Language of document : ECLI:EU:T:2011:68

Rechtssache T-110/07

Siemens AG

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Projekte im Bereich gasisolierter Schaltanlagen – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt wird – Aufteilung des Marktes – Wirkungen innerhalb des Gemeinsamen Marktes – Begriff der dauernden Zuwiderhandlung – Dauer der Zuwiderhandlung – Verjährung – Geldbußen – Verhältnismäßigkeit – Erschwerende Umstände – Rolle als Anführer – Mildernde Umstände – Kooperation“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Kartelle – Abgestimmte Verhaltensweise – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilungskriterien – Wettbewerbsfeindlichkeit – Hinreichende Feststellung

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53 Abs. 1)

2.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Unschuldsvermutung – Verfahren in Wettbewerbssachen – Anwendbarkeit

(Art. 81 Abs. 1 EG; Art. 6 Abs. 2 EU)

3.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Art des Nachweises – Indizienbündel

(Art. 81 Abs. 1 EG)

4.      Wettbewerb – Kartelle – Vereinbarungen zwischen Unternehmen – Nachweis der Zuwiderhandlung – Vorlage von Erklärungen anderer beschuldigter Unternehmen durch die Kommission – Zulässigkeit

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

5.      Wettbewerb – Kartelle – Vereinbarungen zwischen Unternehmen – Nachweis der Zuwiderhandlung – Beurteilung des Beweiswerts eines Schriftstücks – Kriterien

(Art. 81 Abs. 1 EG)

6.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Beweislast der Kommission für die Zuwiderhandlung und ihre Dauer

(Art. 81 Abs. 1 EG; Mitteilung 2002/C 45/03 der Kommission)

7.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Vorlage weiterer Beweise nach Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 25)

8.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Beweislast der Kommission für die Zuwiderhandlung und ihre Dauer – Umfang der Beweislast

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 25)

9.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Tragweite dieses Grundsatzes – Grenzen – Anspruch des Unternehmens auf Befragung von Belastungszeugen – Ausschluss

(Art. 81 Abs. 1 EG)

10.    Wettbewerb – Kartelle – Beteiligung eines Unternehmens an einem Kartell

(Art. 81 Abs. 1 EG)

11.    Wettbewerb – Kartelle – Zuwiderhandlung – Einheitlicher Charakter der Zuwiderhandlung – Beurteilungskriterien

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 25 Abs. 2)

12.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1  Buchst. A Abs. 4 und 6)

13.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Fehlen einer zwingenden oder abschließenden Liste von Kriterien

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

14.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Ermessensspielraum der Kommission – Anhebung des allgemeinen Niveaus der Geldbußen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

15.    Wettbewerb – Geldbußen – Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden – Begründungspflicht – Umfang

(Art. 253 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

16.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Erschwerende Umstände – Rolle als Anführer oder Anstifter der Zuwiderhandlung

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 2 dritter Gedankenstrich)

17.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Erschwerende Umstände – Rolle als Anführer der Zuwiderhandlung

(Art. 81 Abs. 1 EG)

18.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Nichtverhängung oder Herabsetzung einer Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 2002/C 45/03 der Kommission, Nrn. 22 und 29)

1.      Für die Beurteilung der Frage, ob eine abgestimmte Verhaltensweise nach Art. 81 Abs. 1 EG verboten ist, brauchen deren konkrete Auswirkungen nicht berücksichtigt zu werden, wenn sich ergibt, dass sie eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezweckt. Dies gilt für Art. 53 Abs. 1 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum entsprechend.

(vgl. Randnr. 40)

2.      Der Grundsatz der Unschuldsvermutung, wie er sich insbesondere aus Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, gehört zu den Grundrechten, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die im Übrigen durch Art. 6 Abs. 2 EU erneut bekräftigt worden ist, allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellen.

