Language of document : ECLI:EU:C:2023:449

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

8. Juni 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Art. 12 Abs. 2 bis 4 – Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände – Covid‑19-Pandemie – Erstattung der vom Reisenden für die Pauschalreise getätigten Zahlungen – Erstattung in Geld oder Erstattung durch eine gleichwertige Ersatzleistung in Form eines Guthabens (‚Gutschein‘) – Verpflichtung, dem Reisenden die getätigten Zahlungen innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags zu erstatten – Vorübergehende Befreiung von der Verpflichtung zur Erstattung – Anpassung der Wirkungen einer nach nationalem Recht ergehenden Entscheidung, mit der eine nationale Regelung, die gegen die Verpflichtung zur Erstattung verstößt, für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht“

In der Rechtssache C‑407/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 1. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juli 2021, in dem Verfahren

Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir),

Consommation, logement et cadre de vie (CLCV)

gegen

Premier ministre,

Ministre de l’Économie, des Finances et de la Relance

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir) und von Consommation, logement et cadre de vie (CLCV), vertreten durch R. Froger und A. Londoño López, Avocats,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A. Ferrand als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und T. Willaert als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch S. Šindelková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Severi und M. Cherubini, Avvocati dello Stato,

–        der slowakischen Regierung, vertreten durch E. V. Drugda, S. Ondrášiková und B. Ricziová als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann, I. Rubene und C. Valero als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. September 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir) und Consommation, logement et cadre de vie (CLCV) einerseits und dem Premier ministre (Premierminister) und dem Ministre de l’Économie, des Finances et de la Relance (Minister für Wirtschaft, Finanzen und Aufschwung) andererseits wegen eines Antrags auf Nichtigerklärung der Ordonnance no 2020‑315, du 25 mars 2020, relative aux conditions financières de résolution de certains contrats de voyages touristiques et de séjours en cas de circonstances exceptionnelles et inévitables ou de force majeure (Rechtsverordnung Nr. 2020‑315 vom 25. März 2020 über die finanziellen Bestimmungen für die Auflösung bestimmter Verträge über touristische Reisen und Urlaubsaufenthalte im Fall unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände oder höherer Gewalt) (JORF vom 26. März 2020, Text Nr. 35) (im Folgenden: Rechtsverordnung Nr. 2020‑315) wegen Rechtswidrigkeit.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2015/2302

3        In den Erwägungsgründen 5, 31 und 46 der Richtlinie 2015/2302 heißt es:

„(5)      … Um einen echten Binnenmarkt für Verbraucher bei Pauschalreisen und verbundenen Reiseleistungen zu schaffen, müssen die Rechte und Pflichten, die sich aus Pauschalreiseverträgen und verbundenen Reiseleistungen ergeben, so harmonisiert werden, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einem hohen Verbraucherschutzniveau und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen dieser Branche gewährleistet ist.

(31)      Reisende sollten jederzeit vor Beginn der Pauschalreise gegen Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr – unter Berücksichtigung der erwarteten ersparten Aufwendungen sowie der Einnahmen aus einer anderweitigen Verwendung der Reiseleistungen – von dem Pauschalreisevertrag zurücktreten können. Zudem sollten sie ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten können, wenn die Durchführung der Reise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt wird. Dies kann zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen.

(46)      Es sollte bekräftigt werden, dass Reisende nicht auf ihre Rechte aus dieser Richtlinie verzichten dürfen und dass sich Reiseveranstalter oder Unternehmer, die verbundene Reiseleistungen vermitteln, ihren Pflichten nicht dadurch entziehen dürfen, dass sie geltend machen, lediglich als Erbringer von Reiseleistungen, Vermittler oder in anderer Eigenschaft tätig zu sein.“

4        Art. 1 der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„Der Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung bestimmter Aspekte der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Verträge über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen zwischen Reisenden und Unternehmern, um so zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts und zu einem hohen und möglichst einheitlichen Verbraucherschutzniveau beizutragen.“

5        Art. 3 der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

6.      ‚Reisender‘ jede Person, die auf der Grundlage dieser Richtlinie einen Vertrag schließen möchte oder die zu einer Reise auf der Grundlage eines im Rahmen dieser Richtlinie geschlossenen Vertrags berechtigt ist;

8.      ‚Reiseveranstalter‘ einen Unternehmer, der entweder direkt oder über einen anderen Unternehmer oder gemeinsam mit einem anderen Unternehmer Pauschalreisen zusammenstellt und verkauft oder zum Verkauf anbietet …

12.      ‚unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände‘ eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären;

…“

6        Art. 4 („Grad der Harmonisierung“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„Sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt, erhalten die Mitgliedstaaten weder von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichende nationale Rechtsvorschriften aufrecht noch führen sie solche ein; dies gilt auch für strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Schutzniveaus für den Reisenden.“

7        Art. 12 („Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Reisende vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom Pauschalreisevertrag zurücktreten kann. Tritt der Reisende gemäß diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so kann der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen. …

(2)      Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.

(3)      Der Reiseveranstalter kann den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn

b)      der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt.

(4)      Der Reiseveranstalter leistet alle Erstattungen gemäß den Absätzen 2 und 3 oder zahlt dem Reisenden gemäß Absatz 1 alle von dem Reisenden oder in seinem Namen für die Pauschalreise geleisteten Beträge abzüglich einer angemessenen Rücktrittsgebühr zurück. Der Reisende erhält diese Erstattungen oder Rückzahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags.

…“

8        Art. 23 („Unabdingbarkeit der Richtlinie“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„…

(2)      Reisende dürfen nicht auf die Rechte verzichten, die ihnen aus den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie zustehen.

