Language of document : ECLI:EU:T:2010:268

Rechtssache T-62/08

ThyssenKrupp Acciai Speciali Terni SpA

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Entschädigung für eine Enteignung aus Gemeinwohlgründen – Verlängerung eines Vorzugstarifs für den Bezug von Strom – Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Begriff der Vergünstigung – Grundsatz des Vertrauensschutzes – Durchführung der Beihilfe“

Leitsätze des Urteils

1.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Entschädigung für eine Enteignung von Wirtschaftsgütern – Ausschluss

(Art. 87 Abs. 1 EG)

2.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Verwaltungsverfahren – Pflicht der Kommission, die Beteiligten zur Äußerung aufzufordern – Anspruch des Beihilfeempfängers, an dem Verfahren angemessen beteiligt zu werden – Grenzen

(Art. 88 Abs. 2 EG)

3.      Unionsrecht – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Geltung für Verwaltungsverfahren vor der Kommission – Prüfung von Beihilfevorhaben – Umfang

(Art. 88 Abs. 2 EG)

4.      Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Anmeldung bei der Kommission – Umfang der Verpflichtung – Erforderlichkeit, die Beihilfemaßnahmen im Entwurfsstadium anzumelden

(Art. 88 Abs. 3 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 2 und 3)

5.      Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission mit der die Rechtswidrigkeit einer Beihilfe festgestellt und deren Rückforderung angeordnet wird – Noch nicht ausgezahlte Beihilfe

(Art. 88 Abs. 3 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 14 Abs. 1)

6.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften des Art. 88 EG gewährte Beihilfe – Etwaiges berechtigtes Vertrauen der Empfänger – Schutz – Voraussetzungen und Grenzen

(Art. 88 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 14 Abs. 1)

7.      Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, keine Einwände gegen eine nationale Maßnahme zu erheben – Kein berechtigtes Vertrauen des Empfängers in die Rechtmäßigkeit einer Verlängerung dieser Maßnahme

(Art. 88 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 14 Abs. 1)

1.      Vergünstigungen im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG sind Maßnahmen, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, und die damit einer Subvention gleichkommen, wie insbesondere die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zu Vorzugsbedingungen. Demgegenüber haben Zahlungen, zu denen nationale Behörden gegebenenfalls zum Ersatz eines Schadens verurteilt werden, den sie Privatpersonen verursacht haben, einen grundlegend anderen rechtlichen Charakter und stellen keine Beihilfen im Sinne der Art. 87 EG und 88 EG dar.

Als staatliche Beihilfe einzustufen, ist dagegen eine Maßnahme, die in der Verlängerung einer Maßnahme besteht, mit der einem Unternehmen ein Strombezugvorzugstarif als Entschädigung für eine Enteignung im Zusammenhang mit der Verstaatlichung des Stromsektors eingeräumt wurde, wenn der Vorzugstarif als Entschädigung für einen ganz bestimmten Zeitraum ohne Verlängerungsmöglichkeit gewährt wurde. Außerdem kann eine Maßnahme, die nur eine der Tarifvorzugsbedingungen ist, deren Verlängerung bezweckt, „die Entwicklung und die Restrukturierung der Erzeugung der betroffenen Unternehmen zu ermöglichen“, nicht als die rechtmäßige Fortführung der Entschädigung des Unternehmens infolge der Verstaatlichung angesehen werden.

(vgl. Randnrn. 57, 60, 63, 72, 74, 99, 101)

2.      Das Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen ist nach seinem allgemeinen Aufbau ein Verfahren, das gegenüber dem im Licht seiner gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen für die Gewährung der Beihilfe verantwortlichen Mitgliedstaat eröffnet wird. Im Rahmen dieses Verfahrens haben andere Beteiligte als der für die Gewährung der Beihilfe verantwortliche Mitgliedstaat somit nicht selbst Anspruch auf eine streitige Erörterung mit der Kommission, wie sie zugunsten dieses Staates eingeleitet wird. Sie haben daher im Wesentlichen die Rolle einer Informationsquelle für die Kommission. Keine Vorschrift des Verfahrens zur Kontrolle staatlicher Beihilfen weist insoweit dem Beihilfeempfänger eine besondere Rolle unter den Beteiligten zu. Das Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen ist auch kein Verfahren „gegen“ den Beihilfeempfänger, das zur Folge hätte, dass dieser so umfassende Rechte wie die Verteidigungsrechte als solche geltend machen könnte. Adressaten der von der Kommission auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen erlassenen Entscheidungen sind nämlich einzig und allein die betroffenen Mitgliedstaaten.