Der Grundsatz der Unschuldsvermutung ist angesichts der Art der fraglichen Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der für sie verhängten Sanktionen in Verfahren wegen Verstößen gegen die für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln anwendbar, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können. Dieser Grundsatz ist im Rahmen einer Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der eine Geldbuße verhängt wird, zu berücksichtigen. Ein etwaiger Zweifel des Gerichts muss dem Unternehmen zugutekommen, an das die Entscheidung gerichtet ist, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird. Das Gericht kann daher nicht davon ausgehen, dass die Kommission das Vorliegen der betreffenden Zuwiderhandlung rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, wenn bei ihm noch Zweifel in dieser Hinsicht bestehen; dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um eine Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung zur Verhängung einer Geldbuße handelt.

(vgl. Randnrn. 44-45)

3.      Auf dem Gebiet des Wettbewerbs ist es erforderlich, dass die Kommission aussagekräftige und übereinstimmende Beweise beibringt, um das Vorliegen der Zuwiderhandlung nachzuweisen und die feste Überzeugung zu begründen, dass die behaupteten Verstöße eine spürbare Einschränkung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG darstellen. Jedoch muss nicht jeder von der Kommission erbrachte Beweis notwendigerweise für jeden Teil der Zuwiderhandlung diesen Kriterien entsprechen. Es genügt, wenn ein von der Kommission angeführtes Bündel von Indizien im Ganzen betrachtet dem genannten Erfordernis entspricht. Das Vorliegen einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise oder Vereinbarung kann folglich aus einer Reihe von Koinzidenzen und Indizien abgeleitet werden, die bei einer Gesamtbetrachtung mangels einer anderen schlüssigen Erklärung den Beweis für eine Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellen können.

Stützt sich die Kommission für ihre Feststellung, dass eine Zuwiderhandlung vorlag, ausschließlich auf das Marktverhalten der Unternehmen, genügt es für diese, das Vorliegen von Umständen nachzuweisen, die den von der Kommission festgestellten Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen lassen und damit eine andere plausible Erklärung der Tatsachen ermöglichen, aus denen die Kommission auf die Begehung einer Zuwiderhandlung gegen die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln geschlossen hat. Eine andere Sachverhaltserklärung ist jedoch nur erheblich, wenn sich die Kommission ausschließlich auf das Verhalten der betreffenden Unternehmen auf dem Markt stützt. Sie ist demnach unerheblich, sobald das Vorliegen der Zuwiderhandlung nicht nur vermutet, sondern aufgrund von Beweisen festgestellt wird. Im Übrigen sind nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung für den Nachweis einer Zuwiderhandlung alle Beweismittel zulässig, so dass das Bestehen einer anderen Erklärung dann unerheblich ist, wenn die Zuwiderhandlung rechtlich hinreichend durch andere Beweise als schriftliche Beweisstücke nachgewiesen wird.

(vgl. Randnrn. 46-49, 51)

4.      Für die Beweismittel, die für den Nachweis der Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) angeführt werden können, gilt im Gemeinschaftsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Insbesondere untersagt keine Bestimmung und kein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts der Kommission, gegen ein Unternehmen die Erklärungen anderer beschuldigter Unternehmen zu verwenden. Andernfalls wäre die der Kommission obliegende Beweislast für Verhaltensweisen, die den Art. 81 EG und 82 EG zuwiderlaufen, nicht tragbar und mit der ihr vom Vertrag übertragenen Aufgabe, die richtige Anwendung dieser Bestimmungen zu überwachen, nicht zu vereinbaren.

(vgl. Randnr. 50)

5.      Im Wettbewerbsrecht ist das allein maßgebliche Kriterium für die Beurteilung der von einer Partei vorgelegten Beweise deren Glaubwürdigkeit. Nach den allgemein anerkannten Beweisregeln hängt die Glaubwürdigkeit und damit der Beweiswert eines Schriftstücks von seiner Herkunft, den Umständen seiner Entstehung, seinem Adressaten und davon ab, ob es seinem Inhalt nach vernünftig und glaubwürdig wirkt. Große Bedeutung kommt insbesondere dem Umstand zu, dass ein Schriftstück in unmittelbarem Zusammenhang mit den Vorgängen oder von einem unmittelbaren Zeugen dieser Vorgänge erstellt wurde. Außerdem sind Erklärungen, die den Interessen des Erklärenden zuwiderlaufen, grundsätzlich als besonders verlässliche Beweise anzusehen.

