Language of document : ECLI:EU:C:2024:96

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

30. Januar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 10 Abs. 3 Buchst. a – Familienzusammenführung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades – Art. 2 Buchst. f – Begriff ,unbegleiteter Minderjähriger‘ – Zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriger Zusammenführender, der aber während des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig geworden ist – Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit – Frist für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung – Volljährige Schwester des Zusammenführenden, die aufgrund einer schweren Krankheit die dauerhafte Unterstützung ihrer Eltern benötigt – Praktische Wirksamkeit des Rechts eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings auf Familienzusammenführung – Art. 7 Abs. 1 – Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 und 3 – Möglichkeit, die Familienzusammenführung von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig zu machen“

In der Rechtssache C‑560/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Beschluss vom 25. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Oktober 2020, in dem Verfahren

CR,

GF,

TY

gegen

Landeshauptmann von Wien

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, der Richter M. Ilešič und J.‑C. Bonichot, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen, N. Wahl und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Februar 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von CR, GF und TY, vertreten durch Rechtsanwältin J. Ecker und D. Bernhart, Teamleitung Familienzusammenführung beim Generalsekretariat des österreichischen Roten Kreuzes,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll, C. Schweda und V.‑S. Strasser als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, H. S. Gijzen und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, J. Hottiaux und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Mai 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. f, Art. 7 Abs. 1, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen CR und GF sowie ihrer Tochter TY, syrischen Staatsangehörigen, auf der einen Seite und dem Landeshauptmann von Wien (Österreich) auf der anderen Seite über dessen Abweisung der Anträge von CR, GF und TY auf Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung mit RI, der in Österreich Flüchtlingsstatus hat und der Sohn von CR und GF sowie der Bruder von TY ist.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 2, 4 und 6 bis 10 der Richtlinie 2003/86 heißt es:

„(2)      Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [(im Folgenden: Charta)] anerkannt wurden.

(4)      Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.

(6)      Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden.

(7)      Die Mitgliedstaaten sollten diese Richtlinie auch dann anwenden können, wenn die Familie gemeinsam einreist.

(8)      Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.

(9)      Die Familienzusammenführung sollte auf jeden Fall für die Mitglieder der Kernfamilie, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder[,] gelten.

(10)      Es ist Sache der Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob sie die Familienzusammenführung von Verwandten in gerader aufsteigender Linie, volljährigen unverheirateten Kindern, nicht ehelichen Lebenspartnern oder eingetragenen Lebenspartnerschaften … sowie[,] im Falle einer Mehrehe, der minderjährigen Kinder des weiteren Ehegatten und des Zusammenführenden zulassen möchten. Gestattet ein Mitgliedstaat die Zusammenführung dieser Personen, so gilt dies im Falle von Mitgliedstaaten, die das Bestehen familiärer Bindungen in den von dieser Bestimmung erfassten Fällen nicht anerkennen, unbeschadet der Möglichkeit, diesen Personen hinsichtlich des Rechts, sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, die Behandlung von Familienangehörigen im Sinne des einschlägigen Gemeinschaftsrechts zu versagen.“

4        Art. 1 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“

5        In Art. 2 dieser Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c)      ,Zusammenführender‘ den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen;

f)      ‚unbegleiteter Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“

6        Art. 4 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:

„(1)      Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:

a)      dem Ehegatten des Zusammenführenden;

b)      den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden und seines Ehegatten, einschließlich der Kinder, die gemäß einem Beschluss der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats oder einem aufgrund der internationalen Verpflichtungen dieses Mitgliedstaats automatisch vollstreckbaren oder anzuerkennenden Beschluss adoptiert wurden;

Die minderjährigen Kinder im Sinne dieses Artikels dürfen das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht haben und dürfen nicht verheiratet sein.

(2)      Vorbehaltlich der in Kapitel IV genannten Bedingungen können die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestatten:

a)      den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden oder seines Ehegatten, wenn letztere für ihren Unterhalt aufkommen und erstere in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben;

b)      den volljährigen, unverheirateten Kindern des Zusammenführenden oder seines Ehegatten, wenn sie aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können.

…“

7        Art. 5 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten legen fest, ob zur Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder vom Zusammenführenden oder von dem oder den Familienangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellt werden muss.

(5)      Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.“

8        Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:

„(1)      Bei Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung kann der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt:

a)      Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird und der die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden allgemeinen Sicherheits- und Gesundheitsnormen erfüllt;

b)      eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind;

c)      feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen [ausreichen]. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und ‑renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen.“

9        Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„(2)      Die Mitgliedstaaten können weiteren, in Artikel 4 nicht genannten Familienangehörigen die Familienzusammenführung gestatten, sofern der zusammenführende Flüchtling für ihren Unterhalt aufkommt.

