkehrung der Beweislast kommt. Insbesondere müssen sie auf relevanten und hinreichenden Beweismitteln beruhen.

91.      Ändert sich diese Antwort, wenn es sich bei der Kausalitätsvermutung um eine gesetzliche Vermutung (im Gegensatz zu einer Tatsachenvermutung) handelt? So lautet im Wesentlichen die zweite Frage des vorlegenden Gerichts.

92.      Ich verweise auf die obigen Ausführungen, wonach die Regeln für die Erbringung von Beweismitteln, einschließlich der Anwendung und der Voraussetzungen der zugrunde liegenden Vermutungen, Sache des nationalen Rechts sind und vorbehaltlich der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gelten. Die endgültige Entscheidung darüber, ob diese Grundsätze im vorliegenden Fall gewahrt sind, ist Sache des nationalen Gerichts.

93.      Ich möchte jedoch die nachstehenden drei Bemerkungen anfügen.

94.      Erstens sind meiner Meinung nach unwiderlegliche gesetzliche Vermutungen – d. h. bei denen der Richter verpflichtet ist, bestimmte Tatsachen zu folgern, die nicht in Zweifel gezogen werden können, welche Beweismittel auch immer die Gegenpartei vorlegt – in der Regel bedenklicher und mögen durchaus im Widerspruch zum Effektivitätsgrundsatz stehen. Ich verweise insoweit auf Nr. 51 der vorliegenden Schlussanträge zur freien Beweiswürdigung durch den Richter. Allerdings gehe ich nach der mündlichen Verhandlung davon aus, dass die im vorliegenden Fall herangezogene Vermutung nicht unwiderleglich ist, so dass ich diesem Punkt nicht weiter nachgehen werde.

95.      Zweitens kann eine gesetzliche Vermutung, auch wenn sie streng genommen nicht „unwiderleglich“ ist, mitunter nur dann entkräftet werden, wenn Beweismittel beigebracht werden, die konkret die eigentliche Grundlage der Vermutung erschüttern. Auch in solchen Fällen wird die freie Beweiswürdigung des Richters in einer Weise erheblich eingeschränkt, die durchaus im Widerspruch zum Effektivitätsgrundsatz stehen könnte.

96.      Wenn etwa A als Grundlage für eine widerlegliche Vermutung von B dient, ist theoretisch eine Widerlegung möglich durch entweder i) die Beibringung von Beweismitteln dafür, dass A tatsächlich nicht feststeht, oder ii) durch Beibringung weiterer Beweismittel für C, die dazu führen, dass die Vermutung im Rahmen der vom Richter vorgenommenen Gesamtbewertung der Tatsachen aufgehoben wird. Das erstgenannte Szenario schränkt die freie Beweiswürdigung des Richters in stärkerem Maß ein.

97.      Drittens muss, wie oben dargelegt, eine Tatsachenvermutung, um dem Effektivitätsgrundsatz zu genügen, auf relevanten Beweismitteln beruhen, die zur Stützung der gezogenen Schlussfolgerungen hinreichen. Dies gilt auch für gesetzliche Vermutungen.

98.      Der Unterschied besteht darin, dass der nationale Richter gesetzliche Vermutungen per definitionem anwenden muss, wenn der Kläger das Vorliegen der erforderlichen Tatsachenelemente nachweist. Infolgedessen ist es also eindeutig wahrscheinlicher, dass die Vermutung konkret in Fällen angewendet wird, in denen dies eigentlich nicht gerechtfertigt ist.

99.      Allerdings steht diese Möglichkeit als solche noch nicht im Widerspruch zum Effektivitätsgrundsatz. Es ist nämlich nahezu unvermeidlich, dass gesetzliche Vermutungen angesichts ihres automatischen Eingreifens in einigen Fällen „falsch“ sind. Solche Vermutungen bezwecken nicht die Gewährleistung eines perfekten Ergebnisses, sondern der Effizienz der Rechtspflege. Entscheidend ist, dass im Fall eines falschen Eingreifens der gesetzlichen Vermutung der Beklagte in der Praxis die Möglichkeit hat, die Vermutung durch Vorlage relevanter Beweismittel zu widerlegen. Dies unterstreicht erneut die Bedeutung der Widerleglichkeit gesetzlicher Vermutungen.

