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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

6. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit in Unterhaltssachen – Verordnung (EG) Nr. 4/2009 – Art. 12 Abs. 1 – Rechtshängigkeit – Art. 13 – Zusammenhang der Verfahren – Begriff“

In der Rechtssache C‑381/23 [Geterfer](1)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 2023, in dem Verfahren

ZO

gegen

JS

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, des Richters J.‑C. Bonichot und der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Vondung und W. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen ZO, einem während des Verfahrens volljährig gewordenen Kind, und seiner Mutter JS wegen der Zahlung von Unterhalt.

 Verordnung Nr. 4/2009

3        In den Erwägungsgründen 15 und 44 der Verordnung Nr. 4/2009 heißt es:

„(15)      Um die Interessen der Unterhaltsberechtigten zu wahren und eine ordnungsgemäße Rechtspflege innerhalb der Europäischen Union zu fördern, sollten die Vorschriften über die Zuständigkeit, die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] ergeben, angepasst werden …

(44)      Diese Verordnung sollte die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ändern, indem sie deren auf Unterhaltssachen anwendbare Bestimmungen ersetzt. Vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen dieser Verordnung sollten die Mitgliedstaaten bei Unterhaltssachen, ab dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit dieser Verordnung die Bestimmungen dieser Verordnung über die Zuständigkeit, die Anerkennung, die Vollstreckbarkeit und die Vollstreckung von Entscheidungen und über die Prozesskostenhilfe anstelle der entsprechenden Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 anwenden.“

4        Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 sieht vor:

„Diese Verordnung findet Anwendung auf Unterhaltspflichten, die auf einem Familien‑, Verwandtschafts- … oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen.“

5        Kapitel II („Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 4/2009 umfasst die Art. 3 bis 14.

6        Art. 3 der Verordnung Nr. 4/2009 bestimmt:

„Zuständig für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten ist

a)      das Gericht des Ortes, an dem der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

b)      das Gericht des Ortes, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

c)      das Gericht, das nach seinem Recht für ein Verfahren in Bezug auf den Personenstand zuständig ist, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist, es sei denn, diese Zuständigkeit begründet sich einzig auf der Staatsangehörigkeit einer der Parteien, …

…“

7        Art. 12 („Rechtshängigkeit“) der Verordnung Nr. 4/2009 lautet:

„(1)      Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.

(2)      Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.“

8        Art. 13 („Aussetzung wegen Sachzusammenhang“) der Verordnung Nr. 4/2009 lautet:

„(1)      Sind bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren, die im Zusammenhang stehen, anhängig, so kann jedes später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen.

(2)      Sind diese Verfahren in erster Instanz anhängig, so kann sich jedes später angerufene Gericht auf Antrag einer Partei auch für unzuständig erklären, wenn das zuerst angerufene Gericht für die betreffenden Verfahren zuständig ist und die Verbindung der Verfahren nach seinem Recht zulässig ist.

(3)      Verfahren stehen im Sinne dieses Artikels im Zusammenhang, wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.“

9        In Art. 24 („Gründe für die Versagung der Anerkennung“) Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 4/2009 heißt es:

„Eine Entscheidung wird nicht anerkannt,

c)      wenn sie mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist“.

10      Aus Art. 68 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 ergibt sich, dass mit dieser Verordnung vorbehaltlich der in ihrem Art. 75 Abs. 2 vorgesehenen Übergangsbestimmungen die Verordnung Nr. 44/2001 dahin geändert wird, dass deren für Unterhaltssachen geltende Bestimmungen ersetzt werden.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11      ZO, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, wurde im November 2001 während der Ehe zwischen ihrem Vater und JS, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, geboren. Diese Ehe wurde im November 2010 endgültig aufgelöst.

12      Der Vater von ZO wohnt in Deutschland, während ihre Mutter in Belgien wohnt.

13      Nach der Trennung ihrer Eltern lebte ZO zunächst bei ihrer Mutter, wobei ihr Vater an ihre Mutter gemäß einem Urteil des Tribunal de première instance d’Eupen (Gericht Erster Instanz Eupen, Belgien) vom 17. Dezember 2014 einen monatlichen Unterhalt für ZO und ihren Bruder zu zahlen hatte.

