Language of document : ECLI:EU:T:2006:184

Rechtssache T‑304/02

Hoek Loos NV

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Wettbewerb − Kartelle − Niederländischer Markt für Industrie‑ und medizinische Gase − Preisfestsetzung − Festsetzung der Höhe der Geldbußen − Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung der Höhe von Geldbußen − Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung“

Leitsätze des Urteils

1.      Nichtigkeitsklage – Gründe

(Artikel 81 EG und 253 EG)

2.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2 und 17)

3.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

4.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Zu berücksichtigender Umsatz

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2)

5.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens mit der Kommission

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission)

1.      Eine von der Kommission an mehrere Unternehmen wegen Teilnahme an einem rechtswidrigen Kartell gerichtete Sanktionsentscheidung stellt, obgleich in Form nur einer Entscheidung abgefasst, ein Bündel von Einzelentscheidungen dar, mit denen gegenüber jedem der Unternehmen, die Adressaten der Entscheidung sind, festgestellt wird, welche Zuwiderhandlung oder Zuwiderhandlungen es begangen hat, und eine Geldbuße festgesetzt wird.

Erhebt einer der Adressaten der Entscheidung gegen die ihm auferlegte Geldbuße Nichtigkeitsklage, so wird der Gemeinschaftsrichter deshalb nur mit den Teilen der Entscheidung befasst, die diesen Adressaten betreffen. Diejenigen Teile, die andere Adressaten betreffen und die nicht angefochten worden sind, gehören dagegen nicht zum Streitgegenstand, über den der Gemeinschaftsrichter zu entscheiden hat.

Dieser Adressat kann sich daher nicht darauf berufen, dass die Entscheidung fehlerhaft oder unzureichend begründet sei, soweit die Zuwiderhandlung anderen Unternehmen, an die die Entscheidung gerichtet ist und die die Entscheidung nicht angefochten haben, zugerechnet wird und nicht deren Muttergesellschaften, denen keine Sanktion auferlegt wurde und deren Situation nicht Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits ist.

(vgl. Randnrn. 59-62)

2.      Bei der Festlegung der Höhe der einzelnen, wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft verhängten Geldbußen verfügt die Kommission über ein Ermessen und ist nicht verpflichtet, eine genaue mathematische Formel anzuwenden. Sie muss jedoch bei ihrer Entscheidung das Gemeinschaftsrecht wahren, zu dem nicht nur die Vorschriften des EG-Vertrags gehören, sondern auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze.

Die Frage, ob die festgesetzte Geldbuße der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung, d. h. den Kriterien des Artikels 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17, angemessen ist, unterliegt der dem Gericht gemäß Artikel 17 dieser Verordnung übertragenen Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung.

Was die Berücksichtigung der Bedeutung des Unternehmens auf dem betroffenen Markt angeht, ist die Kommission bei der Ermittlung der Höhe der Geldbußen anhand von Schwere und Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung nicht verpflichtet, für den Fall, dass gegen mehrere an der gleichen Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen Geldbußen festgesetzt werden, dafür zu sorgen, dass in den von ihr errechneten Endbeträgen der Geldbußen der betreffenden Unternehmen alle Unterschiede in Bezug auf ihren Gesamtumsatz oder ihren relevanten Umsatz zum Ausdruck kommen.

Der Endbetrag der Geldbuße ist nicht von vornherein ein geeigneter Faktor, um zu bestimmen, ob eine Geldbuße im Hinblick auf die Bedeutung der am Kartell Beteiligten etwa unverhältnismäßig ist. Für die Festlegung des Endbetrags sind nämlich u. a. verschiedene Umstände maßgeblich, die nicht mit dem Marktanteil oder dem Umsatz des fraglichen Unternehmens, sondern mit seinem individuellen Verhalten zusammenhängen, etwa der Dauer der Zuwiderhandlung, dem Vorliegen von erschwerenden oder mildernden Umständen und dem Umfang der Zusammenarbeit des Unternehmens. Dagegen kann der Ausgangsbetrag der Geldbuße einen maßgeblichen Faktor darstellen, um eine etwaige Unverhältnismäßigkeit der Geldbuße im Hinblick auf die Bedeutung der an dem Kartell Beteiligten zu beurteilen.