(3)      Vertragliche Vereinbarungen oder Erklärungen des Reisenden, die einen Verzicht auf die sich aus dieser Richtlinie ergebenden Rechte oder deren Einschränkung unmittelbar oder mittelbar bewirken oder die darauf gerichtet sind, die Anwendung dieser Richtlinie zu umgehen, sind für den Reisenden nicht bindend.“

 Empfehlung (EU) 2020/648

9        In der Empfehlung (EU) 2020/648 der Kommission vom 13. Mai 2020 zu Gutscheinen für Passagiere und Reisende als Alternative zur Rückerstattung von Zahlungen für annullierte Pauschalreisen und Beförderungsdienstleistungen im Kontext der COVID‑19-Pandemie (ABl. 2020, L 151, S. 10) heißt es in den Erwägungsgründen 9, 13 bis 15, 21 und 22:

„(9)      Gemäß der Richtlinie [2015/2302] haben die Reisenden, wenn eine Pauschalreise wegen ‚unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände‘ annulliert wird, Anspruch auf eine volle Rückerstattung aller geleisteten Zahlungen, die unverzüglich und in jedem Fall 14 Tage nach Beendigung des Vertrags erfolgen muss. In diesem Fall kann der Reiseveranstalter dem Reisenden die Erstattung in Form eines Gutscheins anbieten. Es steht dem Reisenden jedoch frei, stattdessen seinen Anspruch auf Rückerstattung geleisteter Zahlungen geltend zu machen.

(13)      Die zahlreichen Annullierungen aufgrund der COVID‑19-Pandemie haben für Verkehrsunternehmen und den Reisesektor zu einer unhaltbaren Cashflow- und Einnahmensituation geführt. Zu den Liquiditätsproblemen der Reiseveranstalter kommt erschwerend hinzu, dass sie Reisenden den vollen Preis der Pauschalreise erstatten müssen, obwohl sie selbst bereits geleistete Zahlungen für Dienstleistungen, die Teil der Pauschalreise sind, nicht immer rechtzeitig erstattet bekommen. Dies kann zu einer ungerechten Lastenverteilung zwischen den Unternehmen im Reise-Ökosystem führen.

(14)      Wenn Veranstalter oder Beförderer zahlungsunfähig werden, besteht die Gefahr, dass viele Reisende und Passagiere ganz leer ausgehen, da ihre Forderungen gegen Veranstalter und Beförderer nicht geschützt sind. Das gleiche Problem kann auch auf der B2B-Ebene auftreten, wenn Veranstalter für bereits geleistete Zahlungen einen Gutschein erhalten, die Beförderer aber später zahlungsunfähig werden.

(15)      Wenn Gutscheine als Alternative zur Kostenerstattung attraktiver gemacht würden, würde ihre Akzeptanz bei Passagieren und Reisenden steigen. Dies würde dazu beitragen, die Liquiditätsprobleme von Beförderern und Veranstaltern abzufedern, und könnte letztlich zu einem besseren Schutz der Interessen von Passagieren und Reisenden führen.

(21)      Im Hinblick auf einen etwaigen zusätzlichen Liquiditätsbedarf von Unternehmen in der Reise- und der Verkehrsbranche hat die [Europäische] Kommission am 19. März 2020 auf der Grundlage des Artikels 107 Absatz 3 Buchstabe b AEUV einen Befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID‑19 … angenommen, um eine beträchtliche Störung im Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten zu beheben. …

(22)      Der Befristete Rahmen gilt grundsätzlich für alle Sektoren und Unternehmen, darunter auch jene des Verkehrssektors und der Reisebranche, und nennt die Beförderungs- und die Reisebranche ausdrücklich als am stärksten betroffene Sektoren. Ziel ist, Liquiditätsengpässen von Unternehmen abzuhelfen, indem z. B. direkte Zuschüsse, Steuervorteile, staatliche Garantien für Darlehen und öffentliche Darlehen mit vergünstigten Zinssätzen erlaubt werden. … In diesem Kontext können die Mitgliedstaaten beschließen, Unternehmen der Reise- und Beförderungsbranche zu unterstützen, damit durch den COVID‑19-Ausbruch bedingte Erstattungsforderungen erfüllt werden, so dass der Schutz von Passagier- und Verbraucherrechten und die Gleichbehandlung von Passagieren und Reisenden gewährleistet sind.“

10      In Rn. 1 der Empfehlung heißt es:

„Diese Empfehlung betrifft Gutscheine, die Beförderer und Veranstalter Passagieren bzw. Reisenden als Alternative zur Erstattung geleisteter Zahlungen und vorbehaltlich der freiwilligen Annahme durch den Passagier bzw. Reisenden unter folgenden Umständen anbieten können:

a)      im Falle von Annullierungen durch den Beförderer oder Veranstalter, die ab dem 1. März 2020 aus durch die COVID‑19-Pandemie bedingten Gründen vorgenommen wurden, im Zusammenhang mit den folgenden Bestimmungen:

(5)      Artikel 12 Absätze 3 und 4 der Richtlinie (EU) 2015/2302.

…“

 Französisches Recht

11      Die Rechtsverordnung Nr. 2020-315 wurde auf der Grundlage der Notstandsermächtigung erlassen, die der französischen Regierung durch die Loi no 2020‑290 du 23 mars 2020, d’urgence pour faire face à l’épidémie de COVID‑19 (Notstandsgesetz Nr. 2020‑290 vom 23. März 2020 über den Umgang mit der Covid‑19-Pandemie) (JORF vom 14. März 2020, Text Nr. 2) erteilt wurde, mit dem erklärten Ziel „den wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Folgen der Ausbreitung der Covid‑19-Epidemie und den Folgen der zur Begrenzung der Ausbreitung dieser Epidemie ergriffenen Maßnahmen zu begegnen, insbesondere die Einstellung der Tätigkeit natürlicher und juristischer Personen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, und von Verbänden sowie deren Auswirkungen auf die Beschäftigung zu verhindern und zu begrenzen“.