So ist als Beweismittel mit hohem Beweiswert das Zeugnis einer Person anzusehen, die fast während der gesamten Dauer des Kartells bei diesem einer der Vertreter eines der Hauptakteure des Kartells und daher ein unmittelbarer Zeuge für die von ihm im Rahmen seines Zeugnisses dargestellten Umstände war.

(vgl. Randnrn. 54, 75)

6.      Im Wettbewerbsrecht schafft die Stellung eines Antrags auf Anwendung der Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (Kronzeugenregelung), um eine Ermäßigung der eigenen Geldbuße zu erwirken, nicht zwangsläufig einen Anreiz zur Vorlage verfälschter Beweise. Denn jeder Versuch einer Irreführung der Kommission ist geeignet, die Aufrichtigkeit und Vollständigkeit der Kooperation des Antragstellers in Frage zu stellen und damit die für ihn bestehende Möglichkeit zu gefährden, ungeschmälert in den Genuss der Kronzeugenregelung zu gelangen.

Soweit aber die Erklärungen eines Unternehmens, das wegen Verstoßes gegen die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln belangt wird, von anderen Unternehmen bestritten werden, denen ebenfalls die Teilnahme an einer „Übereinkunft“ vorgeworfen wird, müssen sie durch andere Beweismittel untermauert werden, um einen hinreichenden Beweis für das Bestehen und die Tragweite der „Übereinkunft“ darstellen zu können.

(vgl. Randnrn. 65-66)

7.      Die Betroffenen müssen der Mitteilung der Beschwerdepunkte tatsächlich entnehmen können, welches Verhalten ihnen die Kommission zur Last legt; dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn ihnen in der Endentscheidung keine anderen als die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte genannten Zuwiderhandlungen zur Last gelegt und nur Tatsachen berücksichtigt werden, zu denen sie sich äußern konnten. So trifft es zwar zu, dass die einem Unternehmen in einer Entscheidung vorgeworfenen Zuwiderhandlungen keine anderen sein können als die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte genannten, doch gilt Gleiches nicht für festgestellte Tatsachen, da es für diese genügt, dass die betroffenen Unternehmen die Möglichkeit erhalten haben, sich zu allen ihnen zur Last gelegten Tatsachen zu äußern. Es gibt nämlich keine Bestimmung, die es der Kommission verböte, den Parteien nach der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte neue Schriftstücke zu übermitteln, in denen sie eine Stütze für ihr Vorbringen sieht, sofern sie den Unternehmen die erforderliche Zeit einräumt, sich hierzu zu äußern.

(vgl. Randnrn. 86-87)

8.      Es obliegt der Partei oder Behörde, die den Vorwurf einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln erhebt, die Beweismittel beizubringen, die das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend beweisen. Das Unternehmen, das sich gegenüber der Feststellung einer Zuwiderhandlung auf eine Rechtfertigung berufen möchte, hat seinerseits den Nachweis zu erbringen, dass die Voraussetzungen für diese Rechtfertigung erfüllt sind, so dass die genannte Behörde dann auf andere Beweismittel zurückgreifen muss.

Der allgemeine Grundsatz, dass die Kommission alle die Zuwiderhandlung darstellenden Tatsachen einschließlich ihrer Dauer beweisen muss, die für ihre endgültige Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung von Einfluss sein können, wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass das betreffende Unternehmen ein auf die Verjährung gestütztes Verteidigungsmittel geltend macht, für das es die Beweislast grundsätzlich selbst trägt.

