Language of document : ECLI:EU:C:2016:835

Rechtssache C554/14

Strafverfahren

gegen

Atanas Ognyanov

(Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Art. 17 – Für die Vollstreckung einer Sanktion maßgebliches Recht – Auslegung einer nationalen Vorschrift des Vollstreckungsstaats, die eine Verkürzung der Freiheitsstrafe aufgrund der von der verurteilten Person während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleisteten Arbeit vorsieht – Rechtswirkungen der Rahmenbeschlüsse – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. November 2016

1.        Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/909 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen – Art. 17 – Für die Vollstreckung einer Sanktion maßgebliches Recht – Auslegung einer nationalen Vorschrift durch den Vollstreckungsstaat dahin, dass sie eine Verkürzung der Freiheitsstrafe aufgrund der von der verurteilten Person während ihrer Haft im Ausstellungsstaat geleisteten Arbeit vorsieht – Unzulässigkeit

(Rahmenbeschluss 2008/909 des Rates, Art. 17 Abs. 1 und 2)

2.        Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/909 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen – Umsetzung durch die Mitgliedstaaten – Rechtswirkungen der Rahmenbeschlüsse – Verpflichtung, das nationale Recht unionrechtskonform auszulegen

(Rahmenbeschluss 2008/909 des Rates)

1.      Art. 17 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die in der Weise ausgelegt wird, dass sie den Vollstreckungsstaat berechtigt, der verurteilten Person aufgrund der während ihrer Haft im Ausstellungsstaat von ihr geleisteten Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren, obwohl die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats nach dessen Recht eine solche Strafverkürzung nicht gewährt haben.

Es ist nämlich Sache des Ausstellungsstaats, vor der Anerkennung des die Sanktion verhängenden Urteils durch den und vor der Überstellung der verurteilten Person in den Vollstreckungsstaat, die auf den im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats zurückgelegten Haftzeitraum entfallenden Strafverkürzungen festzulegen. Nur der Ausstellungsstaat ist befugt, für die vor der Überstellung geleistete Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren und gegebenenfalls in der Bescheinigung nach Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dem Vollstreckungsstaat diese Verkürzung mitzuteilen. Daher darf der Vollstreckungsstaat in Bezug auf den Teil der Strafe, den die betroffene Person bereits im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats verbüßt hat, nicht rückwirkend sein Strafvollzugsrecht und insbesondere seine Vorschriften über Strafverkürzungen anstelle des Rechts des Ausstellungsstaats anwenden. Eine gegenteilige Auslegung könnte die mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 verfolgten Ziele beeinträchtigen, zu denen insbesondere der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gehört, der nach dem ersten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses in Verbindung mit Art. 82 Abs. 1 AEUV den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union bildet.

(vgl. Rn. 44, 46, 51, Tenor 1)

2.      Der Rahmenbeschlusses 2008/909 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, der im vorliegenden Fall anwendbar ist, wurde auf der Grundlage des ehemaligen dritten Pfeilers der Union, u. a. gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU, erlassen. Gemäß dieser Bestimmung in Verbindung mit dem den Verträgen beigefügten Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen, das mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen wurde, haben die Rahmenbeschlüsse keine unmittelbare Wirkung, bis sie in Anwendung dieses Vertrags nicht aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden. Der Rahmenbeschluss 2008/909 wurde nicht in dieser Weise aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert. Folglich hat er keine unmittelbare Wirkung.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und sie so weit wie möglich im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 auslegen muss, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen, wobei es erforderlichenfalls aus eigener Entscheidungsbefugnis die von einem letztinstanzlichen nationalen Gericht vorgenommene Auslegung unangewandt lässt, wenn diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

(vgl. Rn. 56, 57, 71, Tenor 2)