Language of document : ECLI:EU:T:2016:223

Vorläufige Fassung

Rechtssache T‑44/14

Bruno Costantini u. a.

gegen

Europäische Kommission

„Institutionelles Recht – Europäische Bürgerinitiative – Sozialpolitik – Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse – Art. 352 AEUV – Ablehnung der Registrierung – Offenkundiges Fehlen von Befugnissen der Kommission – Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Begründungspflicht“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 19. April 2016

1.      Unionsbürgerschaft – Bürgerrechte – Einreichung einer Bürgerinitiative – Verordnung Nr. 211/2011 – Bedingungen für die Registrierung – Vorschlag, der im Rahmen der Befugnisse der Kommission liegen muss

(Art. 5 EUV und 13 Abs. 2 EUV; Verordnung Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 Buchst. b)

2.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind – Definition der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse – Ermessen der Mitgliedstaaten – Grenzen – Auf offenkundige Fehler beschränkte Kontrolle durch die Kommission – Möglichkeit für die Kommission, einen Vorschlag für einen Rechtsakt vorzulegen, der darauf gerichtet ist, die Langzeitpflege als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse einzustufen, die von der Anwendung der Vorschriften über den Binnenmarkt ausgeschlossen ist – Fehlen

(Art. 14 AEUV und 106 AEUV)

3.      Sozialpolitik – Zuständigkeit der Union – Erlass von Rechtsakten, die sich an andere Personengruppen als Arbeitnehmer richten – Ausschluss

(Art. 153 AEUV)

4.      Gerichtliches Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Ermittlung des Streitgegenstands – Kurze Darstellung der Klagegründe

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 21 Abs. 1 und 53 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1 Buchst. c)

5.      Handlungen der Organe – Wahl der Rechtsgrundlage – Kriterien – Art. 352 AEUV – Grenzen – Anwendung im Rahmen einer geplanten Bürgerinitiative – Voraussetzungen

(Art. 352 AEUV; Verordnung Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 10 Abs. 1 Buchst. c)

6.      Organe der Europäischen Union – Ausübung der Zuständigkeiten – Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung – Pflicht zur Berücksichtigung der zu ähnlichen Anträgen ergangenen Entscheidungen – Grenzen – Gebot rechtmäßigen Handelns

7.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Fehlende oder unzureichende Begründung – Abgrenzung vom offensichtlichen Beurteilungsfehler

(Art. 263 AEUV und 296 AEUV)

8.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Beschluss der Kommission, mit dem die Eintragung einer geplanten Bürgerinitiative abgelehnt wird

(Art. 24 Abs. 1 AEUV und 296 AEUV; Verordnung Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erster Erwägungsgrund und Art. 4 Abs. 3)

1.      Nach Art. 5 EUV gilt für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, und nach Art. 13 Abs. 2 EUV handelt jedes Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse. In diesem Zusammenhang stellt Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 über die Bürgerinitiative die Bedingung auf, dass die geplante Bürgerinitiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liegen darf, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen.

Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift geht hervor, dass die Kommission im Rahmen einer ersten Prüfung der ihr vorliegenden Informationen beurteilen muss, ob die geplante Bürgerinitiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens ihrer Befugnisse liegt, wobei im Fall der Registrierung der Bürgerinitiative eine umfassendere Prüfung stattfindet.

(vgl. Rn. 16, 17)

2.      Die Mitgliedstaaten sind berechtigt, unter Beachtung des Rechts der Union den Umfang und die Organisation ihrer Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu bestimmen. Sie verfügen über ein weites Ermessen bei der Definition dessen, was sie als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erachten, und die Definition dieser Dienstleistungen durch einen Mitgliedstaat kann von der Kommission nur im Fall eines offenkundigen Fehlers in Frage gestellt werden. Diese Befugnis des Mitgliedstaats zur Definition der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse wird sowohl durch das Fehlen einer der Union speziell zugewiesenen Befugnis als auch durch das Fehlen einer präzisen und vollständigen unionsrechtlichen Definition des Begriffs dieser Dienstleistungen bestätigt.

Im Licht dieser Gegebenheiten konnte die Kommission zu Recht den Schluss ziehen, dass sie offenkundig keinen auf Art. 14 AEUV gestützten Vorschlag für einen Rechtsakt vorlegen konnte, der darauf gerichtet ist, die Langzeitpflege als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse einzustufen.