(3)      Handelt es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen, so

a)      gestatten die Mitgliedstaaten ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung;

…“

10      Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 lautet:

„Abweichend von Artikel 7 verlangen die Mitgliedstaaten in Bezug auf Anträge betreffend die in Artikel 4 Absatz 1 genannten Familienangehörigen von einem Flüchtling und/oder einem (den) Familienangehörigen keinen Nachweis, dass der Flüchtling die in Artikel 7 genannten Bedingungen erfüllt.

Unbeschadet internationaler Verpflichtungen können die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen eine Familienzusammenführung in einem Drittstaat möglich ist, zu dem eine besondere Bindung des Zusammenführenden und/oder Familienangehörigen besteht, die Vorlage des in Unterabsatz 1 genannten Nachweises verlangen.

Die Mitgliedstaaten können von dem Flüchtling die Erfüllung der in Artikel 7 Absatz 1 genannten Voraussetzungen verlangen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des [Flüchtlingsstatus] gestellt wurde.“

 Österreichisches Recht

11      § 11 („Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel“) des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG) vom 16. August 2005 (BGBl. I, 100/2005) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: NAG) sieht vor:

„…

(2)      Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn

2.      der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird;

3.      der Fremde über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist;

4.      der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;

(3)      Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 7 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der [EMRK] geboten ist. …“

12      In § 46 („Bestimmungen über die Familienzusammenführung“) NAG heißt es:

„(1)      Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist ein Aufenthaltstitel ,Rot-Weiß-Rot – Karte plus‘ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, und

2.      ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende

c)      Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 2 [des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl vom 16. August 2005 (BGBl. I, Nr. 100/2005) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: AsylG)] nicht gilt …“

13      In § 34 („Familienverfahren im Inland“) Abs. 2 und 4 AsylG heißt es:

„(2)      Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn

1.      dieser nicht straffällig geworden ist und

3.      gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).

(4)      Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. …“

14      § 35 („Anträge auf Einreise bei Vertretungsbehörden“) AsylG bestimmt:

„(1)      Der Familienangehörige gemäß Abs. 5 eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde und der sich im Ausland befindet, kann zwecks Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels bei einer mit konsularischen Aufgaben betrauten österreichischen Vertretungsbehörde im Ausland (Vertretungsbehörde) stellen. Erfolgt die Antragstellung auf Erteilung eines Einreisetitels mehr als drei Monate nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, sind die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 zu erfüllen.

(2a)      Handelt es sich beim Antragsteller um den Elternteil eines unbegleiteten Minderjährigen, dem der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, gelten die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 als erfüllt.

(5)      Nach [§ 17 Abs. 1 und 2 AsylG] ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      RI, geboren am 1. September 1999, kam am 31. Dezember 2015 als unbegleiteter Minderjähriger nach Österreich und stellte dort am 8. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem AsylG. Mit ihm am 5. Jänner 2017 zugestelltem Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) wurde RI die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Dieser Bescheid wurde am 2. Februar 2017 rechtskräftig.

16      Am 6. April 2017, also drei Monate und einen Tag nach Zustellung dieses Bescheids, stellten CR und GF, die Eltern von RI, sowie TY, seine volljährige Schwester, bei der Botschaft der Republik Österreich in Syrien Anträge auf Einreise nach und Aufenthalt in Österreich zum Zweck der Familienzusammenführung mit RI nach § 35 AsylG (im Folgenden: erste Anträge auf Einreise und Aufenthalt). RI war zum Zeitpunkt der Stellung dieser Anträge noch minderjährig. Diese wurden jedoch von der Österreichischen Botschaft mit am 29. Mai 2018 zugestelltem Bescheid mit der Begründung abgewiesen, dass RI während des Verfahrens der Familienzusammenführung volljährig geworden sei. Dieser Bescheid, gegen den kein Rechtsmittel eingelegt wurde, wurde am 26. Juni 2018 rechtskräftig.

17      Am 11. Juli 2018 stellten CR, GF und TY beim Landeshauptmann von Wien Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln zum Zweck der Familienzusammenführung mit RI nach § 46 Abs. 1 Z 2 NAG (im Folgenden: zweite Anträge auf Einreise und Aufenthalt). CR und GF beriefen sich dabei auf ihre aus der Richtlinie 2003/86 herrührenden Rechte bzw. betreffend TY auf Art. 8 EMRK. Diese Anträge wurden vom Landeshauptmann von Wien mit Bescheiden vom 20. April 2020 abgewiesen, weil die Antragstellung nicht innerhalb von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus an RI gestellt worden seien.

18      CR, GF und TY fochten diese Bescheide beim Verwaltungsgericht Wien (Österreich), dem vorlegenden Gericht, an.

19      Das vorlegende Gericht hat erstens Zweifel hinsichtlich der Rechte, die CR, GF und TY aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ableiten können, obwohl RI während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist. Insoweit meint es, dass die vom Gerichtshof im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 64), vorgenommene Auslegung in Bezug auf eine Situation, in der ein unbegleiteter Minderjähriger während des Asylverfahrens und somit noch vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig werde, auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende übertragbar sein müsste, in der der Zusammenführende zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig sei, so dass auch in dieser zweiten Situation das Recht auf Familienzusammenführung auf diese Bestimmung gestützt werden könne.