12      Nach Art. 1 II der Rechtsverordnung Nr. 2020‑315 kann der Reiseveranstalter oder ‑vermittler – abweichend von den Vorschriften des französischen Rechts, mit denen Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302 umgesetzt wurde – bei einem Vertrag über Reiseleistungen, der zwischen dem 1. März 2020 und dem 15. September 2020 „aufgelöst“ wurde, anstelle der vollen Erstattung aller für den „aufgelösten Vertrag“ getätigten Zahlungen einen Gutschein anbieten, den der Reisende unter bestimmten Voraussetzungen einlösen kann. In Art. 1 II der Rechtsverordnung Nr. 2020‑315 ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen der Reisende im Fall der Nichteinlösung des Gutscheins Anspruch auf volle Erstattung aller für den „aufgelösten Vertrag“ getätigten Zahlungen hat.

13      Der Vorlageentscheidung zufolge musste der Gutschein spätestens drei Monate nach Zugang der „Auflösung“ des betreffenden Vertrags angeboten werden und war das Angebot dann 18 Monate lang gültig. Erst nach Ablauf dieser 18 Monate war der Reiseveranstalter, wenn der Reisende die ihm angebotene Leistung, die mit der im „aufgelösten Vertrag“ vorgesehenen identisch oder ihr gleichwertig war, nicht annahm, zur vollen Erstattung aller für den „aufgelösten Vertrag“ getätigten Zahlungen verpflichtet.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14      Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, zwei Verbraucherschutzvereine, haben beim vorlegenden Gericht Klage auf Nichtigerklärung der Rechtsverordnung Nr. 2020‑315 erhoben. Sie machen geltend, dass die Vorschriften dieser Rechtsverordnung gegen Art. 12 der Richtlinie 2015/2302 verstießen, der für den Reisenden im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag wegen des Auftretens „unvermeidbare[r,] außergewöhnliche[r] Umstände“ einen Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen innerhalb von spätestens 14 Tagen nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag vorsieht. Außerdem beeinträchtigten sie den freien Wettbewerb im Binnenmarkt und liefen dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel der Harmonisierung zuwider.

15      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Bestimmungen der Rechtsverordnung Nr. 2020‑315 erlassen worden seien, um die Finanzlage und die Liquidität der Leistungserbringer im Sinne dieser Bestimmungen in einem Kontext zu sichern, in dem sich mehr als 7 000 in Frankreich registrierte Reiseveranstalter, die aufgrund der Covid‑19-Pandemie, die gleichzeitig nicht nur Frankreich und die meisten Länder Europas, sondern auch fast alle Kontinente betroffen habe, mit einem Volumen von Stornierungen beauftragter Leistungen in einem noch nie erreichten Ausmaß und damit konfrontiert gewesen seien, dass nahezu keine Aufträge eingegangen seien, in großen Schwierigkeiten befunden hätten und in dem eine sofortige Erstattung aller für die stornierten Leistungen gezahlten Entgelte angesichts dieser Umstände geeignet gewesen sei, die Existenz der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer und damit die Möglichkeit für die Kunden, eine Erstattung der gezahlten Entgelte erhalten zu können, zu gefährden.

16      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich der Gesamtbetrag der Gutscheine, die von französischen Unternehmen bis zum 15. September 2020, dem Ende der Anwendung der Rechtsverordnung Nr. 2020‑315, ausgestellt worden seien, auf etwa 990 Mio. Euro belaufe. Dies entspreche 10 % des Umsatzes, den die Branche in einem normalen Jahr erziele.

17      Der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 12 der Richtlinie 2015/2302 dahin auszulegen, dass er den Veranstalter einer Pauschalreise im Fall der Beendigung des Vertrags verpflichtet, alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld zu erstatten, oder dahin, dass er eine Erstattung durch eine gleichwertige Ersatzleistung, insbesondere in Form eines Gutscheins in Höhe der getätigten Zahlungen, zulässt?

2.      Für den Fall, dass eine Erstattung in Geld gemeint ist: Können die wegen der Covid‑19-Epidemie bestehende gesundheitliche Notlage und ihre Auswirkungen auf die Reiseveranstalter, die aufgrund dieser gesundheitlichen Notlage einen Umsatzrückgang erlitten haben, der mit 50 % bis 80 % veranschlagt werden kann, mehr als 7 % des Bruttoinlandsprodukts in Frankreich repräsentieren und, was die Pauschalreiseveranstalter betrifft, 30 000 Arbeitnehmer in Frankreich beschäftigen und einen Umsatz von fast 11 Mrd. Euro erzielen, eine vorübergehende Befreiung von der in Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2015/2302 vorgesehenen Verpflichtung für den Veranstalter, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen innerhalb von 14 Tagen nach Beendigung des Vertrags voll zu erstatten, rechtfertigen? Wenn ja: Unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen?

3.      Falls die vorstehende Frage verneint wird: Ist es unter den genannten Umständen möglich, die Wirkungen einer Entscheidung, mit der eine gegen Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2015/2302 verstoßende nationale Rechtsvorschrift für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht anzupassen?

 Zur ersten Frage

18      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Reiseveranstalter nach dieser Bestimmung im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag verpflichtet ist, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, unter einer solchen Erstattung ausschließlich eine Erstattung der Zahlungen in Geld zu verstehen ist oder ob die Erstattung nach Belieben des Reiseveranstalters auch in Form eines Guthabens in Höhe der Zahlungen (d. h. eines „Gutscheins“) erfolgen kann.

19      Nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Er hat im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß dieser Bestimmung Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen.

20      Nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 kann der Reiseveranstalter, wenn er aufgrund „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt, den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen.

21      Nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2015/2302 erhält der Reisende diese Erstattungen oder Rückzahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags.