Die Geltendmachung eines solchen Verteidigungsmittels setzt nämlich notwendig voraus, dass die Dauer der Zuwiderhandlung und das Datum ihrer Beendigung festgestellt worden sind. Diese Umstände können aber allein keinen Übergang der Beweislast für diesen Punkt auf das betreffende Unternehmen bewirken. Zum einen stellt die Dauer einer Zuwiderhandlung – dieser Begriff setzt die Kenntnis ihres Enddatums voraus – eines ihrer wesentlichen Tatbestandsmerkmale dar, für deren Verwirklichung die Kommission die Beweislast unabhängig davon trägt, ob das Bestreiten des Vorliegens dieser Tatbestandsmerkmale auch Teil des Verteidigungsmittels der Verjährung ist. Zum anderen wird dieser Schluss dadurch gerechtfertigt, dass die Unverjährtheit der Verfolgung durch die Kommission nach Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 ein sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit ergebendes objektives rechtliches Kriterium bildet und daher eine Gültigkeitsvoraussetzung jeder eine Sanktion enthaltenden Entscheidung ist. Diese Voraussetzung muss die Kommission nämlich auch dann einhalten, wenn das Unternehmen ein solches Verteidigungsmittel nicht geltend gemacht hat.

Allerdings kann diese Beweislastverteilung Änderungen unterliegen, soweit die tatsächlichen Gesichtspunkte, auf die sich eine Partei beruft, die andere Partei deshalb zu einer Erläuterung oder Rechtfertigung zwingen können, weil sonst der Schluss zulässig ist, dass der Beweis erbracht wurde. Hat die Kommission nämlich den Beweis für das Bestehen einer Vereinbarung geführt, ist es Sache des Unternehmens, das sich an dieser beteiligt hat, den Nachweis zu erbringen, dass es sich von dieser Vereinbarung distanziert hat, wobei dieser Nachweis den klaren und den anderen beteiligten Unternehmen zur Kenntnis gebrachten Willen erkennen lassen muss, sich dieser Vereinbarung zu entziehen.

(vgl. Randnrn. 173-176)

9.      Der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verlangt, dass die von einer Untersuchung der Kommission auf dem Gebiet des Wettbewerbs betroffenen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen bereits während des Verwaltungsverfahrens in die Lage versetzt werden, zum Vorliegen und zur Bedeutung der von der Kommission geltend gemachten Tatsachen, Beschwerdepunkte und Umstände angemessen Stellung zu nehmen. So kann die Antwort eines Unternehmens auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte der Kommission nicht gegen ein anderes von der Untersuchung betroffenes Unternehmen verwendet werden, wenn sie diesem vor Erlass der Entscheidung durch die Kommission nicht vorgelegen hat.

Dagegen verlangt dieser Grundsatz nicht, dass dem Unternehmen Gelegenheit gegeben wird, die von der Kommission vernommenen Zeugen im Verwaltungsverfahren selbst zu befragen.

(vgl. Randnrn. 189, 199)

10.    Der Umstand, dass sich ein Unternehmen von einer Zuwiderhandlung, an der es sich beteiligt hat, nicht offen distanziert oder diese den Verwaltungsbehörden nicht anzeigt, führt dazu, dass die Fortsetzung der Zuwiderhandlung begünstigt und ihre Entdeckung verhindert wird, so dass diese stillschweigende Billigung als Komplizenschaft oder passive Form der Beteiligung an der Zuwiderhandlung gewertet werden kann.

(vgl. Randnr. 222)

11.    Für die Beurteilung der Frage, ob eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) einheitlichen Charakter hat, sind mehrere Kriterien maßgeblich, nämlich die Identität oder Verschiedenartigkeit der Ziele der betreffenden Praktiken, die Identität der betroffenen Waren und Dienstleistungen, die Identität der an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen und die Identität der Durchführungsmodalitäten. Weitere maßgebliche Kriterien sind die Identität der natürlichen Personen, die für die Unternehmen tätig wurden, und die Identität des räumlichen Anwendungsbereichs der betreffenden Praktiken.