20      Sollte diese Schlussfolgerung bestätigt werden, stellt sich für das vorlegende Gericht zweitens die Frage, ob die im Urteil A und S in Rn. 61 angestellten Überlegungen, wonach der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 eingereichte Antrag auf Familienzusammenführung grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag zu stellen sei, an dem der Zusammenführende, der während des Asylverfahrens volljährig geworden sei, als Flüchtling anerkannt worden sei, auch auf die Konstellation eines Zusammenführenden zu übertragen sei, der während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig geworden sei. Es wäre nämlich denkbar, dass eine solche Frist in einer solchen Situation nicht vor der Volljährigkeit des Flüchtlings zu laufen beginne. Demnach wäre diese Frist jedenfalls eingehalten worden, wenn der Zusammenführende wie im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung noch minderjährig gewesen sei.

21      Dagegen stellt das vorlegende Gericht drittens die Frage, ob in dem Fall, dass eine solche Frist auch für diese Situation gelten und ab dem Tag laufen sollte, an dem dem betreffenden Minderjährigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, diese Frist als gewahrt anzusehen sei, wenn, wie im vorliegenden Fall, drei Monate und ein Tag zwischen der Zustellung des Bescheids, mit dem dem Zusammenführenden diese Eigenschaft zuerkannt worden sei, und den ersten Anträgen auf Einreise und Aufenthalt verstrichen seien, anhand deren die Einhaltung dieser Frist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zu beurteilen ist. In diesem Zusammenhang fragt es sich insbesondere nach den Kriterien, die bei der Beurteilung der Frage, ob ein Antrag auf Familienzusammenführung fristgerecht gestellt wurde, anzuwenden sind.

22      Viertens fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Einhaltung der in Art. 7 der Richtlinie 2003/86 vorgesehenen Voraussetzungen, nämlich dass der Zusammenführende erstens für sich und seine Familie über Wohnraum verfügt, der als üblich angesehen wird, zweitens über eine Krankenversicherung für sich selbst und seine Familienangehörigen, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, und drittens über feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen, auch im Fall einer Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie verlangt werden kann. In diesem Zusammenhang fragt es sich auch, ob die Möglichkeit, die Einhaltung dieser Voraussetzungen zu verlangen, davon abhängt, ob der Antrag auf Familienzusammenführung nach Ablauf der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie vorgesehenen Dreimonatsfrist gestellt wurde.

23      Fünftens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass TY, als Schwester des Zusammenführenden RI, nach dem anwendbaren österreichischen Recht nicht als „Familienangehörige“, für die ein Recht auf Familienzusammenführung bestehe, angesehen werde. Allerdings leide TY, die in Syrien bei ihren Eltern lebe, an Zerebralparese und sei dauerhaft auf einen Rollstuhl sowie auf Unterstützung bei der täglichen Körperpflege und bei der Nahrungsaufnahme angewiesen. Diese Pflege werde im Wesentlichen von ihrer Mutter, CR, erbracht, da TY dafür an ihrem derzeitigen Wohnort auf kein soziales Hilfsnetzwerk zurückgreifen könne. Unter diesen Umständen könnten die Eltern von TY sie nicht allein in Syrien lassen, wo keine anderen Verwandten wohnten.

24      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Eltern von RI angesichts der besonderen Situation, in der sich die Schwester von RI wegen ihrer Krankheit befinde, faktisch gezwungen wären, auf ihr Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 zu verzichten, wenn TY nicht ebenfalls ein Aufenthaltstitel erteilt würde.

25      Schließlich könne nach der österreichischen Rechtslage eventuell die Gewährung des Aufenthaltsrechts an die volljährige Schwester des Zusammenführenden trotz Nichterfüllens der gesetzlichen Voraussetzungen aus zwingenden Gründen des Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK in Betracht kommen. Da jedoch ein unmittelbar aus dem Unionsrecht herrührender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltsrechts über den Schutzgehalt des Art. 8 EMRK hinausgehen könne, sei zu prüfen, ob sich TY auf einen solchen Anspruch berufen könne.

26      Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Können sich die drittstaatsangehörigen Eltern eines Flüchtlings, welcher als unbegleiteter Minderjähriger seinen Asylantrag gestellt hat und dem noch als Minderjähriger Asyl zuerkannt wurde, weiterhin auf Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 berufen, wenn der Flüchtling nach der Zuerkennung von Asyl, aber während des Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels an seine Eltern, volljährig geworden ist?

2.      Wenn die Frage 1 mit Ja zu beantworten ist: Ist in einem solchen Fall erforderlich, dass die Eltern des Drittstaatsangehörigen die im Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 61), erwähnte Frist zur Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung „grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag …, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist“, einhalten?