100. Angesichts der Antworten auf die vorangegangenen Fragen des vorlegenden Gerichts erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der dritten Frage des nationalen Gerichts, die den Beweiswert wissenschaftlicher Forschung betrifft. Im Rahmen der Beantwortung der ersten Frage des vorlegenden Gerichts habe ich jedoch einiges zum Beweiswert angemerkt, der speziell Beweismitteln in Form medizinischer Forschung zuzuschreiben ist. Soweit sie für das vorlegende Gericht sachdienlich sind, gelten diese Bemerkungen meines Erachtens gleichermaßen für die Bedeutung und die Grenzen der Verwendung wissenschaftlicher Forschung im Allgemeinen.

V –    Ergebnis

101. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) wie folgt zu beantworten:

Art. 4 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte steht als solcher auf dem Gebiet der Haftung von Arzneimittelherstellern für die von ihnen hergestellten Impfstoffe einem Vorgehen nicht entgegen, bei dem das Tatsachengericht in Ausübung seiner Befugnis zur freien Würdigung des Sachverhalts feststellen kann, dass die Tatsachen, die der Kläger geltend macht, ernsthafte, klare und übereinstimmende Vermutungen begründen, die den Fehler des Impfstoffs und den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und der Krankheit beweisen, ungeachtet der Feststellung, dass die allgemeine medizinische Forschung keinen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und dem Auftreten der Krankheit herstellt, sofern eine solche Art und Weise der Beweisführung nicht de facto zu einer Umkehrung der Beweislast für den Fehler, den Schaden oder den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden führt.

Bei einer solchen Art und Weise der Beweisführung dürfen insbesondere nur Vermutungen herangezogen werden, die

–        auf Beweismitteln beruhen, die sowohl relevant als auch streng genug sind, um die gezogenen Schlussfolgerungen zu stützen;

–        widerleglich sind;

–        die freie Beweiswürdigung des nationalen Gerichts nicht unzulässig einschränken, indem sie dem nationalen Richter insbesondere und unbeschadet der allgemeinen nationalen Regeln für die Zulässigkeit der Beweismittel verwehren, relevante Beweismittel zu berücksichtigen, oder indem sie verlangen, dass bestimmte Beweismittel als abschließender Beweis dafür gelten, dass eine oder mehrere Voraussetzungen des Art. 4 ungeachtet vorgelegter sonstiger Beweismittel erfüllt sind,

–        dem nationalen Richter nicht verwehren, dem nationalen Gericht vorgelegte relevante medizinische Forschung unbeschadet der Regeln für die Zulässigkeit von Beweismitteln zu berücksichtigen, oder die nicht zwingend verlangen, dass zum Zweck des Nachweises des Fehlers oder des ursächlichen Zusammenhangs medizinische Forschung angeführt wird.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ABl. 1985, L 210, S. 29).


3      „Présomptions, graves, précises et concordantes“. Die genaue Bedeutung des Begriffs „présomptions“, den man nach dem natürlichen Sprachgebrauch im Englischen wohl eher mit „circumstantial evidence“ statt mit „presumptions“ übersetzen würde, wird unten in den Nrn. 28 bis 35 näher erörtert.


4      Das Vorabentscheidungsersuchen folgt dieser Rechtsprechung, wobei das vorlegende Gericht allerdings keine konkreten Entscheidungen anführt. Laut den dem Gerichtshof vorgetragenen schriftlichen Erklärungen wurden diese Grundsätze jedoch offenbar im Rahmen einer Reihe von Rechtssachen bestätigt und entwickelt, u. a. in den beiden Urteilen vom 22. Mai 2008 (Cass. Civ. 1ère, Bull. Civ. I, n° 148 und n° 149).


5      Vgl. Art. 4 der Richtlinie sowie Urteil vom 20. November 2014, Novo Nordisk Pharma (C‑310/13, EU:C:2014:2385, Rn. 26). Dies entspricht der allgemeinen verfahrensrechtlichen Regel, wonach normalerweise derjenige, der sich auf eine Tatsache beruft, die Pflicht hat, deren Vorliegen zu beweisen (vgl. in Bezug auf das Unionsrecht Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache C.A.S./Kommission, C‑204/07 P, EU:C:2008:175, Nr. 114). In Bezug auf die Produkthaftung vgl. Lovells, Product liability in the European Union – A report for the European Commission – 2003 (Lovells-Bericht), S. 19.


6      Vgl. allgemeiner zu Entstehungsgeschichte und Hintergrund von Art. 4 Taschner, H. C., und Frietsch, E., Produkthaftungsgesetz und EG-Produkthaftungsrichtlinie, Kommentar, 2. Aufl., Beck, München 1990, S. 219 bis 222.