Hinsichtlich der Ausnahme dieser Pflege vom Anwendungsbereich der Vorschriften über den Binnenmarkt geht aus Art. 14 AEUV hervor, dass die darin enthaltenen speziellen Vorschriften unbeschadet des Art. 106 AEUV auf die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse anwendbar sind. Gemäß Art. 106 Abs. 2 AEUV gelten auch für Unternehmen, die mit solchen Dienstleistungen betraut sind, die Vorschriften der Verträge, insbesondere jene über den Binnenmarkt und den Wettbewerb. Von diesem Grundsatz kann nur unter sehr strengen Voraussetzungen abgewichen werden, deren Vorliegen von den rechtlichen und tatsächlichen Umständen in jedem Mitgliedstaat abhängt und im Einzelfall vom Mitgliedstaat oder Unternehmen, der bzw. das sich auf sie beruft, nachgewiesen werden muss. Daraus folgt, dass die Kommission nicht generell vorschlagen kann, Dienstleistungen, deren Einordnung als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse von der von jedem Mitgliedstaat verfolgten nationalen Politik abhängt, von der Anwendung der Vorschriften über den Binnenmarkt auszunehmen.

(vgl. Rn. 24-26)

3.      Art. 153 AEUV deckt den Anwendungsbereich der durch die geplante Europäische Bürgerinitiative zum Recht auf Langzeitpflege erwarteten Maßnahmen nur teilweise ab, weil diese Bestimmung, die sich ausdrücklich und ausschließlich an die Arbeitnehmer richtet, den Erlass von Rechtsakten, die andere Personengruppen betreffen, nicht erlaubt. Daher kann Art. 153 AEUV an sich keine Rechtsgrundlage für den Erlass eines Rechtsakts sein, der die Langzeitpflege allgemein in der Union sicherstellen möchte.

(vgl. Rn. 39)

4.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 46)

5.      Art. 352 AEUV kann als integrierender Bestandteil einer auf dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung beruhenden institutionellen Ordnung keine Grundlage dafür bieten, den Bereich der Unionsbefugnisse über den allgemeinen Rahmen hinaus auszudehnen, der sich aus der Gesamtheit der Vertragsbestimmungen und insbesondere denjenigen ergibt, die die Aufgaben und Tätigkeiten der Union festlegen. Diese Bestimmung kann jedenfalls nicht als Rechtsgrundlage für den Erlass von Bestimmungen dienen, die der Sache nach, gemessen an ihren Folgen, auf eine Vertragsänderung ohne Einhaltung des hierfür vom Vertrag vorgesehenen Verfahrens hinausliefen. Daraus folgt, dass die Anwendung dieser Bestimmung an die Einhaltung bestimmter Bedingungen geknüpft ist, damit die in den Verträgen festgelegte Abgrenzung der Zuständigkeiten gewahrt und nicht durch den Erlass eines abgeleiteten Rechtsakts in Frage gestellt wird.

Ferner schließen weder Art. 352 AEUV noch die Verordnung Nr. 211/2011 über die Bürgerinitiative die Anwendung von Art. 352 AEUV im Rahmen einer Europäischen Bürgerinitiative aus.

Dennoch kann das dem Mechanismus der Europäischen Bürgerinitiative zugrunde liegende Ziel der demokratischen Teilhabe der Unionsbürger nicht den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung in Frage stellen und die Union zum Erlass von Rechtsvorschriften auf einem Gebiet ermächtigen, das nicht in den ihr zugewiesenen Zuständigkeitsbereich fällt. Folglich gelten die in Art. 352 AEUV aufgestellten Bedingungen auch im Rahmen einer geplanten Europäischen Bürgerinitiative. Somit hat die Kommission zu prüfen, ob in Bezug auf eine Europäische Bürgerinitiative offenkundig ist, dass sie einen auf diese Bestimmung gestützten Rechtsakt nicht vorschlagen kann. Dies greift der Beurteilung der Notwendigkeit eines solchen Rechtsakts durch die Organe jedoch nicht vor, soweit diese Beurteilung nach der Registrierung der geplanten Europäischen Bürgerinitiative erfolgen und erforderlichenfalls in der Mitteilung nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 211/2011 wiedergegeben werden kann.

(vgl. Rn. 51-53)

6.      Die Organe müssen ihre Befugnisse im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, wie dem Grundsatz der Gleichbehandlung und dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, ausüben und in Anbetracht dieser Grundsätze die zu ähnlichen Anträgen ergangenen Entscheidungen berücksichtigen sowie besonderes Augenmerk auf die Frage richten, ob im gleichen Sinne zu entscheiden ist oder nicht. Der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung muss dennoch mit dem Gebot rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden.

(vgl. Rn. 60)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 65, 67)

8.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 68, 69, 72, 73)