22      Im vorliegenden Fall ist Hintergrund der ersten Vorlagefrage der Erlass der Rechtsverordnung Nr. 2020-315 durch die französische Regierung. Nach deren Art. 1 konnten Reiseveranstalter ihrer Verpflichtung zur Erstattung bei zwischen dem 1. März und dem 15. September 2020 zugegangenen „Auflösungen“ dadurch nachkommen, dass sie dem Reisenden spätestens drei Monate nach dem Zugang der „Auflösung“ des Pauschalreisevertrags einen Gutschein in Höhe der für die Pauschalreise getätigten Zahlungen anboten. Das Angebot blieb 18 Monate lang gültig.

23      Was die Frage angeht, ob ein solches Angebot eine „Erstattung“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302 darstellen kann, ist zunächst festzustellen, dass der Begriff der Erstattung in der Richtlinie an keiner Stelle definiert wird.

24      Nach ständiger Rechtsprechung sind die Bedeutung und die Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen (Urteil vom 18. März 2021, Kuoni Travel, C‑578/19, EU:C:2021:213, Rn. 37).

25      Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ist mit „erstatten“ gemeint, dass einer Person Geld zurückgegeben wird, das sie an eine andere Person gezahlt hat oder dieser geliehen hat. Letzte muss Ersterer das Geld also zurückzahlen. Diese Bedeutung ergibt sich auch eindeutig aus dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302, wenn man diese Bestimmungen in ihrer Gesamtheit sieht. In diesen Bestimmungen ist davon die Rede, dass die für die Pauschalreise „getätigten Zahlungen“ voll zu erstatten sind, so dass kein Zweifel daran besteht, was zu erstatten ist, nämlich Geld.

26      Unter „Erstattung“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie ist demnach die Rückzahlung der für eine Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld zu verstehen.

27      Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen der slowakischen Regierung, dass bei dem Begriff der Erstattung insbesondere in der deutschen und der englischen Sprachfassung von Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2015/2302 terminologisch zwischen der Rückzahlung (englische Sprachfassung: „reimbursement“, deutsche Sprachfassung: „Rückzahlung“) der Zahlungen gemäß Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie und der „Erstattung“ (englische Sprachfassung: „refund“, deutsche Sprachfassung: „Erstattung“) der Zahlungen gemäß Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie unterschieden werde und eine solche „Erstattung“ auch eine Entschädigung in anderer Form als in Geld umfasse.

28      Diese terminologische Unterscheidung ist mit der Auslegung dieser Bestimmungen dahin, dass der Begriff der Erstattung eine Erstattung in Geld umfasst, nämlich durchaus vereinbar. Im Übrigen kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nach einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs jedenfalls nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung der Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen voneinander ab, muss die Vorschrift nach dem Zusammenhang, in dem sie steht, und dem Zweck der Regelung, zu der sie gehört, ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2020, Banca Transilvania, C‑81/19, EU:C:2020:532, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Der Zusammenhang, in dem Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302 steht, und das Ziel der Richtlinie bestätigen aber die Auslegung, die oben in Rn. 26 ausgehend vom Wortlaut vorgenommen wurde.

30      Was zum einen den Zusammenhang der Bestimmung angeht, spricht der Umstand, dass die Rückzahlung nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags zu erfolgen hat, dafür, dass die Erstattung in Geld zu erfolgen hat. Mit dieser Frist soll nämlich gewährleistet werden, dass der Reisende kurze Zeit nach der Beendigung des Pauschalreisevertrags erneut frei über das Geld verfügen kann, das er für die Pauschalreise gezahlt hat. Die Frist wäre wenig nützlich, wenn sich der Reisende mit einem Gutschein oder einer anderen zeitversetzten Leistung begnügen müsste, den bzw. die er ohnehin erst nach Ablauf der Frist nutzen könnte.

31      Im Übrigen geht – wie auch die Generalanwältin in Nr. 26 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – aus dem größeren Zusammenhang, in dem die Richtlinie 2015/2302 steht, nämlich dem Bereich der Rechte der Reisenden und des Verbraucherschutzes, hervor, dass, wenn der Unionsgesetzgeber in diesem Bereich in einem bestimmten Rechtsakt vorsehen will, dass eine Verpflichtung zur Zahlung von Geld durch eine Leistung in einer anderen Form wie etwa das Angebot eines Gutscheins ersetzt werden kann, er dies in dem betreffenden Rechtsakt auch ausdrücklich vorsieht. Das Fehlen irgendeines Anhaltspunkts im Wortlaut von Art. 12 der Richtlinie 2015/2302 für eine solche Möglichkeit bestätigt daher, dass sich dieser Artikel nur auf Erstattungen in Geld bezieht.

32      Was zum anderen das mit der Richtlinie 2015/2302 verfolgte Ziel angeht, ergibt sich aus Art. 1 der Richtlinie in Verbindung mit deren fünftem Erwägungsgrund, dass dieses Ziel darin besteht, zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts und zu einem hohen und möglichst einheitlichen Verbraucherschutzniveau beizutragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, FTI Touristik [Pauschalreise auf die Kanarischen Inseln], C‑396/21, EU:C:2023:10, Rn. 29).

33      Mit dem Anspruch auf Erstattung, der dem Reisenden nach Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie zusteht, wird diesem Ziel des Verbraucherschutzes Rechnung getragen. Eine Auslegung des Begriffs der „Erstattung“ im Sinne von Art. 12 der Richtlinie dahin, dass der Reisende Anspruch auf Erstattung der für die Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld hat, über das er frei verfügen kann, ist daher geeigneter, zum Schutz seiner Interessen und damit zur Verwirklichung des genannten Ziels beizutragen als eine Auslegung dahin, dass es genügen würde, dass der Reiseveranstalter ihm einen Gutschein oder eine andere Form des zeitversetzten Ausgleichs anbietet.

34      Natürlich bleibt es dem Reisenden, der Partei eines Pauschalreisevertrags ist, unbenommen, sich freiwillig damit einverstanden zu erklären, anstatt einer Erstattung in Geld einen Gutschein zu akzeptieren. Denn, wie aus dem neunten Erwägungsgrund der Empfehlung 2020/648 hervorgeht, lässt dies seinen Anspruch auf Erstattung unberührt.