7      Urteil vom 20. November 2014, Novo Nordisk Pharma (C‑310/13, EU:C:2014:2385, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8      Urteil vom 20. November 2014, Novo Nordisk Pharma (C‑310/13, EU:C:2014:2385, Rn. 29), und Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Novo Nordisk Pharma (C‑310/13, EU:C:2014:1825, Nrn. 21 bis 24). Vgl. auch Vierter Bericht vom 8. September 2011 über die Anwendung der Richtlinie (KOM[2011] 547 endg., S. 7.


9      In Art. 7 der Richtlinie sind einige konkrete Sachverhalte aufgelistet, bei denen im Fall der Heranziehung bestimmter Beweismittel die Haftung ausgeschlossen ist. Diese haben für die vorliegende Rechtssache zwar keine unmittelbare Bedeutung, werden aber unten in Nr. 47 angesprochen.


10      Vgl. z. B. insbesondere in Bezug auf die nationale Verfahrensautonomie sowie die Regeln für die Beibringung von Beweismitteln Urteile vom 22. Januar 1975, Unkel (55/74, EU:C:1975:5, Rn. 12 letzter Satz), vom 10. April 2003, Steffensen (C‑276/01, EU:C:2003:228, Rn. 60), vom 28. Juni 2007, Bonn Fleisch (C‑1/06, EU:C:2007:396, Rn. 51 zweiter Absatz), und vom 15. Oktober 2015, Nike European Operations Netherlands (C‑310/14, EU:C:2015:690, Rn. 43).


11      Urteil vom 20. November 2014, Novo Nordisk Pharma (C‑310/13, EU:C:2014:2385, insbesondere Rn. 27 und 32).


12      Zum Verbraucherschutz vgl. den übergreifend anwendbaren Art. 12 AEUV: „Den Erfordernissen des Verbraucherschutzes wird bei der Festlegung und Durchführung der anderen Unionspolitiken und ‑maßnahmen Rechnung getragen.“


13      Vgl. z. B. Urteil vom 10. April 2003, Steffensen (C‑276/01, EU:C:2003:228, Rn. 60).


14      So dass tatsächlich ein Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes oder eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren vorliegen könnte. Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Mai 1986, Johnston (222/84, EU:C:1986:206, Rn. 20), und vom 10. April 2003, Steffensen (C‑276/01, EU:C:2003:228, Rn. 69 bis 79). In einigen Fällen kann die Anwendung nationaler Verfahrensregeln dazu führen, dass relevante Beweismittel als unzulässig gelten und das nationale Gericht sie nicht berücksichtigen darf. So ist etwa denkbar, dass die Beweismittel rechtswidrig erlangt oder erst nach Fristablauf vorgelegt wurden. Solche Beschränkungen verstoßen als solche noch nicht gegen die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. Wenn ich recht verstehe, geht es im vorliegenden Fall nicht konkret um die Zulässigkeit von Beweismitteln, so dass ich der Frage, inwieweit Beschränkungen der Zulässigkeit von Beweismitteln gegen die genannten Grundsätze verstoßen, hier nicht nachgehen werde.


15      Urteil vom 15. Oktober 2015, Nike European Operations Netherlands (C‑310/14, EU:C:2015:690, Rn. 43). Da keine detaillierten Informationen über die in ähnlichen Fällen geltenden Regeln für die Beibringung von Beweismitteln nach nationalem Recht zur Verfügung stehen, beschränke ich meine Ausführungen in den vorliegenden Schlussanträgen auf den Effektivitätsgrundsatz und lasse den Äquivalenzgrundsatz unerörtert.


16      Deshalb kommt einer vergleichenden Untersuchung solcher Begriffe wesentliche Bedeutung zu; zur praktischen Erheblichkeit einer solchen Untersuchung in Produkthaftungsfällen und zu den unterschiedlichen Ansätzen bei der Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten vgl. Brook, Burton, Forrester und Underhill in Canivet, G., Andenas, M., und Fairgrieve, D., Comparative Law before the Courts, BIICL, 2004, S. 57 bis 83.