So führt der Umstand, dass der Endbetrag der einem Unternehmen auferlegten Geldbuße beinahe 50 % des Gesamtbetrags der von der Kommission verhängten Geldbußen darstellt, nicht dazu, dass dieser Betrag unverhältnismäßig wäre, sofern der Ausgangsbetrag ihrer Geldbuße nach dem von der Kommission bei der Beurteilung der Bedeutung jedes Unternehmens auf dem relevanten Markt herangezogenen Kriterium gerechtfertigt ist

(vgl. Randnrn. 68-69, 84-86, 93)

3.      Sofern der Kommission bei der Anwendung der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, hinsichtlich der heranzuziehenden Umsätze kein Fehler unterlaufen ist, kann ihr ein Unternehmen nicht vorwerfen, es dadurch benachteiligt zu haben, dass sie ihm gegenüber, obwohl seine Situation hinsichtlich der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung die gleiche ist wie die eines anderen Unternehmens, das an der Zuwiderhandlung teilgenommen hat, trotz eines gleichen Ausgangsbetrags eine alles in allem viel höhere Geldbuße festgesetzt hat als die gegenüber dem anderen Unternehmen festgesetzte Geldbuße. Dieser Unterschied rührt nämlich nicht nur von einem unbestrittenen Unterschied im Umfang der Zusammenarbeit, sondern beruht hauptsächlich auf der Anwendung der Obergrenze von 10 % des relevanten Umsatzes nach dem genannten Artikel 15 Absatz 2, bei der die Kommission über kein Ermessen verfügt.

(vgl. Randnrn. 100-112)

4.      Der Grundsatz der individuellen Straf‑ und Sanktionsfestsetzung, wonach gegen ein Unternehmen nur Sanktionen für die Handlungen verhängt werden dürfen, die ihm individuell zur Last gelegt werden, gilt in allen Verwaltungsverfahren, die aufgrund des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft zu Sanktionen führen können. Daher kann das Verhalten einer Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft nur dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft ihr Vorgehen auf dem Markt nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt.

Sofern dies nicht der Fall ist, d. h., wenn die Verletzung von Wettbewerbsvorschriften allein der Tochtergesellschaft zuzurechnen ist, ist deren Umsatz für die Festsetzung der Höhe der Geldbuße zu berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, dass die Sanktionsentscheidung, da die Tochtergesellschaft bei deren Erlass rechtlich nicht mehr bestand, an die Muttergesellschaft gerichtet ist, die die Haftung für ihre frühere Tochtergesellschaft und damit auch die Sanktion für deren Verhalten übernommen hat.

(vgl. Randnrn. 117-118, 120-122)

5.      Der Ansatz der Kommission für die Bemessung der Geldbußen bei Wettbewerbsverstößen, wonach der Faktor der Zusammenarbeit nach der Anwendung der Obergrenze von 10 % des Umsatzes des betroffenen Unternehmens gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 zum Tragen kommt und sich damit unmittelbar auf die Höhe der Geldbuße auswirkt, stellt sicher, dass die Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen ihre praktische Wirksamkeit in vollem Umfang entfaltet. Würde der Grundbetrag vor Anwendung der Mitteilung über die Zusammenarbeit die Obergrenze von 10 % weit übersteigen und könnte diese Grenze nicht unmittelbar auf ihn angewandt werden, so wäre nämlich der Anreiz des betroffenen Unternehmens, mit der Kommission zusammenzuarbeiten, weit geringer, da der Endbetrag der Geldbuße in jedem Fall, mit oder ohne Zusammenarbeit, auf 10 % herabgesetzt würde.

(vgl. Randnr. 123)