14      Mit Urteil vom 31. August 2017 übertrug das Tribunal de première instance d’Eupen (Gericht Erster Instanz Eupen) dem Vater das „Hauptbeherbergungsrecht“.

15      ZO hält sich während der Woche in Deutschland im Internat und während der Schulferien hauptsächlich bei ihrem Vater auf. Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hat ZO weiter eine Adresse in der Gemeinde, in der ihre Mutter in Belgien wohnt, sie lehnt einen Kontakt zu ihr aber ab.

16      Im Ausgangsverfahren verlangt ZO von ihrer Mutter die Zahlung eines noch zu beziffernden Unterhalts für den Zeitraum ab November 2017 bis zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt. Die Mutter erhebt eine Einrede der Rechtshängigkeit.

17      Zum Zeitpunkt der Einleitung des Ausgangsverfahrens war nämlich bereits ein von der Mutter gegen den Vater von ZO eingeleitetes Verfahren vor dem Tribunal de première instance d’Eupen (Gericht Erster Instanz Eupen) anhängig. Im Rahmen dieses Verfahrens macht die Mutter einen Ausgleichsanspruch wegen der Unterbringung und des Unterhalts geltend, den sie für ihre Tochter vom 1. August 2017 bis zum 31. Dezember 2018 geleistet habe.

18      Mit Beschluss vom 3. November 2021 erklärte sich das Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt (Deutschland) nach Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 4/2009 für zuständig, über den Antrag von ZO zu entscheiden. Es wies diesen Antrag aber wegen Rechtshängigkeit als unzulässig zurück, da zuvor von der Mutter ein Verfahren beim Tribunal de première instance d’Eupen (Gericht Erster Instanz Eupen) anhängig gemacht worden sei. Das Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt wies u. a. darauf hin, dass beide Verfahren die Gewährung von Kindesunterhalt zum Gegenstand hätten und dass in Belgien die Eltern gemäß den Art. 203 und 203bis des Zivilgesetzbuchs aufgrund einer gegenseitigen Beitragspflicht verpflichtet seien, ihre Kinder bis zum Abschluss ihrer Ausbildung zu unterhalten, auch über den Eintritt der Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahrs hinaus.

19      Mit Beschluss vom 26. April 2022 gab das Oberlandesgericht Düsseldorf (Deutschland) der Beschwerde von ZO gegen den Beschluss des Amtsgerichts Mönchengladbach-Rheydt mit der Begründung statt, dass beide Verfahren nicht dieselben Parteien, nicht denselben Gegenstand und auch nicht denselben Anspruch beträfen. Es verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt zurück.

20      Das Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt, das vorlegende Gericht, vertritt unter Bezugnahme auf das Urteil vom 19. Mai 1998, Drouot assurances (C‑351/96, EU:C:1998:242), die Auffassung, dass die Interessen der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens und ihres Vaters, des Antragsgegners des Verfahrens vor dem Tribunal de première instance d’Eupen (Gericht Erster Instanz Eupen), so weit übereinstimmten, dass diese Personen für die Zwecke der Rechtshängigkeit als ein und dieselbe Partei anzusehen seien. Außerdem hätten die beiden anhängigen Verfahren denselben Gegenstand, nämlich eine Klage auf Unterhaltszahlung. Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 12 der Verordnung Nr. 4/2009 und der Anwendung von Art. 12 im Ausgangsverfahren.

21      Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Liegt eine anderweitige Rechtshängigkeit mit demselben Gegenstand nach der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 vor, wenn in Belgien ein Verfahren zwischen dem Kindesvater und der Kindesmutter auf Kindesunterhalt geführt wird, während in Deutschland zeitlich später ein Verfahren auf Kindesunterhalt von dem mittlerweile volljährigen Kind gegen die Kindesmutter geführt wird?

 Zur Vorlagefrage

22      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Situation der Rechtshängigkeit, nach denen die Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden müssen, erfüllt sind, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Kind, das zwischenzeitlich volljährig geworden ist, bei einem Gericht eines Mitgliedstaats zulasten seiner Mutter die Zahlung von Unterhalt beantragt, die Mutter bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats bereits einen Antrag gestellt hat, mit dem sie vom Vater des Kindes einen Ausgleich wegen der Unterbringung und des Unterhalts des Kindes verlangt.

