Language of document : ECLI:EU:F:2008:13

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 1. Dezember 2022(1)

Rechtssache C699/21

E. D. L.,

Beteiligter:

Presidente del Consiglio dei Ministri

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale [Verfassungsgerichtshof, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt wurden, an die ausstellenden Justizbehörden – Schwere, chronische und potenziell irreversible Krankheit – Schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit der gesuchten Person“






1.        Angesichts der eventuellen Verfassungswidrigkeit einiger Bestimmungen einer Vorschrift, mit der der Rahmenbeschluss 2002/584/JI(2) ins italienische Recht umgesetzt wurde und die gegen das in der italienischen Verfassung garantierte Recht auf Gesundheit verstoßen könnten, ersucht die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) den Gerichtshof um Auslegung dieses Rahmenbeschlusses.

2.        Das Vorabentscheidungsersuchen gibt dem Gerichtshof erneut die Möglichkeit, sich zu den Gründen für eine Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (im Folgenden: EHB) zu äußern. Insbesondere ist zu klären, ob das Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru(3), entsprechend für die Vollstreckung eines EHB heranzuziehen ist, bei der es zu einer schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit der gesuchten Person kommen kann.

3.        Der Gerichtshof hat letztlich darüber zu entscheiden, ob die Liste der in den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB um einen weiteren Ablehnungsgrund, der sich aus den Art. 3, 4 und 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ergibt, zu ergänzen ist und, falls ja, unter welchen Bedingungen.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Charta

4.        Art. 3 („Recht auf Unversehrtheit“) Abs. 1 legt fest:

„Jede Person hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit.“

5.        Art. 4 („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) bestimmt:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

6.        Art. 35 („Gesundheitsschutz“) lautet:

„Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.“

2.      Rahmenbeschluss 2002/584

7.        Der zehnte Erwägungsgrund erläutert:

„Grundlage für den Mechanismus des [EHB] ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union [EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“

8.        Im zwölften Erwägungsgrund heißt es:

„Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen …“

9.        Der 13. Erwägungsgrund lautet:

„Niemand sollte in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

10.      Art. 1 („Definition des [EHB] und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) bestimmt:

„(1)      Bei dem [EHB] handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden [EHB] nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

11.      Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) legt fest:

„(1)      Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)      Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)      Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

12.      Art. 23 („Frist für die Übergabe der Person“) sieht vor:

„(1)      Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt.

(2)      Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des [EHB].

(3)      Ist die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Absatz 2 genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich, setzen sich die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich miteinander in Verbindung und vereinbaren ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

(4)      Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des [EHB] erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

(5)      Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf der in den Absätzen 2 bis 4 genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie freigelassen.“

B.      Nationales Recht

13.      Art. 23 Abs. 3 der Legge 22 aprile 2005, n. 69(4) bestimmt:

„Liegen humanitäre Gründe oder schwerwiegende Gründe für die Annahme vor, dass die Übergabe das Leben oder die Gesundheit der Person gefährden würde, kann der Präsident der Corte di appello [Berufungsgericht] oder der von ihm beauftragte Richter die Vollstreckung des Übergabebeschlusses durch einen mit Gründen versehenen Beschluss aussetzen, wovon der Ministro della giustizia [Justizminister] unverzüglich zu unterrichten ist.“

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

14.      Am 9. September 2019 erließ der Općinski sud u Zadru (Gemeindegericht von Zadar, Kroatien) einen EHB zwecks Strafverfolgung gegen E. D. L., dem der Besitz von Betäubungsmitteln zum Zwecke des Handels und der Weitergabe von solchen Mitteln auf kroatischem Gebiet im Jahr 2014 vorgeworfen wurde.

15.      Vor der Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand, Italien) legten die Anwälte von E. D. L. medizinische Unterlagen vor, die seelische Erkrankungen belegten, die auch mit früherem Drogenmissbrauch zusammenhingen. Aus einem Sachverständigengutachten ging hervor, dass E. D. L. unter einer psychotischen Störung leide, die eine weitere Behandlung erfordere, und dass im Zusammenhang mit einer möglichen Inhaftierung ein hohes Selbstmordrisiko bestehe.

16.      Auf der Grundlage dieses Gutachtens kam die Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand) zu dem Schluss, dass die Überstellung von E. D. L. nach Kroatien im Rahmen der Vollstreckung des EHB die Behandlungsmöglichkeiten unterbräche, was zu einer Verschlechterung seines allgemeinen Gesundheitszustands und zu einer konkreten Gefährdung seiner Gesundheit führen würde.