3.      Wenn die Frage 1 mit Ja zu beantworten ist: Ist der volljährigen drittstaatsangehörigen Schwester eines anerkannten Flüchtlings unmittelbar auf Grund des Unionsrechts ein Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn die Eltern des Flüchtlings bei Verweigerung des Aufenthaltstitels an die volljährige Schwester des Flüchtlings de facto gezwungen wären, auf ihr Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 zu verzichten, weil diese volljährige Schwester des Flüchtlings auf Grund ihres Gesundheitszustands unbedingt der dauernden Pflege ihrer Eltern bedarf und deshalb nicht allein im Herkunftsstaat zurückbleiben kann?

4.      Wenn die Frage 2 mit Ja zu beantworten ist: Welche Kriterien sind bei der Beurteilung der Rechtzeitigkeit heranzuziehen, ob ein solcher Antrag auf Familienzusammenführung „grundsätzlich“ innerhalb von drei Monaten im Sinne der Ausführungen im Urteil des Gerichtshofs vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 61), gestellt wurde?

5.      Wenn die Frage 2 mit Ja zu beantworten ist: Können sich die Eltern des Flüchtlings weiterhin auf ihr Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 berufen, wenn zwischen dem Tag, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist, und ihrem Antrag auf Familienzusammenführung drei Monate und ein Tag vergangen sind?

6.      Kann ein Mitgliedstaat in einem Verfahren auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 von den Eltern des Flüchtlings grundsätzlich verlangen, dass sie die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 erfüllen?

7.      Ist das Verlangen auf Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 genannten Voraussetzungen im Zuge einer Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 davon abhängig, ob im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86 der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

27      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. Juli 2021 ist das vorliegende Verfahren bis zu der das Verfahren beendenden Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen C‑273/20 und C‑355/20 sowie in der Rechtssache C‑279/20 ausgesetzt worden.

28      Mit Entscheidung vom 8. August 2022 hat der Präsident des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht die Urteile vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling) (C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617), und vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland (Nachzug eines volljährig gewordenen Kindes) (C‑279/20, EU:C:2022:618), zugestellt und es gebeten, ihm mitzuteilen, ob es sein Vorabentscheidungsersuchen unter Berücksichtigung dieser Urteile ganz oder teilweise aufrechterhalten wolle.

29      Mit Schreiben vom 30. August 2022, das am 6. September 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat dieses Gericht bekannt gegeben, dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalte, aber nicht mehr um Beantwortung der ersten Frage ersuche, da diese Frage in Anbetracht dieser Urteile zu bejahen sei. In diesem Zusammenhang hat es ausgeführt, dass es die Bedingung, unter der es die zweite und die dritte Frage gestellt habe, somit als erfüllt ansehe, und diese Fragen daher beantwortet werden sollten.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur zweiten Frage

30      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass die Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (im Folgenden auch: Eltern) eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, wenn dieser zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig ist und im Laufe des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig wird, nach dieser Bestimmung dazu verpflichtet sind, den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit diesem Flüchtling innerhalb einer bestimmten Frist zu stellen, um das Recht auf Familienzusammenführung auf diese Bestimmung stützen und die darin vorgesehenen günstigeren Bedingungen in Anspruch nehmen zu können.

31      Nach ihrem Art. 1 ist es Ziel der Richtlinie 2003/86, die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, festzulegen.

32      Hierzu ergibt sich aus ihrem achten Erwägungsgrund, dass sie für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, weil ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.

33      Eine dieser günstigeren Bedingungen bezieht sich auf die Familienzusammenführung mit den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Flüchtlings. Während nämlich, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, die Möglichkeit einer solchen Zusammenführung nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 grundsätzlich dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleibt und u. a. voraussetzt, dass der Zusammenführende für den Unterhalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades aufkommt und diese in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben, sieht Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, wonach diese ein Recht auf eine solche Zusammenführung haben, das weder in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist noch den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a aufgestellten Voraussetzungen unterliegt. Durch Art. 10 Abs. 3 Buchst. a soll somit im Speziellen ein stärkerer Schutz der Flüchtlinge, die unbegleitete Minderjährige sind, gewährleistet werden (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 33, 34 und 44).

34      In seinem Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 64), hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86, der den Begriff „unbegleiteter Minderjähriger“ definiert, in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

35      Die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 würde nämlich in Frage gestellt, wenn das Recht auf Familienzusammenführung aus dieser Bestimmung davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, und damit von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch diese Behörde. Außerdem liefe dies nicht nur dem Ziel dieser Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und dabei Flüchtlinge, insbesondere unbegleitete Minderjährige, besonders zu schützen, sondern auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider (Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 55).