23      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 4/2009, wie sich aus ihrem Art. 68 Abs. 1 und Art. 75 Abs. 2 ergibt, in Unterhaltssachen an die Stelle der Verordnung Nr. 44/2001 getreten ist, die ihrerseits zwischen den Mitgliedstaaten an die Stelle des Übereinkommens von Brüssel vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der aufeinanderfolgenden Übereinkommen über den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen (im Folgenden: Übereinkommen von Brüssel) getreten war.

24      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen geltend gemacht hat, gilt die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung der Bestimmungen eines dieser Rechtsinstrumente auch für die Auslegung der anderen Rechtsinstrumente, soweit diese Bestimmungen als „gleichwertig“ angesehen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2022, London Steam-Ship Owners Mutual Insurance Association, C‑700/20, EU:C:2022:488, Rn. 42).

25      Dies ist bei den Bestimmungen über die Rechtshängigkeit der Fall, die in Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens von Brüssel, in Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 sowie in Unterhaltssachen in Art. 12 der Verordnung Nr. 4/2009 enthalten sind und ähnlich formuliert sind.

26      So sieht Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 entsprechend Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens von Brüssel und Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 vor, dass dann, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden, das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aussetzt, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.

27      Diese Rechtshängigkeitsregel soll ebenso wie die in Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens von Brüssel und in Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege, worauf insbesondere im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 4/2009 hingewiesen wird, die Möglichkeit von Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten verringern und verhindern, dass miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen, wenn mehrere Gerichte für die Entscheidung desselben Rechtsstreits zuständig sind (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Oktober 2004, Mærsk Olie & Gas, C‑39/02, EU:C:2004:615, Rn. 31, und vom 22. Oktober 2015, Aannemingsbedrijf Aertssen und Aertssen Terrassements, C‑523/14, EU:C:2015:722, Rn. 39).

28      Mithin soll Art. 12 der Verordnung Nr. 4/2009 so weit wie möglich eine Situation ausschließen, wie sie in Art. 24 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung geregelt ist, nämlich die Nichtanerkennung einer Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung, die zwischen denselben Parteien in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 14. Oktober 2004, Mærsk Olie & Gas, C‑39/02, EU:C:2004:615, Rn. 31).

29      Dieser Mechanismus zur Lösung von Fällen der Rechtshängigkeit weist einen objektiven und automatischen Charakter auf und stützt sich auf die zeitliche Abfolge, in der die betreffenden Gerichte angerufen worden sind (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Oktober 2015, Aannemingsbedrijf Aertssen und Aertssen Terrassements, C‑523/14, EU:C:2015:722, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Im Übrigen müssen in Anbetracht des Umstands, dass Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 nicht auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verweist, sondern als Elemente der Definition einer Situation der Rechtshängigkeit auf mehrere materielle Voraussetzungen Bezug nimmt, die in diesem Art. 12 verwendeten Begriffe als autonom verstanden werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 8. Dezember 1987, Gubisch Maschinenfabrik, 144/86, EU:C:1987:528, Rn. 11).

31      Wie sich aus dem in Rn. 26 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 ergibt, müssen zur Umschreibung der Rechtshängigkeit mehrere kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Diese steht somit fest, wenn die Verfahren „zwischen denselben Parteien“ wegen „desselben Anspruchs“ anhängig gemacht werden.

32      Im Ausgangsverfahren möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Voraussetzungen in Bezug auf die Identität der Parteien und die Identität des Anspruchsgegenstands in den beiden anhängigen Parallelverfahren erfüllt sind.

33      Was als Erstes die Voraussetzung betrifft, dass die Verfahren zwischen „denselben Parteien“ anhängig gemacht werden müssen, rühren die vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel daher, dass, während sich in dem Rechtsstreit vor dem Tribunal de première instance d’Eupen (Gericht Erster Instanz Eupen) die Mutter und der Vater des Kindes gegenüberstehen, sich in dem Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht das zwischenzeitlich volljährig gewordene Kind und seine Mutter gegenüberstehen, so dass diese Parteien in formaler Hinsicht nicht identisch sind.