17.      Das Gericht stellte jedoch fest, dass gegen die Verpflichtung zur Vollstreckung eines EHB nur die in den Art. 18 und 18-a des Gesetzes Nr. 69 aus 2005 abschließend aufgeführten Ablehnungsgründe angeführt werden könnten, wobei es keinen Ablehnungsgrund gebe, der darauf abziele, Verletzungen der Grundrechte der gesuchten Person, wie etwa des Rechts auf Gesundheit, zu verhindern. Die Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand) setzte daher das Verfahren aus und legte der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) eine Frage zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vor.

18.      Vor diesem Hintergrund hat die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht der Art. 3, 4 und 35 der Charta dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie der Auffassung ist, dass die Übergabe einer Person, die an einer schweren, chronischen und möglicherweise irreversiblen Krankheit leidet, die Gefahr eines schweren Gesundheitsschadens mit sich bringen könnte, die ausstellende Justizbehörde um Informationen ersuchen muss, die es ermöglichen, das Bestehen dieser Gefahr auszuschließen, und die Übergabe ablehnen muss, wenn sie derartige Zusicherungen nicht innerhalb einer angemessenen Frist erhält?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

19.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 22. November 2021 beim Gerichtshof eingegangen. Es wurde entschieden, die Rechtssache vorrangig zu behandeln.

20.      E. D. L., die kroatische, die finnische, die italienische, die niederländische, die polnische und die rumänische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

21.      An der mündlichen Verhandlung vom 27. September 2022 haben E. D. L., die italienische, die polnische und die rumänische Regierung sowie die Kommission teilgenommen.

IV.    Würdigung

A.      Vorüberlegungen

22.      Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) stellt die Situation, über die sie als höchste Instanz für die Auslegung der italienischen Verfassung und als an die Auslegung des Unionsrechts gebundenes Gericht eines Mitgliedstaats zu entscheiden hat, wie folgt dar:

–        Sie habe zu klären, ob bestimmte Vorschriften des italienischen Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584 mit dem in der italienischen Verfassung garantierten Recht auf Gesundheit vereinbar seien(5).

–        Das vorlegende Gericht müsse daher im Voraus wissen, wie die in die nationale Vorschrift übernommenen Artikel des Rahmenbeschlusses auszulegen seien.

–        In vollständig harmonisierten Bereichen sei es den Mitgliedstaaten verwehrt, die Anwendung des Unionsrechts von der Einhaltung rein nationaler Schutzstandards für die Grundrechte abhängig zu machen, wenn dies den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen könne(6).

–        Es sei Aufgabe des Unionsrechts, die Schutzstandards für die Grundrechte festzulegen, die für den Rahmenbeschluss 2002/584 und seine Anwendung durch die nationalen Behörden zu beachten seien.

–        Damit die Anwendung in der gesamten Union einheitlich und wirksam erfolge, sei es den Justizbehörden des Vollstreckungsstaats verwehrt, die Übergabe der gesuchten Person außerhalb der durch den Rahmenbeschluss 2002/584 vorgeschriebenen Fälle auf der Grundlage rein nationaler Schutzstandards für die Grundrechte, die auf europäischer Ebene nicht geteilt würden, abzulehnen(7). Dies gelte selbst dann, wenn die Vollstreckung des EHB den obersten Grundsätzen der Verfassungsordnung zuwiderliefe(8).

23.      Mit dem Ziel, Diskrepanzen zwischen der nationalen Verfassung und dem Unionsrecht zu vermeiden, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um eine Auslegung des Unionsrechts, mit der es die Erfordernisse aus der italienischen Verfassung erfüllen und somit seine eigene Zuständigkeit wahrnehmen kann.

24.      In diesem Geiste der Zusammenarbeit schlägt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vor, für die Beantwortung ihrer Frage die Ausführungen des Gerichtshofs zum Rahmenbeschluss 2002/584 entsprechend auf den Fall auszuweiten, in dem zwar kein spezifischer Ablehnungsgrund vorliege, die Vollstreckung des EHB jedoch zu einer Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person führen könne.