36      Diese Erwägungen gelten zudem erst recht, wenn der unbegleitete Minderjährige nicht während des Asylverfahrens, sondern während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig wird. Somit kann sich ein solcher minderjähriger Flüchtling auf Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 stützen, um das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern auf der Grundlage der in dieser Bestimmung vorgesehenen günstigeren Bedingungen in Anspruch zu nehmen, ohne dass der betreffende Mitgliedstaat den Antrag auf Familienzusammenführung mit der Begründung ablehnen kann, dass der betreffende Flüchtling zum Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag nicht mehr minderjährig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland [Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling], C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617, Rn. 52).

37      Allerdings hat der Gerichtshof im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 61), auch entschieden, dass es mit dem Ziel von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 unvereinbar wäre, wenn sich ein Flüchtling, der zum Zeitpunkt seines Asylantrags die Eigenschaft eines unbegleiteten Minderjährigen besaß, aber während des Verfahrens über diesen Antrag volljährig geworden ist, „ohne jede zeitliche Begrenzung“ auf diese Vorschrift berufen könnte, um eine Familienzusammenführung zu erwirken, so dass der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer angemessenen Frist gestellt werden muss. Dazu hat er ausgeführt, dass zur Bestimmung einer solchen angemessenen Frist die vom Gesetzgeber der Europäischen Union in dem ähnlichen Kontext von Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie gewählte Lösung als Hinweis dienen kann, so dass der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie eingereichte Antrag auf Familienzusammenführung in einer solchen Situation grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag zu stellen ist, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist.

38      Die Zweifel des vorlegenden Gerichts betreffen aber im Wesentlichen die Frage, ob eine solche Frist auch unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einzuhalten ist, d. h. in einer Situation, in der der betreffende Flüchtling zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung noch minderjährig war und während des diesen Antrag betreffenden Verfahrens volljährig geworden ist.

39      Insoweit ergibt sich aus der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, dass mit dem Erfordernis der Einhaltung einer solchen Frist die Gefahr verhindert werden soll, dass das Recht auf Familienzusammenführung in dem Fall, dass der Flüchtling bereits während des Asylverfahrens und somit noch vor der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, ohne jede zeitliche Begrenzung geltend gemacht werden kann.

40      Wie die Europäische Kommission hervorgehoben hat, besteht eine solche Gefahr jedoch nicht, wenn der betreffende Flüchtling während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig wird. Außerdem kann in Anbetracht des Ziels von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, das darin besteht, im Speziellen die Zusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern zu begünstigen, um ihnen aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit einen stärkeren Schutz zu gewährleisten, ein Antrag auf Familienzusammenführung nach dieser Bestimmung nicht als verspätet angesehen werden, wenn er gestellt wurde, als der betreffende Flüchtling noch minderjährig war. In Anbetracht dieses Ziels kann eine Frist für die Stellung eines solchen Antrags somit nicht zu laufen beginnen, bevor der betreffende Flüchtling volljährig wird.

41      Solange der Flüchtling minderjährig ist, können seine Eltern daher auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung stellen, ohne eine Frist einhalten zu müssen, um die in dieser Bestimmung vorgesehenen günstigeren Bedingungen in Anspruch nehmen zu können.

42      Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall der Umstand, dass die ersten Anträge auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung von den Klägern des Ausgangsverfahrens mehr als drei Monate nach der Zustellung des Bescheids, mit dem dem Zusammenführenden die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, gestellt wurden, unerheblich ist, da der Zusammenführende zum Zeitpunkt der Stellung dieser Anträge minderjährig war. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht steht der in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannte Bescheid, mit dem diese Anträge abgewiesen wurden, somit offenbar nicht im Einklang mit der Richtlinie 2003/86.

43      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass die Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, wenn dieser zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig ist und im Laufe des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig wird, nach dieser Bestimmung nicht dazu verpflichtet sind, den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit diesem Flüchtling innerhalb einer bestimmten Frist zu stellen, um das Recht auf Familienzusammenführung auf diese Bestimmung stützen und die darin vorgesehenen günstigeren Bedingungen in Anspruch nehmen zu können.

 Zur vierten und zur fünften Frage

44      Mit seiner vierten und seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, anhand welcher Kriterien zu beurteilen ist, ob ein Antrag auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 fristgerecht gestellt wurde.

45      Wie in der Vorlageentscheidung ausgeführt, werden diese Fragen für den Fall gestellt, dass die zweite Frage bejaht wird. Angesichts der Antwort auf die zweite Frage sind die vierte und die fünfte Frage nicht zu beantworten.

 Zur dritten Frage

46      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass danach der volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, die Staatsangehörige eines Drittstaats ist und aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist, ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, wenn die Weigerung, diesen Aufenthaltstitel zu erteilen, dazu führen würde, dass diesem Flüchtling das ihm durch diese Bestimmung verliehene Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen würde.