35      Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Reiseveranstalter nach dieser Bestimmung im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag verpflichtet ist, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, unter einer solchen Erstattung ausschließlich eine Erstattung der Zahlungen in Geld zu verstehen ist.

 Zur zweiten Frage

36      Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Pauschalreiseveranstalter im Kontext des Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage, wegen derer Pauschalreiseverträge nicht erfüllt werden können, vorübergehend von ihrer Verpflichtung befreit sind, den Reisenden innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, und zwar auch dann, wenn die Regelung dazu dient, zu verhindern, dass wegen der hohen Zahl der zu erwartenden Erstattungsforderungen die Liquidität der Reiseveranstalter derart beeinträchtigt wird, dass deren Existenz bedroht ist, und damit dazu, die Lebensfähigkeit der betreffenden Branche zu erhalten.

37      Nach der auf die erste Frage gegebenen Antwort ist der Reiseveranstalter nach Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 verpflichtet, dem Reisenden im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag wegen des Auftretens „unvermeidbare[r], außergewöhnliche[r] Umstände“, die den Vertrag oder dessen Durchführung erheblich beeinträchtigen, alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld zu erstatten.

38      Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 22), konnten die Reiseveranstalter dem Reisenden bei zwischen dem 1. März und dem 15. September 2020 zugegangenen „Auflösungen“, d. h. in einem Zeitraum, der kurz vor dem Ausbruch der Covid‑19-Pandemie begann und einige Monate danach endete, nach Art. 1 der Rechtsverordnung Nr. 2020-315 bis zu drei Monate nach dem Zugang der „Auflösung“ des betreffenden Pauschalreisevertrags einen Gutschein anbieten, anstatt die für die Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld zu erstatten. Eine Verpflichtung zur Erstattung bestand erst nach Ablauf der 18 Monate, in denen der Gutschein gültig war.

39      Die zweite Frage dient im Wesentlichen dazu, es dem vorlegenden Gericht zu ermöglichen, zu beurteilen, ob eine solche nationale Regelung mit der Verpflichtung zur vollen Erstattung des Reiseveranstalters gemäß Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 vereinbar ist. Sie beruht daher zwangsläufig auf der Annahme, dass im vorliegenden Fall die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Bestimmung, insbesondere die des Auftretens „unvermeidbare[r], außergewöhnliche[r] Umstände“, erfüllt sind.

40      Die tschechische, die italienische und die slowakische Regierung machen geltend, dass Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 im Kontext einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der, die durch die Covid‑19-Pandemie hervorgerufen worden sei, überhaupt nicht anwendbar sei. Ein solches Ereignis falle nicht unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne dieser Bestimmung. Trete ein Reisender wegen einer solchen gesundheitlichen Notlage vom Pauschalreisevertrag zurück, könne er keinen Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen haben.

41      Als Erstes ist daher zu prüfen, ob eine weltweite gesundheitliche Notlage wie die Covid‑19-Pandemie unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 fallen kann und diese Bestimmung damit auf Rücktritte, wie sie in einer nationalen Regelung wie Art. 1 der Rechtsverordnung Nr. 2020‑315 geregelt sind, Anwendung finden kann.

42      Der Ausdruck „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ bezeichnet nach Art. 3 Nr. 12 der Richtlinie 2015/2302 „eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“.

43      Der Begriff wird im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie näher erläutert, wo es heißt, dass „[d]ies … zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen [kann].“

44      Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 19), geht aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 hervor, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ einen Rücktritt des Reisenden, der einen Anspruch des Reisenden auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen begründet, nur dann rechtfertigen können, wenn sie „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe“ auftreten und „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“.

45      Im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag hängt die Einstufung eines bestimmten Ereignisses als Situation, die unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne der Richtlinie fällt, zwangsläufig von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von den konkret vereinbarten Reiseleistungen und den Auswirkungen des Ereignisses am Bestimmungsort. Bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid‑19-Pandemie ist aber davon auszugehen, dass sie per se unter diesen Begriff fallen kann.

46      Ein solches Ereignis ist nämlich ganz offensichtlich außerhalb jeglicher Kontrolle, und seine Folgen hätten sich auch dann nicht vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären. Im Übrigen zeigt es, dass „erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit“ im Sinne des 31. Erwägungsgrundes der Richtlinie bestehen.

47      Insoweit ist nicht von Belang, dass der Ausdruck „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2302 wie in deren Art. 12 Abs. 2 mit dem Beispiel des „Ausbruch[s] einer schweren Krankheit am Reiseziel“ erläutert wird. Eine solche Präzisierung dient nämlich nicht dazu, den Umfang des Begriffs der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände auf lokale Ereignisse zu beschränken, sondern dazu, zu verdeutlichen, dass solche Umstände jedenfalls am Bestimmungsort auftreten und deshalb die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen müssen.

48      Kann die Ausbreitung einer schweren Krankheit am Bestimmungsort unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände fallen, muss dies – wie auch die Generalanwältin in Nr. 58 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – erst recht für die weltweite Ausbreitung einer schweren Krankheit gelten. Deren Auswirkungen betreffen nämlich auch den Bestimmungsort.

49      Im Übrigen wäre eine Auslegung von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 dahin, dass diese Bestimmung ausschließlich auf Ereignisse von lokaler Tragweite Anwendung fände und nicht auf Ereignisse mit einer größeren Tragweite, nicht mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar. Da in der Richtlinie insoweit kein Abgrenzungskriterium vorgesehen ist, könnte die Abgrenzung zwischen den beiden Kategorien von Ereignissen nämlich unscharf sein und schwanken, was letztlich dazu führen würde, dass es vom Zufall abhängen würde, ob der Reisende in den Genuss der Bestimmung gelangt.