Die allgemeinen Rechtsgrundsätze wie die des Rechts, gehört zu werden, und der ordnungsgemäßen Verwaltung können dem Gemeinschaftsrichter nicht erlauben, die Verfahrensrechte auszudehnen, die den Beteiligten im Rahmen der Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen durch den Vertrag und das abgeleitete Recht eingeräumt werden. Auch der Umstand, dass ein Kläger gegen die angefochtene Entscheidung klagebefugt wäre, erlaubt das nicht.

Die Kommission ist nämlich weder nach einer Vorschrift über staatliche Beihilfen noch nach der Rechtsprechung verpflichtet, den Empfänger staatlicher Mittel zu ihrer rechtlichen Beurteilung der fraglichen Maßnahme zu hören oder den betroffenen Mitgliedstaat – oder gar den Beihilfeempfänger – vor Erlass ihrer Entscheidung über ihren Standpunkt zu informieren, wenn den Beteiligten und dem Mitgliedstaat Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde.

(vgl. Randnrn. 161-163, 166-168)

3.      Auf dem Gebiet der Kontrolle staatlicher Beihilfen gebietet es der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, dass dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit gegeben wird, zu den Äußerungen beteiligter Dritter nach Art. 88 Abs. 2 EG, auf die die Kommission ihre Entscheidung stützen will, in zweckdienlicher Weise Stellung zu nehmen; die Kommission darf solche Äußerungen in ihrer Entscheidung gegen diesen Staat nicht berücksichtigen, soweit dieser keine Gelegenheit hatte, dazu Stellung zu nehmen. Eine solche Verletzung der Verteidigungsrechte führt jedoch nur dann zu einer Nichtigerklärung, wenn das Verfahren ohne diesen Rechtsfehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

(vgl. Randnr. 189)

4.      Der Einführung neuer Beihilfen durch die Mitgliedstaaten muss ein Prüfverfahren vorausgehen, ohne das eine Beihilfe nicht als ordnungsgemäß eingeführt angesehen werden kann. Nach Art. 88 Abs. 3 EG und den Art. 2 und 3 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] muss nämlich jede beabsichtigte Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen bei der Kommission angemeldet werden und darf nicht durchgeführt werden, bevor diese nicht, implizit oder ausdrücklich, ihre Zustimmung erteilt hat.

Die Mitgliedstaaten müssen somit zwei nicht voneinander trennbaren Verpflichtungen nachkommen, nämlich der Pflicht zur vorherigen Anmeldung der Beihilfevorhaben und der Pflicht, mit der Durchführung dieser Vorhaben bis zur Entscheidung der Kommission über die Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem Gemeinsamen Markt zu warten.

Eine Beihilfe kann als gewährt gelten, auch wenn sie dem Begünstigten noch nicht ausgezahlt wurde.

Außerdem ist die Kommission von Beihilfemaßnahmen zu unterrichten, wenn sich diese noch im Entwurfsstadium befinden, d. h. vor der Durchführung und solange sie noch nach Maßgabe etwaiger Einwände der Kommission geändert werden können. Es muss nämlich die Gelegenheit für die Kommission sichergestellt sein, ihre Kontrolle über jede beabsichtigte Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen rechtzeitig und im allgemeinen Interesse auszuüben und so eine vorbeugende Untersuchung durchzuführen. Es widerspräche der Logik des Systems der Vorabkontrolle der staatlichen Beihilfen, wenn die Kommission einen Verstoß gegen Art. 88 Abs. 3 EG erst feststellen könnte, nachdem sie überprüft hat, dass jeder Empfänger tatsächlich von den Vorteilen der fraglichen Maßnahme profitiert.

(vgl. Randnrn. 228-230, 234-236)

5.      Der Wortlaut von Art. 14 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG], nach dem die Kommission in Negativentscheidungen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen entscheidet, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreifen muss, um die Beihilfe zurückzufordern, bringt den systematischen Charakter der Rückforderung zum Ausdruck.

Wird die Kommission im Verwaltungsverfahren darüber unterrichtet, dass die streitigen Beihilfen den Empfängern noch nicht ausgezahlt wurden, ist nicht gewährleistet, dass diese Zahlungen nicht später erfolgt sind, insbesondere zwischen dem Zeitpunkt, zu dem diese Information erteilt wurde, und dem Zeitpunkt der Bekanntmachung der endgültigen Entscheidung. Der Kommission kann jedenfalls nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie in der Absicht, mehr Rechtssicherheit zu gewährleisten, die konkreten Folgen ihrer Entscheidung klar dargelegt hat.