17      Diese Definition des Begriffs „Vermutung“ stammt aus dem Lexique des termes juridiques 2015-2016, Guinchard, S., und Debard, T., (Dir.), 23. Aufl., Dalloz 2015, Paris: „Mode de raisonnement juridique en vertu duquel de l’établissement d’un fait on induit un autre fait qui n’est pas prouvé. La présomption est dite de l’homme (ou du juge) lorsque le magistrat tient lui-même et en toute liberté ce raisonnement par induction, pour un cas particulier; elle n’est admise que lorsque la preuve par témoins est autorisée. La présomption est légale, c’est-à-dire instaurée de manière générale, lorsque le législateur tire lui-même d’un fait établi un autre fait dont la preuve n’est pas apportée. La présomption légale est simple lorsqu’elle peut être combattue par la preuve du contraire. Lorsque la présomption ne peut être renversée, elle est dite irréfragable ou absolue. Les présomptions simples sont dites également juris tantum, les présomptions irréfragables sont désignées parfois par l’expression latine juris et de jure. On qualifie de présomption mixte la présomption dont la preuve contraire est réglementée par le législateur, qui restreint les moyens de preuve ou l’objet de la preuve.“


18      Das deutsche Recht unterscheidet zwischen Vermutungen, aufgrund deren eine Tatsache (oder ein Tatsachenkomplex) oder eine Rechtsfolge aus einer anderen Tatsache (oder einem anderen Tatsachenkomplex) gefolgert werden darf. Nach deutschem Recht gilt offenbar eine eindeutige Regel für die verfahrensrechtliche Funktion von Vermutungen, soweit diese gesetzlich normiert sind. In einem solchen Fall lautet die verfahrensrechtliche Konsequenz, dass der Gegenstand der Vermutung keines Beweises mehr bedarf. Der Richter hat keinen Bewertungsspielraum. Die Gegenpartei hat jedoch weiterhin die Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen, sofern die Vermutung im Gesetz nicht als unwiderleglich ausgestaltet ist. Solche (gesetzlichen) Vermutungen werden nach einhelliger Auffassung im deutschen Schrifttum als Beweisregeln angesehen (vgl. z. B. Prütting, H., Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl., Beck, München 2016, § 292 Nr. 26). Das deutsche Schrifttum würde den Begriff „Vermutung“ im Sinne der vorliegenden Schlussanträge wohl als mittelbaren Beweis oder Beweis des ersten Anscheins verstehen, der als solcher nichts an der Beweislastverteilung ändert (vgl. Prütting, H., Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Aufl., Beck, München 2016, § 286 Nr. 51).


19      Iller, M., Civil Evidence: The Essential Guide, Sweet & Maxwell, London, 2006, S. 124 und 125. Zu Vermutungen und der Wirkung der Beweislast im englischen Recht im Allgemeinen vgl. z. B. auch die näheren Ausführungen bei Munday, R., Evidence, 8. Aufl., Oxford University Press, Oxford, 2015, S. 63 bis 105.


20      Vorausgesetzt, die Vermutung ist widerleglich. Weiter unten gehe ich auf den Sonderfall unwiderleglicher Vermutungen ein.


21      Im Kontext des Wettbewerbsrechts, bei dem Beweisführung und Beweismittel viel enger durch das Unionsrecht geregelt werden, hat Generalanwalt Szpunar den Vorgang, die Behörde zu überzeugen, und das Wechselspiel zwischen Vermutung und Beweislast in der Rechtssache Eturas u. a. (C‑74/14, EU:C:2015:493, Nr. 99) folgendermaßen beschrieben: „Durch diese Vermutungen wird die Beweislast nicht auf den Adressaten der Entscheidung der Wettbewerbsbehörde verlagert. Sie ermöglichen es der Behörde lediglich, aufgrund von Erfahrungssätzen bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen … Die somit prima facie entstehende Schlussfolgerung kann durch Gegenbeweise widerlegt werden, andernfalls genügt sie den Anforderungen an die Beweislast, die weiterhin bei der Verwaltungsbehörde liegt.“


22      Siehe unten, Nr. 96.


23      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Richtlinie für Fälle gilt, in denen geltend gemacht wird, dass der Schaden durch fehlerhafte Impfstoffe verursacht wurde (vgl. z. B. Urteil vom 2. Dezember 2009, Aventis Pasteur, C‑358/08, EU:C:2009:744).


24      Im Urteil Boston Scientific Medizintechnik wurde festgestellt, dass sich unter einem Los medizinischer Geräte auch mit einem bestimmten Fehler behaftete Geräte befanden. Aus dieser Tatsache wurde der Schluss gezogen, dass andere einzelne Geräte in dem Los als fehlerhaft eingestuft werden könnten (Urteil vom 5. März 2015, Boston Scientific Medizintechnik, C‑503/13 und C‑504/13, EU:C:2015:148). Das Urteil verdeutlicht, dass i) sich der Nachweis der Fehlerhaftigkeit im Allgemeinen von dem in einem Einzelfall unterscheidet und ii) beide füreinander beweisrechtlich bedeutsam sein können. Zur konkreten und allgemeinen Fehlerhaftigkeit des Produkts siehe unten, Nrn. 85 bis 89.