50      Außerdem wäre eine solche Auslegung nicht mit dem Ziel des Verbraucherschutzes zu vereinbaren, das mit der Richtlinie 2015/2302 verfolgt wird. Sie würde nämlich bedeuten, dass Reisende, die vom Pauschalreisevertrag wegen des Auftretens einer lokal begrenzten Krankheit zurücktreten, keine Rücktrittsgebühr zahlen müssten, wohl aber Reisende, die von ihrem Vertrag wegen des Auftretens einer weltweiten Krankheit zurücktreten. Die Reisenden würden beim Auftreten einer weltweiten gesundheitlichen Notlage mithin über einen geringeren Schutz verfügen als beim Auftreten einer lokal begrenzten Krankheit.

51      Demnach kann der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 den Ausbruch einer weltweiten gesundheitlichen Notlage umfassen, so dass diese Bestimmung auf den Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag wegen der Auswirkungen eines solchen Ereignisses anwendbar ist.

52      Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass die französische Regierung geltend macht, dass eine Situation wie die durch die Covid‑19-Pandemie hervorgerufene gesundheitlichen Notlage eine so große Tragweite habe, dass sie auch einen Fall „höherer Gewalt“ darstelle. Dieser Begriff könne Fälle umfassen, deren Merkmale über die Situationen hinausgehen könnten, an die beim Erlass von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 gedacht worden sei. In solchen Fällen könnten die Mitgliedstaaten daher von dieser Bestimmung abweichen.

53      Nach ständiger Rechtsprechung ist die Bedeutung des Begriffs der höheren Gewalt, da er auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Unionsrechts nicht den gleichen Inhalt hat, anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll (Urteil vom 25. Januar 2017, Vilkas, C‑640/15, EU:C:2017:39, Rn. 54).

54      Wie die französische Regierung selbst einräumt, gleicht der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 aber dem Begriff der höheren Gewalt, wie er nach einer gefestigten Rechtsprechung definiert wird, nämlich als vom Willen desjenigen, der sich auf höhere Gewalt beruft, unabhängige, ungewöhnliche und unvorhersehbare Umstände, deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (Urteil vom 4. März 2010, Kommission/Italien, C‑297/08, EU:C:2010:115, Rn. 85). Der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände stellt mithin eine Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt im Rahmen der Richtlinie dar, auch wenn dieser Ausdruck in der Richtlinie nicht vorkommt.

55      Im Übrigen bestätigen – wie auch die Generalanwältin in Nr. 55 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat – die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2015/2302, insbesondere die entsprechenden Vorarbeiten, dass der Begriff der höheren Gewalt durch den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände ersetzt wurde, der in der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (ABl. 1990, L 158, S. 59), die durch die Richtlinie 2015/2302 aufgehoben und ersetzt wurde, enthalten war.

56      Der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 stellt demnach eine umfassende Durchführung des Begriffs der höheren Gewalt für die Zwecke der Richtlinie dar.

57      Die Mitgliedstaaten dürfen Pauschalreiseveranstalter daher nicht wegen höherer Gewalt von ihrer Verpflichtung zur Erstattung gemäß Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 befreien, und zwar auch nicht vorübergehend. Denn weder diese Bestimmung noch irgendeine andere Bestimmung der Richtlinie machen wegen höherer Gewalt eine Ausnahme von dem zwingenden Charakter dieser Verpflichtung (vgl. entsprechend Urteil vom 26. September 2013, ÖBB‑Personenverkehr, C‑509/11, EU:C:2013:613, Rn. 49 und 50).

58      Im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag wegen Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage sind die Reiseveranstalter somit verpflichtet, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen nach Maßgabe von Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie voll zu erstatten.

59      Was als Drittes die Frage angeht, ob die Richtlinie 2015/2302 es den Mitgliedstaaten dennoch gestattet, die Pauschalreiseveranstalter bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid‑19-Pandemie von der Verpflichtung zur vollen Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen zu befreien, ist festzustellen, dass sich aus Art. 4 der Richtlinie ergibt, dass mit ihr, wenn nichts anderes bestimmt ist, eine vollständige Harmonisierung des geregelten Bereichs bezweckt wird. Die Mitgliedstaaten dürfen daher keine von den Bestimmungen der Richtlinie abweichenden Bestimmungen erlassen, insbesondere auch keine strengeren Bestimmungen zur Gewährleistung eines anderen Schutzniveaus für den Reisenden.

60      Ferner ergibt sich aus Art. 23 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302, dass die Rechte, die den Reisenden in der Richtlinie zuerkannt werden, unabdingbar sind.

61      Die Befreiung der Reiseveranstalter von ihrer Verpflichtung zur Erstattung der für eine Pauschalreise getätigten Zahlungen führt aber zwangsläufig zu einer Senkung des Niveaus des Schutzes des Reisenden, wie es sich aus Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie ergibt. Dies ist nicht mit Art. 4 der Richtlinie 2015/2302 vereinbar.

62      Eine nationale Regelung, die die Pauschalreiseveranstalter von der Verpflichtung zur Erstattung gemäß Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 befreit, verstößt mithin gegen diese Bestimmung.

63      Die slowakische Regierung macht geltend, dass sich die Mitgliedstaaten beim Erlass einer solchen Regelung im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 2015/2302 auf höhere Gewalt berufen könnten, wenn die nachteilige Situation, die durch eine weltweite gesundheitliche Notlage wie der Covid‑19-Pandemie hervorgerufen werde, insbesondere die finanziellen Folgen für die Tourismusbranche, sie daran hindere, ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie nachzukommen.

64      Es ergibt sich aus der oben in Rn. 62 getroffenen Feststellung, dass eine nationale Regelung, die die Pauschalreiseveranstalter von der Verpflichtung zur Erstattung gemäß Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 befreit, einen Verstoß gegen die Verpflichtung eines jeden Mitgliedstaats, an die die Richtlinie 2015/2302 gerichtet ist, in seiner nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um deren volle Wirksamkeit gemäß ihrer Zielsetzung zu gewährleisten, darstellen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2022, Nord Stream 2/Parlament und Rat, C‑348/20 P, EU:C:2022:548, Rn. 69).