47      Hierzu ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 der Charta bei der Durchführung des Rechts der Union die Rechte achten, sich an die in der Charta niedergelegten Grundsätze halten und deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden, fördern.

48      Nach ständiger Rechtsprechung haben somit die Mitgliedstaaten, insbesondere ihre Gerichte, nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern sie müssen auch darauf achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten kollidiert (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Konkret wird in Art. 7 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt. Dieser Artikel ist nach ständiger Rechtsprechung in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses regelmäßiger persönlicher Beziehungen eines Kindes zu beiden Elternteilen zu lesen (Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland [Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling], C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 im Licht des Art. 7 und des Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden müssen, wie sich im Übrigen aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie ergibt, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen (Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland [Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling], C‑273/20 und C‑355/20, EU:C:2022:617, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Dies gilt insbesondere für Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, der, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Speziellen darauf abzielt, die Zusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern zu begünstigen, um ihnen aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit einen stärkeren Schutz zu gewährleisten, und folglich von besonderer Bedeutung für die tatsächliche Achtung der in Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta verankerten Grundrechte ist.

52      Außerdem erlegt, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 den Mitgliedstaaten eine präzise positive Verpflichtung auf, der ein klar definiertes Recht gegenübersteht. Danach sind sie in dem darin genannten Fall verpflichtet, die Familienzusammenführung der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie dabei über einen Wertungsspielraum verfügen (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 43).

53      Demnach hat ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling wie RI nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ein Recht auf Familienzusammenführung mit seinen beiden Elternteilen.

54      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Anträge auf Einreise nach und Aufenthalt in Österreich zum Zweck der Familienzusammenführung mit RI von seinen beiden Elternteilen und von TY, der Schwester von RI, gestellt wurden. Diese ist zwar volljährig, aber aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die konkrete Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Insbesondere leidet sie an Zerebralparese und ist permanent auf einen Rollstuhl sowie auf Unterstützung bei der täglichen Körperpflege und bei der Nahrungsaufnahme angewiesen. Diese Pflege wird im Wesentlichen von ihrer Mutter, CR, erbracht, da TY dafür an ihrem derzeitigen Wohnort auf kein soziales Hilfsnetzwerk zurückgreifen kann. Folglich sind die Eltern von TY die einzigen Personen, die sich um sie kümmern können, so dass sie sie nicht allein in ihrem Herkunftsland lassen können.

55      Wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, ist es den beiden Elternteilen angesichts dieser außergewöhnlichen Situation und der besonderen Schwere der Krankheit von TY nicht möglich, zu ihrem Sohn, einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, nach Österreich zu ziehen, ohne ihre Tochter mitzunehmen. Der Schwester von RI einen Einreise- und Aufenthaltstitel zu erteilen, ist daher das einzige Mittel, um es RI zu ermöglichen, sein Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern auszuüben.

56      Unter diesen Umständen würde RI, wenn TY kein Recht auf Familienzusammenführung gleichzeitig mit ihren Eltern gewährt würde, de facto sein sich aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ergebendes Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen.

57      Ein solches Ergebnis wäre aber mit dem unbedingten Charakter dieses Rechts unvereinbar und würde dessen praktische Wirksamkeit in Frage stellen, was sowohl dem in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführten Ziel von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 als auch den in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen, die sich aus Art. 7 sowie Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ergeben und deren Einhaltung diese Richtlinie sicherstellen muss, zuwiderlaufen würde.

58      Daraus folgt, dass es in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände des Ausgangsverfahrens Sache des vorlegenden Gerichts ist, die praktische Wirksamkeit des sich aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ergebenden Rechts von RI auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern und die Einhaltung der in Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta verankerten Grundrechte zu gewährleisten, indem es auch seiner Schwester einen Einreise- und Aufenthaltstitel für Österreich zuerkennt.

59      Im Übrigen wird diese Schlussfolgerung durch das Urteil vom 12. Dezember 2019, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Familienzusammenführung – Schwester des Flüchtlings) (C‑519/18, EU:C:2019:1070), nicht in Frage gestellt, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, der Schwester eines Flüchtlings die Familienzusammenführung nur dann zu gestatten, wenn diese aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht in der Lage ist, selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, sofern gewisse Voraussetzungen erfüllt sind.

60      Hierzu ist festzustellen, dass sich der Sachverhalt, um den es im Ausgangsverfahren geht, und die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Rechtsfragen erheblich von denen in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, unterscheiden. In jener Rechtssache ging es nämlich darum, zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86, der fakultativen Charakter hat, es den Flüchtlingen einschließlich derjenigen, die keine unbegleiteten Minderjährigen sind, gegebenenfalls gestattet, eigenständig die Familienzusammenführung mit ihren Geschwistern zu beantragen. Dagegen hat sich der Gerichtshof im vorliegenden Fall zur Tragweite des Rechts eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern nach Art. 10 Abs. 3 dieser Richtlinie in dem besonderen Fall zu äußern, dass dieses Recht nicht ausgeübt werden kann, wenn seiner volljährigen, schwer kranken Schwester, die deshalb vollständig und dauerhaft von den Eltern abhängig ist, kein Einreise- und Aufenthaltstitel erteilt wird.