Der Umstand, dass eine Beihilfe ihrem Empfänger noch nicht ausgezahlt wurde, kann nämlich nicht die Gültigkeit der Entscheidung der Kommission, sondern nur die Modalitäten der Beihilferückforderung berühren. Die Rückforderung der Beihilfe findet grundsätzlich nach Maßgabe des einschlägigen nationalen Rechts mit dem Vorbehalt statt, dass dessen Anwendung die gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebene Rückforderung nicht praktisch unmöglich machen darf, und über Streitigkeiten, die die Durchführung der Rückforderung betreffen, entscheidet ausschließlich das nationale Gericht.

Die Pflicht eines Mitgliedstaats, den genauen Betrag der zurückzufordernden Beihilfen zu berechnen, gehört insbesondere dann, wenn diese Berechnung von Auskünften abhängt, die der Mitgliedstaat der Kommission nicht übermittelt hat, zu der allgemeineren Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, die die Kommission und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Vertragsbestimmungen über staatliche Beihilfen gegenseitig bindet. Der Kommission kann nicht vorgeworfen werden, dass sie rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte, die ihr gegenüber im Verwaltungsverfahren hätten vorgetragen werden können, aber nicht vorgetragen wurden, nicht berücksichtigt hat, da sie nicht verpflichtet ist, von Amts wegen und mutmaßend zu prüfen, welche Gesichtspunkte ihr gegenüber hätten vorgetragen werden können.

(vgl. Randnrn. 239, 241, 250-251)

6.      Da die Überwachung staatlicher Beihilfen durch die Kommission in Art. 88 EG zwingend vorgeschrieben ist, dürfen Unternehmen auf die Ordnungsmäßigkeit einer ihnen gewährten Beihilfe grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter Beachtung des dort vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde. Einem sorgfältigen Wirtschaftsteilnehmer muss es nämlich regelmäßig möglich sein, sich zu vergewissern, ob dieses Verfahren beachtet wurde. Insbesondere kann der Empfänger einer Beihilfe, die ohne vorherige Anmeldung bei der Kommission durchgeführt wurde, so dass sie gemäß Art. 88 Abs. 3 EG rechtswidrig ist, kein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit ihrer Gewährung haben.

Die Empfänger einer rechtswidrigen Beihilfe können jedoch gegen deren Rückforderung Ausnahmeumstände anführen, die bei ihnen ein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit dieser Beihilfe entstehen lassen konnten.

Im Übrigen hat der Erlass der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] eine neue Situation hinsichtlich der Rückforderung unvereinbarer Beihilfen geschaffen, aus der sämtliche rechtliche Konsequenzen zu ziehen sind. Art. 14 Abs. 1 dieser Verordnung bestätigt den systematischen Charakter der Rückforderung (Satz 1), sieht aber eine Ausnahme vor (Satz 2), wenn die Rückforderung gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstößt. Somit gibt es eine Bestimmung des abgeleiteten Rechts, die die Kommission beim Erlass ihrer Entscheidungen berücksichtigen muss und die sie dazu veranlassen kann, gegebenfalls darauf zu verzichten, die Rückforderung unvereinbarer Beihilfen zu verlangen. Der Verstoß gegen eine solche Bestimmung kann unbestreitbar für einen Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung in dem Teil, mit dem die Rückforderung verlangt wird, geltend gemacht werden.

(vgl. Randnrn. 269-271, 275-276)

7.      Der bloße Umstand, dass der Empfänger möglicherweise Zweifel an der Bewertung einer Maßnahme als staatliche Beihilfe hat, reicht ganz offenkundig nicht aus, um bei ihm ein wie auch immer geartetes berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe oder darauf, dass die streitige Maßnahme keine staatliche Beihilfe darstellt, zu erwecken.

So kann die Entscheidung der Kommission, gegen eine Maßnahme in Form der Gewährung eines Strombezugvorzugstarifs keine Einwände zu erheben, kein berechtigtes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der späteren Verlängerung dieser Maßnahme oder darauf, dass dieser Vorzugstarif keine Beihilfe ist, begründen.

(vgl. Randnrn. 283-284, 288)