25.      Das vorlegende Gericht verweist insbesondere auf das Urteil Aranyosi und Căldăraru in Bezug auf die Gefahr, dass die gesuchte Person bei der Vollstreckung eines EHB i) unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen im Ausstellungsstaat ausgesetzt werde, die auf systemische und allgemeine Mängel zurückzuführen seien oder bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten beträfen(9), oder ii) einem Verfahren unterworfen werde, bei dem die in Art. 47 der Charta vorgesehenen Garantien infolge von systemischen oder allgemeinen Mängeln hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsstaat nicht beachtet würden(10).

B.      Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB, die über die im Rahmenbeschluss 2002/584 ausdrücklich genannten Gründe hinausgehen

26.      Der Rahmenbeschluss 2002/584 zielt darauf ab, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen. Er trägt damit zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels bei, sich, beruhend auf einem hohen Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln(11).

27.      Der Eckstein dieses Systems ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zum Ausdruck kommt. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, jeden EHB auf der Grundlage dieses Grundsatzes und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses zu vollstrecken(12). Ihre Justizbehörden können die Vollstreckung eines EHB grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Gründen verweigern(13).

28.      Folglich stellt die Vollstreckung des EHB den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist(14).

29.      Gleichwohl hat der Gerichtshof anerkannt, dass unter „außergewöhnlichen Umständen“(15) Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens möglich sind. Nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 berührt der Rahmenbeschluss „nicht die Pflicht, die Grundrechte, wie sie insbesondere in der Charta niedergelegt sind, zu achten“(16).

1.      Ablehnung auf der Grundlage von Art. 4 der Charta

30.      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof „festgestellt, dass die vollstreckende Justizbehörde unter bestimmten Umständen das mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 eingerichtete Übergabeverfahren beenden muss, wenn die Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der gesuchten Person im Sinne von Art. 4 der Charta führt“(17).

31.      Grund hierfür ist der absolute Charakter des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, das untrennbar mit der Achtung der Würde des Menschen (Art. 1 der Charta) verbunden ist(18) und folglich gegenüber Zielen wie denen, die der justiziellen Zusammenarbeit zugrunde liegen, vorrangig zu beachten ist(19).

32.      Die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 der Charta kann in Ausnahmefällen die Aussetzung oder Ablehnung der Übergabe einer mit einem EHB gesuchten Person rechtfertigen. Zuvor hat das vollstreckende Gericht zu prüfen, ob diese Gefahr im vorliegenden Fall tatsächlich besteht.

a)      Ablehnung aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in einem Mitgliedstaat

33.      Verstöße gegen Art. 4 der Charta (sowie gegen Art. 47(20)) wurden bisher im Zusammenhang mit systemischen oder allgemeinen Mängeln im Ausstellungsmitgliedstaat geltend gemacht.

34.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass das Vorliegen einer allgemeinen und abstrakten Gefahr weder für eine Ablehnung der Vollstreckung eines EHB noch für die grundsätzliche Ablehnung der Vollstreckung aller EHB eines Mitgliedstaats, dem systemische oder allgemeine Mängel angelastet werden(21), ausreicht.

35.      Da nur eine Gefahr maßgeblich sein kann, die konkret und speziell die gesuchte Person betrifft, hat das vollstreckende Gericht gemäß der Rechtsprechung Aranyosi und Căldăraru eine zweistufige Prüfung vorzunehmen:

–        Zunächst hat das Gericht zu prüfen, ob im Ausstellungsmitgliedstaat allgemeine und systemische Mängel vorliegen, die den Schutz der Grundrechte der betreffenden Person beeinträchtigen können.

–        Im Anschluss muss das Gericht feststellen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat konkret einer echten Gefahr einer Grundrechtsverletzung ausgesetzt sein wird.

36.      Die Feststellung systemischer oder allgemeiner Mängel ist umso notwendiger, als bei einer Beschwerde über eine mögliche Rechtsverletzung im Ausstellungsmitgliedstaat grundsätzlich die Vermutung gilt, auf die sich das gesamte System der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen stützt, nämlich dass alle Mitgliedstaaten die Grundrechte achten.

37.      Aufgrund dieser Vermutung haben die Mitgliedstaaten weder die Möglichkeit, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen, noch können sie – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen, ob der andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat(22).

38.      Da es sich also um Verstöße handelt, deren Plausibilität durch die Vermutung widerlegt wird, dass alle Mitgliedstaaten die in der Charta verankerten Grundrechte achten, ist zunächst nachzuweisen, dass in dem Staat, der den EHB ausgestellt hat, systemische oder allgemeine Mängel festgestellt wurden, die Zweifel an dieser Vermutung aufkommen lassen.