Was insbesondere den Begriff „gemeinsames Ziel“ angeht, ist die Frage, ob eine Gesamtheit von gegen Art. 81 Abs. 1 EG verstoßenden Vereinbarungen und Praktiken eine einheitliche, dauernde Zuwiderhandlung darstellt, ausschließlich nach objektiven Faktoren zu beantworten, zu denen das gemeinsame Ziel dieser Vereinbarungen und Praktiken gehört. Dieses Ziel ist ein Kriterium, das allein nach dem Inhalt dieser Vereinbarungen und Praktiken zu beurteilen und nicht mit dem – subjektiven – Vorsatz der einzelnen Unternehmen, sich an einem einheitlichen, dauernden Kartell zu beteiligen, zu verwechseln ist. Dagegen kann und darf dieser Vorsatz nur im Rahmen der Beurteilung der individuellen Beteiligung eines Unternehmens an einer solchen einheitlichen, dauernden Vereinbarung berücksichtigt werden. Insoweit genügt es, dass sich das betreffende Unternehmen, das nach seinem Ausscheiden seine Beteiligung am Kartell wieder aufnimmt, bewusst ist, dass es an demselben Kartell wie zuvor beteiligt ist. Um diesem Unternehmen die Einheitlichkeit der Zuwiderhandlung entgegenhalten zu können, genügt es sogar schon, dass es sich der vorstehend angeführten wesentlichen Kriterien, die die Feststellung der Einheitlichkeit der Zuwiderhandlung erlauben, bewusst ist, selbst wenn man unterstellt, dass es den Schluss auf diese Einheitlichkeit selbst nicht gezogen hat.

(vgl. Randnrn. 241, 246, 253)

12.    Nach Nr. 1 Buchst. A Abs. 4 und 6 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, sind die tatsächliche wirtschaftliche Fähigkeit der Urheber der Verstöße, Wettbewerber wirtschaftlich in erheblichem Umfang zu schädigen, und das jeweilige Gewicht des Verhaltens jedes einzelnen Unternehmens für den Wettbewerb, vor allem, wenn an einem Verstoß Unternehmen von sehr unterschiedlicher Größe beteiligt waren, zu berücksichtigen. Dagegen sehen die Leitlinien nicht vor, dass die tatsächliche wirtschaftliche Fähigkeit der Unternehmen oder das Gewicht ihres Verhaltens anhand eines besonderen Kriteriums, wie ihres Marktanteils in Bezug auf die betreffende Ware innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) oder des Gemeinsamen Marktes, zu beurteilen wäre. Der Kommission steht es daher insoweit frei, unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls ein geeignetes Kriterium anzuwenden.

(vgl. Randnr. 279)

13.    Die Schwere der Zuwiderhandlungen gegen die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln ist anhand einer Vielzahl von Gesichtspunkten zu ermitteln, zu denen die besonderen Umstände der Rechtssache, ihr Kontext und die Abschreckungswirkung der Geldbußen gehören, ohne dass es eine zwingende oder abschließende Liste von Kriterien gäbe, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müssten. Zu den Faktoren, die im Rahmen der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlungen berücksichtigt werden können, gehören das Verhalten jedes einzelnen Unternehmens, die Rolle, die jedes Unternehmen bei der Abstimmung der Verhaltensweisen gespielt hat, der Gewinn, den die Unternehmen aus diesen Verhaltensweisen ziehen konnten, ihre Größe und der Wert der betroffenen Waren sowie die Gefahr, die derartige Zuwiderhandlungen für die Ziele der Gemeinschaft bedeuten. 