25      Zu der dem Kläger auferlegten Beweislast für zusätzliche Elemente vgl. entsprechend die auf das Urteil San Giorgio zurückgehende Rechtsprechung zur Abwälzung (Urteile vom 9. November 1983, San Giorgio, 199/82, EU:C:1983:318, vom 9. Februar 1999, Dilexport, C‑343/96, EU:C:1999:59, und vom 9. Dezember 2003, Kommission/Italien, C‑129/00, EU:C:2003:656).


26      Vgl. hierzu auch Taschner, H. C., und Frietsch, E., Produkthaftungsgesetz und EG-Produkthaftungsrichtlinie, Kommentar, 2. Aufl., Beck, München 1990, S. 186.


27      Der Gerichtshof hat den Grundsatz der freien Beweiswürdigung in der Praxis mehrmals bestätigt, z. B. in den Urteilen vom 15. Mai 1986, Johnston (222/84, EU:C:1986:206, Rn. 17 bis 21), und vom 10. April 2003, Steffensen (C‑276/01, EU:C:2003:228, Rn. 80). Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung wurde auch allgemein im Kontext von auf das Wettbewerbsrecht der Union gestützten Direktklagen festgestellt (vgl. z. B. Urteil des Gerichts vom 8. Juli 2004, Dalmine/Kommission, T‑50/00, EU:T:2004:220, Rn. 72 und 73, und Schlussanträge des Generalanwalts Vesterdorf in den Rechtssachen Rhone Poulenc/Kommission, T‑1/89, EU:T:1991:38, S. 954). Tatsächlich hat der Gerichtshof die freie Beweisführung beschrieben als einen „wesentlichen Aspekt der Rechtsprechungstätigkeit …, weil die Anwendung der Rechtsvorschriften auf den jeweiligen Fall unabhängig von der Auslegung, der der mit einer bestimmten Rechtssache befasste nationale Richter folgt, oft davon abhängen wird, wie dieser Richter den Sachverhalt sowie den Wert und die Relevanz der von den Parteien des Rechtsstreits zu diesem Zweck beigebrachten Beweise würdigt“ – Urteil vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo (C‑173/03, EU:C:2006:391, Rn. 38).


28      Wie oben ausgeführt, gilt dies unbeschadet der Zulässigkeitsregeln, die z. B. eingreifen, wenn die Beweismittel verspätet vorgelegt werden oder rechtswidrig erlangt wurden (siehe oben, Fn. 14).


29      Urteil vom 15. Mai 1986, Johnston (222/84, EU:C:1986:206, Rn. 20).


30      In der Frage ist wörtlich vom Ausschluss jedweder Vermutungen die Rede. Aus dem Zusammenhang ergibt sich jedoch eindeutig, dass es konkret um den Ausschluss der im vorliegenden Fall zu prüfenden Vermutung geht.


31      Siehe unten, Nrn. 62 bis 75.


32      Vgl. z. B. Urteil vom 21. Januar 2016, Eturas u. a. (C‑74/14, EU:C:2016:42, Rn. 35 bis 37).


33      Und zwar die oben in Nr. 1 beschriebene Vermutung.


34      Laut Definition oben in den Nrn. 32 bis 35.


35      Urteil vom 15. Oktober 2015, Nike European Operations Netherlands (C‑310/14, EU:C:2015:690, Rn. 43).


36      Vgl. die oben in Fn. 25 angeführte auf das Urteil San Giorgio zurückgehende Rechtsprechung.


37      Nach meinem Verständnis lauten die allgemeinen Voraussetzungen: i) Fehlen einer persönlichen oder familiären Vorbelastung und ii) zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten der Krankheit. Aus den Akten geht die genaue Bedeutung dieser Voraussetzungen in Bezug auf die Frage, ob sie in gewissem Maß flexibel (z. B. hinsichtlich der Dauer des zeitlichen Zusammenhangs) gehandhabt werden können, allerdings nicht hervor. Die Kassationsbeschwerdegegnerin zu 1 verweist in ihren Schriftsätzen auch noch auf eine dritte Voraussetzung, nämlich das Fehlen einer bekannten Veranlagung des Geschädigten für die Krankheit.