34      Insoweit hat der Gerichtshof zwar bereits entschieden, dass es grundsätzlich darauf ankommt, dass die Parteien der Rechtsstreitigkeiten identisch sind, unabhängig von ihrer Stellung in den beiden Parallelverfahren (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 22. Oktober 2015, Aannemingsbedrijf Aertssen und Aertssen Terrassements, C‑523/14, EU:C:2015:722, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Wie das vorlegende Gericht ausführt, hat der Gerichtshof im Urteil vom 19. Mai 1998, Drouot assurances (C‑351/96, EU:C:1998:242, Rn. 19, 23 und 25), das die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens von Brüssel betraf, jedoch anerkannt, dass in formaler Hinsicht verschiedene Parteien, nämlich ein Versicherer und sein Versicherter, hinsichtlich des Gegenstands der betreffenden beiden Rechtsstreitigkeiten Interessen haben können, die so weit übereinstimmen und voneinander untrennbar sind, dass ein Urteil, das gegen die eine Partei ergeht, Rechtskraft gegenüber der anderen entfalten würde, so dass sie für die Anwendung dieser Bestimmung als ein und dieselbe Partei anzusehen sind.

36      Eine entsprechende Auslegung des Begriffs „dieselben Parteien“ kann im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 zugrunde gelegt werden.

37      Denn unter Berücksichtigung des materiellen Gegenstands der Verordnung Nr. 4/2009, die nach ihrem Art. 1 Abs. 1 Unterhaltspflichten betrifft, die auf einem Familien‑, Verwandtschafts‑, Ehe- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen, und somit häufig Unterhaltsansprüche eines minderjährigen Kindes betrifft, die von anderen Personen wie z. B. einem Elternteil oder einer öffentlichen Einrichtung, auf die die Ansprüche dieser berechtigten Person gesetzlich übergegangen sind, erhoben werden, ist anzuerkennen, dass in bestimmten Situationen Parteien, die in formaler Hinsicht voneinander verschieden sind, hinsichtlich des Gegenstands der betreffenden beiden Rechtsstreitigkeiten ein so weit übereinstimmendes und voneinander untrennbares Interesse, nämlich das Interesse des betroffenen Kindes als Unterhaltsberechtigtem, haben können, dass ein Urteil, das gegen eine dieser Parteien ergeht, Rechtskraft gegenüber der anderen entfalten würde. In einem solchen Fall müssen diese Parteien als ein und dieselbe Partei im Sinne von Art. 12 der Verordnung angesehen werden können.

38      Für diese Auslegung spricht auch Art. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 4/2009. Denn nach dieser Bestimmung ist es möglich, eine Unterhaltsklage auch in der Nebensache im Rahmen eines den Personenstand betreffenden Verfahrens wie eines Scheidungsverfahrens zu erheben, bei dem die Parteien notwendigerweise die Eltern des betreffenden Kindes sind und zumindest einer von ihnen die Interessen des Kindes in dem die Unterhaltspflicht betreffenden Annexverfahren vertritt.

39      Im Ausgangsverfahren wird sich das vorlegende Gericht daher zu vergewissern haben, ob in Anbetracht des Gegenstands der Parallelverfahren und des Umstands, dass die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens im Laufe des Verfahrens volljährig geworden ist, die Interessen dieser Antragstellerin so untrennbar mit denen ihres Vaters, des Antragsgegners vor dem Tribunal de première instance d’Eupen (Gericht Erster Instanz Eupen), verbunden sind, dass ein Urteil, das gegen die eine dieser Parteien ergeht, Rechtskraft gegenüber der anderen entfalten würde.