Daraus ergibt sich zum einen, dass bei der Festsetzung der Geldbuße sowohl der Gesamtumsatz des Unternehmens, der – wenn auch nur annähernd und unvollständig – etwas über dessen Größe und Wirtschaftskraft aussagt, als auch der Teil dieses Umsatzes berücksichtigt werden darf, der mit den Waren erzielt worden ist, hinsichtlich deren die Zuwiderhandlung begangen wurde, und der somit einen Anhaltspunkt für das Ausmaß dieser Zuwiderhandlung liefern kann. Zum anderen folgt daraus, dass weder dem einen noch dem anderen dieser Umsätze eine im Verhältnis zu den anderen Beurteilungskriterien übermäßige Bedeutung zugemessen werden darf und dass deshalb die Festsetzung einer angemessenen Geldbuße nicht das Ergebnis eines bloßen, auf den Gesamtumsatz gestützten Rechenvorgangs sein kann. Das gilt insbesondere dann, wenn die betroffenen Waren nur einen geringen Teil dieses Umsatzes ausmachen.

Die Aufzählung der Faktoren, die bei der Beurteilung der Schwere einer Zuwiderhandlung berücksichtigt werden können, ist somit weder zwingend noch abschließend. Daher steht es der Kommission frei, auch andere Faktoren zu berücksichtigen oder einem der vorstehend genannten Faktoren weniger Gewicht beizumessen oder ihn sogar überhaupt nicht zu berücksichtigen, falls sie dies in Anbetracht der Umstände einer bestimmten Sache für angebracht hält.

Außerdem ist der Begriff „Wert der betroffenen Waren“ zu verstehen als Maß für denjenigen Anteil des weltweiten Umsatzes der betreffenden Unternehmen, der mit den Waren, die Gegenstand des Kartells sind, erzielt worden ist, und nicht als Bezugnahme auf die Größe des Marktes für diese Waren im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR).

(vgl. Randnrn. 286-288)

14.    Die frühere Entscheidungspraxis der Kommission bildet nicht selbst den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen. Die Kommission verfügt im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 über einen Wertungsspielraum bei der Bemessung der Geldbußen, um das Verhalten der Unternehmen in Richtung der Einhaltung der Wettbewerbsregeln zu lenken. Daher ist die Kommission dadurch, dass sie in der Vergangenheit für bestimmte Arten von Zuwiderhandlungen Geldbußen in bestimmter Höhe verhängt hat, nicht daran gehindert, dieses Niveau innerhalb der in der Verordnung Nr. 1/2003 gezogenen Grenzen anzuheben, wenn dies erforderlich ist, um die Durchführung der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik sicherzustellen. Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft verlangt vielmehr, dass die Kommission das Niveau der Geldbußen jederzeit den Erfordernissen dieser Politik anpassen kann.

Dementsprechend können Unternehmen, die von einem Verwaltungsverfahren betroffen sind, das zu einer Geldbuße führen kann, nicht darauf vertrauen, dass die Kommission das zuvor praktizierte Bußgeldniveau nicht überschreiten wird. Diese Unternehmen müssen sich folglich dessen bewusst sein, dass die Kommission jederzeit beschließen kann, das Niveau der Geldbußen gegenüber dem in der Vergangenheit praktizierten Niveau anzuheben.

(vgl. Randnrn. 290-291)

15.    Bei der Berechnung der von der Kommission wegen Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft verhängten Geldbußen sind die Anforderungen an das wesentliche Formerfordernis, um das es sich bei der Begründungspflicht handelt, dann erfüllt, wenn die Kommission in ihrer Entscheidung die Beurteilungskriterien angibt, die es ihr ermöglicht haben, Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung zu bemessen, wobei sie nicht verpflichtet ist, darin eingehendere Ausführungen oder Zahlenangaben zur Berechnungsweise für die Geldbuße zu machen.

Insbesondere ist die Angabe der Zahlen, von denen sich die Kommission speziell hinsichtlich der angestrebten Abschreckungswirkung leiten ließ, als sie bei der Festsetzung der Geldbußen ihr Ermessen ausübte, eine Möglichkeit, deren Gebrauch durch die Kommission wünschenswert ist, die aber über die Erfordernisse der Begründungspflicht hinausgeht.