38      Um Zweifel auszuschließen, sei darauf hingewiesen, dass trotz des Umstands, dass zu Illustrationszwecken auf das Wettbewerbsrecht der Union Bezug genommen wird – das größtenteils als „strafrechtlicher“ Natur angesehen werden könnte – die Ausführungen in den vorliegenden Schlussanträgen auf die Vermutungen ausgerichtet sind, die im Rahmen der gesetzlichen Haftung gemäß der Richtlinie Anwendung finden. Im Wettbewerbsrecht der Union gelten daher offensichtlich höhere Beweisanforderungen (jenseits vernünftiger Zweifel) als im Zivilrecht üblich (Wahrscheinlichkeitsabwägung). Mit diesem Vorbehalt eignen sich die Beispiele jedoch zur Verdeutlichung.


39      Der Gerichtshof hat vielfach bestätigt, dass die Vermutung theoretisch widerleglich ist (vgl. z. B. Urteil vom 19. Juli 2012, Alliance One International und Standard Commercial Tobacco/Kommission und Kommission/Alliance One International u. a., C‑628/10 P und C‑14/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:479, Rn. 48). Die Vermutung war jedoch häufig Gegenstand der Kritik, weil sie in der Praxis unwiderleglich sei – vgl. z. B. Temple Lang, J., „How Can the Problem of the Liability of a Parent Company for Price Fixing by a Wholly-owned Subsidiary Be Resolved?“, Fordham International Law Journal, Bd. 37, Heft 5, 2014, Fn. 14 und zugehöriger Text.


40      Die Kommission beruft sich zwar sehr regelmäßig auf diese Vermutung, ist hierzu aber nicht verpflichtet (Urteil vom 24. September 2009, Erste Group Bank u. a./Kommission, C‑125/07 P, C‑133/07 P, C‑135/07 P und C‑137/07 P, EU:C:2009:576, Rn. 76 bis 83).


41      Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 60 und 61).


42      Wenngleich sich die Kritik im Allgemeinen eher gegen die Widerleglichkeit der Vermutung richtet (vgl. die oben in Fn. 39 angeführten Fundstellen).


43      Das Gericht hat z. B. im Urteil Bolloré u. a./Kommission ausdrücklich Zweifel geäußert: „[D]ie Tatsache, dass die Muttergesellschaft 100 % des Kapitals der Tochtergesellschaft hält, [ist] zwar ein starkes Indiz dafür, dass sie entscheidenden Einfluss auf das Marktverhalten der Tochtergesellschaft ausüben kann, reicht jedoch für sich genommen nicht aus, um die Muttergesellschaft für das Verhalten der Tochtergesellschaft verantwortlich machen zu können … Ein zusätzliches Element neben dem Beteiligungsgrad bleibt erforderlich, kann aber in Indizien bestehen.“ (Urteil des Gerichts vom 26. April 2007, Bolloré u. a./Kommission, T‑109/02, T‑118/02, T‑122/02, T‑125/02, T‑126/02, T‑128/02, T‑129/02, T‑132/02 und T‑136/02, EU:T:2007:115, Rn. 132).


44      Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 60 und 61).


45      Vgl. z. B. Urteil vom 31. März 1993, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, C‑89/85, C‑104/85, C‑114/85, C‑116/85, C‑117/85 und C‑125/85 bis C‑129/85, EU:C:1993:120, Rn. 71.


46      D. h., indem es dem Patienten injiziert wird.


47      Ähnlich ist der Fall denkbar, dass mehrere Menschen (nicht unbedingt alle) nach einem in einem bestimmten Restaurant an einem bestimmten Tag eingenommenen Abendessen erkranken. Bei der Untersuchung des Vorfalls (und möglicherweise auch bei der Entscheidung über die Haftung des Restaurants) Tage oder Wochen später dürften die Lebensmittel, die diese Menschen verzehrt haben, nicht mehr vorhanden sein. Proben und Beweise für den eigentlichen Fehler der servierten Lebensmittel stehen deshalb nicht zur Verfügung. Dies steht aber nicht der Schlussfolgerung entgegen, dass in Ermangelung einer sonstigen vernünftigen Erklärung aus den darauffolgenden Ereignissen zu folgern ist, dass die verzehrten Lebensmittel als fehlerhaft angesehen werden können.


48      Oben, Nr. 46.


49      Urteil vom 5. März 2015, Boston Scientific Medizintechnik (C‑503/13 und C‑504/13, EU:C:2015:148).