65      Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Befürchtung, dass es zu internen Schwierigkeiten kommen könne, keine Rechtfertigung dafür sein kann, dass ein Mitgliedstaat die korrekte Anwendung des Unionsrechts unterlässt (Urteil vom 17. Februar 2009, Azelvandre, C‑552/07, EU:C:2009:96, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Zwar ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV, dass sich ein Mitgliedstaat, der seinen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nicht nachgekommen ist, insoweit durchaus auf höhere Gewalt berufen kann.

67      Nach ständiger Rechtsprechung setzt der Begriff der höheren Gewalt zwar keine absolute Unmöglichkeit voraus, wohl aber, dass der Nichteintritt der fraglichen Tatsache auf vom Willen desjenigen, der sich auf höhere Gewalt beruft, unabhängigen, ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Umständen beruht, deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können, wobei sich ein Mitgliedstaat auf höhere Gewalt allenfalls für den Zeitraum berufen kann, der zur Ausräumung solcher Schwierigkeiten erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 2001, Kommission/Frankreich, C‑1/00, EU:C:2001:687, Rn. 131 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. März 2010, Kommission/Italien, C‑297/08, EU:C:2010:115, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Aber selbst unterstellt, diese Rechtsprechung könnte dahin verstanden werden, dass die Mitgliedstaaten danach vor ihren nationalen Gerichten wirksam geltend machen könnten, dass die Nichtvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit den Bestimmungen einer Richtlinie wegen höherer Gewalt gerechtfertigt ist, um auf diese Weise zu erreichen, dass die Regelung während des erforderlichen Zeitraums weiter angewandt werden kann, ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie Art. 1 der Rechtsverordnung Nr. 2020-315 ganz offensichtlich nicht die Voraussetzungen erfüllt, die nach der genannten Rechtsprechung für die Berufung auf höhere Gewalt erfüllt sein müssen.

69      Erstens ist eine gesundheitliche Notlage von einem Ausmaß wie die Covid‑19-Pandemie zwar vom Willen des betreffenden Mitgliedstaats unabhängig sowie ungewöhnlich und unvorhersehbar. Eine nationale Regelung, die bei Rücktritten, die während eines vorher festgelegten Zeitraums von mehreren Monaten zugehen, generell alle Pauschalreiseveranstalter von ihrer Verpflichtung zur Erstattung gemäß Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 befreit, kann aber bereits ihrem Wesen nach nicht durch die Zwänge, die sich aus einem solchen Ereignis ergeben, gerechtfertigt sein und damit nicht die Voraussetzungen für die Berufung auf höhere Gewalt erfüllen.

70      Indem die Verpflichtung zur Erstattung letztlich generell vorläufig ausgesetzt wird, kommt die Regelung nämlich nicht nur in den Fällen zur Anwendung, in denen solche Zwänge, insbesondere finanzieller Art, tatsächlich bestanden, sondern bei allen Verträgen, von denen während des Referenzzeitraums zurückgetreten worden ist, ohne dass die konkrete individuelle finanzielle Situation der betreffenden Reiseveranstalter berücksichtigt wird.

71      Zweitens ist aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, nicht ersichtlich, dass die finanziellen Folgen, denen mit dem verfügenden Teil von Art. 1 der Rechtsverordnung Nr. 2020-315 begegnet werden sollte, nicht anders hätten verhindert werden können als durch einen Verstoß gegen Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302, etwa durch bestimmte Beihilfemaßnahmen zugunsten der betroffenen Reiseveranstalter, die gemäß Art. 107 Abs. 2 Buchst. b AEUV hätten genehmigt werden können – eine Möglichkeit, von der andere Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht haben, wie die Generalanwältin in den Nrn. 82 bis 84 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat.

72      Die Regierungen mehrerer Mitgliedstaaten haben nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der Erlass solcher Beihilfemaßnahmen für nicht wenige Mitgliedstaaten mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre. Solche Maßnahmen hätten nur dann kurzfristig erlassen werden können, wenn insbesondere auf bestehende Strukturen des Pauschalreiseveranstalters hätte zurückgegriffen werden können und man die erforderliche Zeit gehabt hätte, um die Maßnahmen gemäß den innerstaatlichen Verfahren zu erlassen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich ein Mitgliedstaat aber nicht auf interne Schwierigkeiten berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen (Urteile vom 25. Juni 2013, Kommission/Tschechische Republik, C‑241/11, EU:C:2013:423, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. November 2014, Kommission/Belgien, C‑395/13, EU:C:2014:2347, Rn. 51).

73      Nicht gefolgt werden kann in diesem Zusammenhang auch dem insbesondere von der tschechischen Regierung vorgebrachten Argument, dass die Lösung, die darin bestehe, staatliche Beihilfen zu gewähren, das „letzte Mittel“ sein müsse. Insoweit kann es mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass das Unionsrecht es den Mitgliedstaaten, sofern die entsprechenden Voraussetzungen eingehalten werden, gestattet, bestimmte Arten von staatlichen Beihilfen vorzusehen, insbesondere solche, die nach Art. 107 Abs. 2 Buchst. b AEUV als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können, nicht aber, ihrer Verpflichtung, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie, hier der Richtlinie 2015/2302, zu gewährleisten, nicht nachzukommen.

74      Weiter ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit hatten, Regelungen einzuführen, mit denen die Akzeptanz von Gutscheinen anstatt einer Erstattung in Geld nicht vorgeschrieben, sondern gefördert oder erleichtert worden wäre. Auch solche Lösungen hätten dazu beitragen können, die Liquiditätsprobleme der Reiseveranstalter abzufedern, wie es in der Empfehlung 2020/648, insbesondere im 15. Erwägungsgrund, heißt.