(vgl. Randnrn. 311-312)

16.    Um als „Anführer“ eines Kartells eingestuft werden zu können, muss ein Unternehmen eine wichtige Antriebskraft für das Kartell gewesen sein oder eine besondere, konkrete Verantwortung für dessen Funktionieren getragen haben. Dieser Umstand ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung des Kontexts des betreffenden Falls zu bewerten. Die Bezeichnung als „Anführer“ ist insbesondere dann angebracht, wenn nachgewiesen wurde, dass das Unternehmen im Kartell die Aufgaben eines Koordinators übernommen und namentlich das mit der konkreten Durchführung des Kartells betraute Sekretariat organisiert und mit Personal ausgestattet hatte, oder wenn das betreffende Unternehmen im Rahmen der konkreten Betätigung des Kartells eine zentrale Rolle etwa dadurch spielte, dass es zahlreiche Treffen organisierte, die Informationen innerhalb des Kartells entgegennahm und verteilte, die Vertretung einiger Mitglieder im Kartell übernahm oder die meisten Vorschläge zur Arbeitsweise des Kartells machte. Insbesondere bei Kartellen mit vielen Beteiligten ist es zudem durchaus möglich, dass zwei oder sogar mehr Unternehmen zugleich die Eigenschaft als Anführer zugeordnet wird.

Wie sich im Übrigen schon aus dem Wortlaut von Nr. 2 dritter Gedankenstrich der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, ergibt, ist der Begriff des „Anführers“ von dem des „Anstifters“ eines Verstoßes zu unterscheiden. Während die Anstifterrolle den Zeitpunkt der Errichtung oder Ausweitung eines Kartells betrifft, geht es bei der Anführerrolle um dessen Funktionsweise. Der Anführer eines Verstoßes und dessen Anstifter befinden sich daher nicht in einer vergleichbaren Situation, so dass eine unterschiedliche Behandlung eines als Anstifter des Kartells eingestuften Unternehmens und des Anführers dieses Kartells keine Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung darstellt.

(vgl. Randnrn. 337, 345, 348)

17.    Selbst wenn man annähme, dass die Kommission ein Unternehmen trotz dessen wichtiger Rolle im Kartell fehlerhaft nicht als Anführer des Kartells angesehen hat, würde ein solcher Rechtsfehler, der zugunsten eines anderen begangen worden wäre, es nicht rechtfertigen, dem zur Stützung des Antrags auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission geltend gemachten Angriffsmittel zu folgen. Denn die Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung oder des Diskriminierungsverbots muss mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden, wonach sich niemand zu seinem Vorteil auf eine zugunsten eines anderen begangene Rechtsverletzung berufen kann.

(vgl. Randnr. 358)

18.    Die Ermäßigung von Geldbußen im Fall der Kooperation der Unternehmen, die sich an Zuwiderhandlungen gegen das gemeinschaftliche Wettbewerbsrecht beteiligt haben, beruht auf der Erwägung, dass eine solche Kooperation die Aufgabe der Kommission, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung festzustellen und gegebenenfalls zu beenden, erleichtert.

Die Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (Kronzeugenregelung) hat, wie es in ihrer Randnr. 29 heißt, berechtigte Erwartungen begründet, auf die sich die Unternehmen, die der Kommission das Bestehen eines Kartells anzeigen wollen, berufen können. Angesichts des berechtigten Vertrauens, das aufgrund dieser Regelung möglicherweise bei den zur Zusammenarbeit mit der Kommission bereiten Unternehmen entstanden ist, ist die Kommission verpflichtet, sich bei der Beurteilung der Kooperation eines Unternehmens im Rahmen der Bemessung ihrer Geldbuße an die Regelung zu halten.

Innerhalb der durch die Kronzeugenregelung vorgegebenen Grenzen verfügt die Kommission jedoch über ein weites Ermessen bei der Beurteilung der Frage, ob die von einem Unternehmen übermittelten Beweismittel einen Mehrwert im Sinne von Randnr. 22 der Regelung darstellen oder nicht und ob einem Unternehmen auf ihrer Grundlage ein Nachlass zu gewähren ist.

(vgl. Randnrn. 374-376)