61      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass danach der volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, die Staatsangehörige eines Drittstaats ist und aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist, ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, wenn die Weigerung, diesen Aufenthaltstitel zu erteilen, dazu führen würde, dass diesem Flüchtling das ihm durch diese Bestimmung verliehene Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen würde.

 Zur sechsten und zur siebten Frage

62      Mit seiner sechsten und seiner siebten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat verlangen kann, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling oder seine Eltern die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllen, damit dieser das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie in Anspruch nehmen kann, und ob gegebenenfalls die Möglichkeit, die Erfüllung dieser Voraussetzungen zu verlangen, davon abhängt, ob der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist gestellt wurde.

63      Zur Beantwortung dieser Fragen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86, der zu Kapitel IV („Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung“) gehört, die Mitgliedstaaten ermächtigt, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über Wohnraum, der in dem betreffenden Mitgliedstaat für eine vergleichbar große Familie als üblich angesehen wird, über eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen sowie über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen.

64      Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86, der ebenso wie deren Art. 10 zu Kapitel V („Familienzusammenführung von Flüchtlingen“) gehört, bestimmt, dass die Mitgliedstaaten abweichend von Art. 7 der Richtlinie von einem Flüchtling und/oder seinen Familienangehörigen in Bezug auf Anträge betreffend die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie genannten Familienangehörigen keinen Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende die in Art. 7 genannten Bedingungen erfüllt.

65      Nach Abs. 1 des Art. 4 der Richtlinie 2003/86, des einzigen Artikels ihres Kapitels II („Familienangehörige“), gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie und vorbehaltlich der in ihrem Kapitel IV und Art. 16 genannten Bedingungen den in diesem Art. 4 aufgeführten Familienangehörigen, darunter u. a. dem Ehegatten des Zusammenführenden und den minderjährigen Kindern, die Einreise und den Aufenthalt.

66      Somit ergibt sich aus Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86, dass die erstgenannte Bestimmung günstigere Bedingungen für die Familienzusammenführung eines Flüchtlings mit den Mitgliedern der Kernfamilie aufstellt, indem den Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen wird, den Nachweis zu verlangen, dass der Flüchtling über Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie als üblich angesehen wird, über eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen sowie über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen.

67      Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86 regelt jedoch, dass die Mitgliedstaaten von dem Flüchtling die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen verlangen können, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde.

68      Aus Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86 ergibt sich also, dass der Unionsgesetzgeber in den in Unterabs. 1 dieser Bestimmung genannten Fällen die Mitgliedstaaten ermächtigt hat, in Bezug auf die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 genannten Voraussetzungen anstelle der günstigeren Regelung, die auf Flüchtlinge normalerweise Anwendung findet, die allgemeine Regelung anzuwenden, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nach Ablauf einer bestimmten Frist nach Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2018, K und B, C‑380/17, EU:C:2018:877, Rn. 46).

69      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Republik Österreich sowohl von der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 vorgesehenen Befugnis Gebrauch gemacht hat, indem sie verlangt, dass die Zusammenführenden die in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen erfüllen, als auch von der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Befugnis, indem sie vorgesehen hat, dass diese Voraussetzungen auch von den Zusammenführenden, die den Flüchtlingsstatus haben, erfüllt werden müssen, wenn der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mehr als drei Monate nach der endgültigen Zuerkennung dieses Status gestellt wird.

70      Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob sich diese letztgenannte Befugnis auch auf die Familienzusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern im Sinne von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 erstreckt und ob es den Mitgliedstaaten somit freisteht, für eine solche Familienzusammenführung zu verlangen, dass der minderjährige Flüchtling oder seine Eltern die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllen, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern nicht innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an diesen Minderjährigen gestellt wurde.

71      In Anbetracht des Wortlauts, der Systematik und des Zwecks der Richtlinie 2003/86 sowie der Anforderungen, die sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ergeben, ist diese Frage aber zu verneinen.

72      Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 gewährt nämlich unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen eine Vorzugsbehandlung, indem er die Familienzusammenführung mit ihren Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades „ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) [dieser Richtlinie] genannten Bedingungen“ gewährleistet.

73      Wie der Generalanwalt in Nr. 26 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, nimmt Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ausdrücklich auf die in Kapitel IV, zu dem Art. 7 gehört, genannten Bedingungen Bezug. Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie in Verbindung mit ihrem Art. 4 Abs. 2 Buchst. a, dass die Mitgliedstaaten von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling oder seinen Eltern nicht verlangen können, dass sie die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie erfüllen, wenn diese einen auf Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie gestützten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit dem minderjährigen Flüchtling stellen.