75      Drittens ist eine nationale Regelung wie Art. 1 der Rechtsverordnung Nr. 2020‑315, die vorsieht, dass die Pauschalreiseveranstalter während eines Zeitraums, der ab dem Zugang der „Auflösung“ des betreffenden Pauschalreisebetrags bis zu 21 Monaten dauern kann, von ihrer Verpflichtung zur Erstattung befreit sind, ganz offensichtlich nicht so gestaltet, dass ihre Auswirkungen auf den Zeitraum beschränkt wären, der erforderlich ist, um den Schwierigkeiten zu begegnen, die wegen des Ereignisses, das einen Fall höherer Gewalt darstellen kann, auftreten, wie auch die Generalanwältin in Nr. 80 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat.

76      Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 in Verbindung mit deren Art. 4 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Pauschalreiseveranstalter im Kontext des Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage, wegen derer Pauschalreiseverträge nicht erfüllt werden können, vorübergehend von ihrer Verpflichtung befreit sind, den Reisenden innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, und zwar auch dann, wenn die Regelung dazu dient, zu verhindern, dass wegen der hohen Zahl der zu erwartenden Erstattungsforderungen die Liquidität der Reiseveranstalter derart beeinträchtigt wird, dass deren Existenz bedroht ist, und damit dazu, die Lebensfähigkeit der betreffenden Branche zu erhalten.

 Zur dritten Frage

77      Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die gegen Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 verstößt, danach befugt ist, die Wirkungen seiner Entscheidung, mit der die nationale Regelung für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht anzupassen.

78      Die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats sind verpflichtet, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Beachtung des Unionsrechts in ihrem Hoheitsgebiet zu sichern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2007, Jonkman u. a., C‑231/06 bis C‑233/06, EU:C:2007:373, Rn. 38).

79      Nach ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben, wobei diese Pflicht, im Rahmen der jeweiligen Befugnisse, jeder Stelle des betreffenden Mitgliedstaats obliegt, auch den nationalen Gerichten, die über Klagen gegen einen unionsrechtswidrigen nationalen Rechtsakt zu entscheiden haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen, C‑411/17, EU:C:2019:622, Rn. 170 und 171 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

80      Danach ist ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die es für unionsrechtswidrig hält, verpflichtet, die Regelung nach den Verfahrensmodalitäten, die für solche Klagen nach dem innerstaatlichen Recht gelten, unter Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes für nichtig zu erklären.

81      Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass die nationalen Gerichte unter außergewöhnlichen Umständen die Wirkung ihrer Entscheidungen über die Nichtigerklärung einer für unionsrechtswidrig erklärten nationalen Regelung anpassen können.

82      So hat der Gerichtshof entschieden, dass ein nationales Gericht im Hinblick auf zwingende Erwägungen, die mit dem Umweltschutz oder der Erforderlichkeit zusammenhängen, die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats zu bannen, im Einzelfall ausnahmsweise zur Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift berechtigt sein kann, die es ihm gestattet, bestimmte Wirkungen eines für nichtig erklärten nationalen Rechtsakts aufrechtzuerhalten, sofern die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen, C‑411/17, EU:C:2019:622, Rn. 178 und 179).

83      So schwer die finanziellen Auswirkungen der Covid‑19-Pandemie auf die Branche der Pauschalreisen, auf die das vorlegende Gericht in der dritten Frage Bezug nimmt, auch gewesen sein mögen, ist im vorliegenden Fall aber – wie auch die Generalanwältin in Nr. 101 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat – festzustellen, dass eine solche Gefährdung der wirtschaftlichen Interessen der in dieser Branche tätigen Wirtschaftsteilnehmer nicht mit den mit dem Umweltschutz oder der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats zusammenhängenden zwingenden Erwägungen vergleichbar ist, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne (C‑41/11, EU:C:2012:103, Rn. 57), ergangen ist.

84      Außerdem ist festzustellen, dass die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass der Schaden, der gegebenenfalls durch die Nichtigerklärung der Rechtsverordnung Nr. 2020-315 durch das vorlegende Gericht entstehen würde, von „begrenztem Umfang“ wäre. Somit ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass die Nichtigerklärung der nationalen Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, auf die Branche der Pauschalreisen so weitreichende schädliche Auswirkungen hätte, dass die Aufrechterhaltung der Wirkungen der Regelung erforderlich wäre, um die finanziellen Interessen der Wirtschaftsteilnehmer dieser Branche zu schützen.

85      Auf die dritte Frage ist deshalb zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die gegen Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 verstößt, danach nicht befugt ist, die Wirkungen seiner Entscheidung, mit der die nationale Regelung für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht anzupassen.

 Kosten

86      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG

ist dahin auszulegen, dass,

wenn der Reiseveranstalter nach dieser Bestimmung im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag verpflichtet ist, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, unter einer solchen Erstattung ausschließlich eine Erstattung der Zahlungen in Geld zu verstehen ist.

2.      Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 in Verbindung mit deren Art. 4

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Pauschalreiseveranstalter im Kontext des Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage, wegen derer Pauschalreiseverträge nicht erfüllt werden können, vorübergehend von ihrer Verpflichtung befreit sind, den Reisenden innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, und zwar auch dann, wenn die Regelung dazu dient, zu verhindern, dass wegen der hohen Zahl der zu erwartenden Erstattungsforderungen die Liquidität der Reiseveranstalter derart beeinträchtigt wird, dass deren Existenz bedroht ist, und damit dazu, die Lebensfähigkeit der betreffenden Branche zu erhalten.

3.      Das Unionsrecht, insbesondere der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit,

ist dahin auszulegen, dass

ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die gegen Art. 12 Abs. 2 bis 4 der Richtlinie 2015/2302 verstößt, danach nicht befugt ist, die Wirkungen seiner Entscheidung, mit der die nationale Regelung für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht anzupassen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.