40      Was als Zweites die Voraussetzung betrifft, dass die Verfahren denselben Gegenstand haben müssen, ist darauf hinzuweisen, dass diese Voraussetzung bedeutet, dass die Verfahren auf dasselbe Ziel gerichtet sein müssen, wobei die jeweiligen Klageansprüche in den Rechtsstreitigkeiten und nicht die möglicherweise vom Beklagten vorgebrachten Einwendungen zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 8. Mai 2003, Gantner Electronic, C‑111/01, EU:C:2003:257, Rn. 25 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Mutter vor dem Tribunal de première instance d’Eupen (Gericht Erster Instanz Eupen) vom Vater die Erstattung der Kosten für die Unterbringung und den Unterhalt ihrer Tochter verlangt, die zwischen dem 1. August 2017 und dem 31. Dezember 2018 entstanden sind, wohingegen die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens vor dem vorlegenden Gericht von ihrer Mutter die Barzahlung von Unterhalt für einen vom 1. November 2017 bis zu einem nicht genannten Zeitpunkt reichenden Zeitraum verlangt, der sich über den November 2019 hinaus fortsetzen kann, dem Monat, in dem die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens volljährig geworden ist.

42      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen geltend gemacht hat, ist deshalb nicht ersichtlich, dass die in jedem der Parallelverfahren gestellten Anträge denselben Gegenstand haben. Denn diese Rechtsstreitigkeiten betreffen zwar allgemein die Zahlung von Unterhalt, doch haben die Ansprüche der Antragstellerinnen nicht dasselbe Ziel, und sie betreffen nicht denselben Zeitraum.

43      Da die in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 genannten Voraussetzungen kumulativ sind, kann unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen eine Situation der Rechtshängigkeit nicht festgestellt werden.

44      Dies vorausgeschickt, ist hervorzuheben, dass das Nichtvorliegen einer Situation der Rechtshängigkeit, wie die Kommission zu Recht vorgetragen hat, der Anwendung von Art. 13 der Verordnung Nr. 4/2009 nicht entgegensteht, wenn das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass zwischen den fraglichen Verfahren eine so enge Beziehung besteht, dass sie im Sinne von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung im Zusammenhang stehen, so dass das vorlegende Gericht als später angerufenes Gericht das Verfahren aussetzen könnte.

45      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen der Anerkennung einer Situation der Rechtshängigkeit, nach denen die Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden müssen, nicht erfüllt sind, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Kind, das zwischenzeitlich volljährig geworden ist, bei einem Gericht eines Mitgliedstaats zulasten seiner Mutter die Zahlung von Unterhalt beantragt, die Mutter bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats bereits einen Antrag gestellt hat, mit dem sie vom Vater des Kindes einen Ausgleich wegen der Unterbringung und des Unterhalts des Kindes verlangt, da die Ansprüche der Antragsteller nicht dasselbe Ziel verfolgen und sich in zeitlicher Hinsicht nicht decken. Das Nichtvorliegen einer Situation der Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 steht der Anwendung von Art. 13 der Verordnung jedoch nicht entgegen, wenn zwischen den fraglichen Verfahren eine so enge Beziehung besteht, dass sie im Sinne von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung im Zusammenhang stehen, so dass das vorlegende Gericht als später angerufenes Gericht das Verfahren aussetzen könnte.

 Kosten

46      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen

ist dahin auszulegen, dass

die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen der Anerkennung einer Situation der Rechtshängigkeit, nach denen die Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden müssen, nicht erfüllt sind, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Kind, das zwischenzeitlich volljährig geworden ist, bei einem Gericht eines Mitgliedstaats zulasten seiner Mutter die Zahlung von Unterhalt beantragt, die Mutter bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats bereits einen Antrag gestellt hat, mit dem sie vom Vater des Kindes einen Ausgleich wegen der Unterbringung und des Unterhalts des Kindes verlangt, da die Ansprüche der Antragsteller nicht dasselbe Ziel verfolgen und sich in zeitlicher Hinsicht nicht decken. Das Nichtvorliegen einer Situation der Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 steht der Anwendung von Art. 13 der Verordnung jedoch nicht entgegen, wenn zwischen den fraglichen Verfahren eine so enge Beziehung besteht, dass sie im Sinne von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung im Zusammenhang stehen, so dass das vorlegende Gericht als später angerufenes Gericht das Verfahren aussetzen könnte.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.


1      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.