74      Diese Auslegung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 wird sowohl durch den Zweck dieser Bestimmung – die, wie in den Rn. 40 und 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Speziellen darauf abzielt, die Zusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern zu begünstigen, um diesen Minderjährigen aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit einen stärkeren Schutz zu gewährleisten – als auch durch die Systematik dieser Richtlinie und insbesondere durch ihren Art. 12 Abs. 1 bestätigt.

75      Diese letztgenannte Bestimmung bezieht sich nämlich ausdrücklich nur auf „Anträge betreffend die in Artikel 4 Absatz 1 [dieser Richtlinie] genannten Familienangehörigen“, d. h. insbesondere auf den Ehegatten des Zusammenführenden und die minderjährigen Kinder. Aus der Systematik dieser Richtlinie ergibt sich somit, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 12 Abs. 1 und in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie zwei unterschiedliche Regelungen vorgesehen hat, von denen die erste für die Familienzusammenführung jedes Flüchtlings mit den Mitgliedern seiner Kernfamilie gilt und die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten vorsieht, vom Zusammenführenden zu verlangen, dass er die in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllt, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wird, während die zweite speziell für die Familienzusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern gilt und eine solche Möglichkeit nicht vorsieht.

76      Außerdem ist der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er im Rahmen von Anträgen auf Familienzusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern, die auf Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 gestützt sind, die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten ausgeschlossen hat, die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen zu verlangen, den Anforderungen nachgekommen, die sich aus Art. 7 der Charta in Bezug auf die Achtung des Familienlebens und aus Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ergeben, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss und der Notwendigkeit Rechnung zu tragen ist, dass das Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen unterhält.

77      Wie die Kommission ausgeführt hat, ist es nämlich nahezu unmöglich, dass ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling für sich selbst und seine Familienangehörigen über einen ortsüblichen Wohnraum, eine Krankenversicherung und ausreichende Einkünfte verfügt und damit die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 erfüllt. Ebenso ist es für die Eltern eines solchen Minderjährigen äußerst schwierig, diese Voraussetzungen zu erfüllen, bevor sie zu ihrem Kind in den betreffenden Mitgliedstaat gezogen sind. Die mögliche Familienzusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern von der Erfüllung dieser Voraussetzungen abhängig zu machen, würde somit in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, diesen Minderjährigen unter Missachtung der sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ergebenden Anforderungen ihr Recht auf eine solche Zusammenführung zu nehmen.

78      Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten, wenn Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit diesem nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 stellen, weder von diesem Minderjährigen noch von seinen Eltern verlangen dürfen, dass sie die in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllen, d. h., dass sie über Wohnraum, der für alle Familienangehörigen in dem betreffenden Mitgliedstaat als ausreichend angesehen wird, eine Krankenversicherung, die alle Mitglieder dieser Familie abdeckt, sowie feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für den Lebensunterhalt der Familie ausreichen, verfügen.

79      Da es in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände des Ausgangsverfahrens, wie in Rn. 58 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des sich aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ergebenden Rechts von RI auf Familienzusammenführung mit beiden Elternteilen erforderlich ist, dass auch seiner volljährigen Schwester ein Einreise- und Aufenthaltstitel erteilt wird, da es seinen Eltern nicht möglich ist, zu ihrem Sohn, einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, nach Österreich zu ziehen, ohne ihre Tochter mitzunehmen, weil diese an einer schweren Krankheit leidet, die sie vollständig und dauerhaft von der konkreten Unterstützung ihrer Eltern abhängig macht, kann der betreffende Mitgliedstaat auch nicht verlangen, dass RI oder seine Eltern die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie in Bezug auf die Schwester des minderjährigen Flüchtlings erfüllen.

80      Nach alledem ist auf die sechste und die siebte Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat nicht verlangen kann, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling oder seine Eltern die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllen, damit dieser das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie in Anspruch nehmen kann, und zwar unabhängig davon, ob der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist gestellt wurde.

 Kosten

81      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass die Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, wenn dieser zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig ist und im Laufe des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig wird, nach dieser Bestimmung nicht dazu verpflichtet sind, den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit diesem Flüchtling innerhalb einer bestimmten Frist zu stellen, um das Recht auf Familienzusammenführung auf diese Bestimmung stützen und die darin vorgesehenen günstigeren Bedingungen in Anspruch nehmen zu können.

2.      Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass danach der volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, die Staatsangehörige eines Drittstaats ist und aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist, ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, wenn die Weigerung, diesen Aufenthaltstitel zu erteilen, dazu führen würde, dass diesem Flüchtling das ihm durch diese Bestimmung verliehene Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades genommen würde.

3.      Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verlangen kann, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling oder seine Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie erfüllen, damit dieser das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie in Anspruch nehmen kann, und zwar unabhängig davon, ob der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist gestellt wurde.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.