39.      Meiner Ansicht nach hat die als „zweistufig“ bezeichnete Prüfung einen sehr präzisen Hintergrund und ist in dem Kontext, für den sie entwickelt wurde, von großem Nutzen. Die Prüfung ist sinnvoll, wenn sich die Gefahr für die Rechte der gesuchten Person aus allgemeinen Umständen ergibt, die in einem Mitgliedstaat im Idealfall unmöglich sind: schlechte Haftbedingungen oder eine mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte.

40.      Gegenüber der Beschwerde, solche Umstände lägen im Ausstellungsmitgliedstaat tatsächlich vor, dürfen die vollstreckenden Gerichte weder gleichgültig bleiben noch ohne eine minimale Grundlage, d. h. einen minimalen Wahrheitsgehalt, von ihrer Glaubhaftigkeit ausgehen. Aufgrund der Art der geltend gemachten Umstände ist als Kontext, in dessen Rahmen sich die Umstände speziell auf den konkreten Fall des EHB auswirken, eine allgemeine durch Mängel gekennzeichnete Lage nachzuweisen.

41.      Im vorliegenden Fall hingegen gilt hinsichtlich der Gefahr für die Gesundheit der gesuchten Person Folgendes:

–        Die Gefahr resultiert nicht aus einer Situation, die nur im Rahmen von allgemeinen Mängeln, die in einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht vorstellbar sein sollten, plausibel ist.

–        Sie resultiert vielmehr aus der Möglichkeit, dass eine konkrete Krankheit in dem Mitgliedstaat, in dem der EHB ausgestellt wurde, nicht (ebenfalls konkret) angemessen behandelt wird.

42.      Um Ausmaß und Umfang der Gefahr zu beurteilen, muss nach meiner Meinung nicht das gesamte Gesundheits- oder Strafvollzugssystem des Ausstellungsmitgliedstaats bewertet werden. Wichtig ist die Prüfung, ob die gesuchte Person die von ihr womöglich benötigte medizinische Versorgung erhält. Für die Überprüfung ist ferner nicht eine Vorab-Bewertung des Gesundheits- bzw. Strafvollzugssystems in seiner Gesamtheit unerlässlich, sondern nur eine Bewertung der Behandlungsmöglichkeiten, die für die gesuchte Person vernünftigerweise zu erwarten sind.

43.      Es geht, wie ich wiederholen möchte, nicht darum, das Gesundheitssystem eines Mitgliedstaats einer Beurteilung zu unterziehen, sondern darum, die Chancen einer bestimmten Person auf eine angemessene Behandlung zu beurteilen, unabhängig davon, ob die Behandlung im Rahmen eines als solchem mehr oder weniger effizienten Systems erfolgen kann oder nicht.

44.      Etwaige systemische oder allgemeine Mängel können sicherlich von Bedeutung sein: Liegen solche Mängel vor, so ist es wahrscheinlich, dass sie auch die gesuchte Person betreffen; hierum geht es auf der zweiten Stufe der in der Rechtsprechung Aranyosi und Căldăraru dargelegten Methode.

45.      Wurden jedoch keinerlei derartige Mängel geltend gemacht, ist das Vorliegen einer spezifischen Gefahr für die gesuchte Person zu prüfen (unter Berücksichtigung ihrer Situation, der Probleme bei ihrer Überstellung in den Ausstellungsmitgliedstaat und der gesundheitlichen Bedingungen, die sie nach der Übergabe vorfinden wird).

46.      Diese Prüfung betrifft somit die zweite Stufe des „zweistufigen Verfahrens“ und nicht die vorhergehende und eigenständige erste Stufe, deren Analyse meiner Ansicht nach hier vollkommen unnötig ist.

47.      Abstrakt betrachtet ist es natürlich möglich, dass die systemischen oder allgemeinen Mängel der Haftbedingungen, denen die gesuchte Person eventuell ausgesetzt sein wird, einem Verstoß gegen Art. 4 der Charta Vorschub leisten(23). Es ist jedoch nicht erforderlich, diese Bedingungen zu prüfen, wenn, wie die Kommission betont(24), die Gefahr für die Gesundheit der gesuchten Person nicht unmittelbar durch die Bedingungen hervorgerufen wird.

48.      Insoweit möchte ich Folgendes hinzufügen:

–        Die Gefahr für die Gesundheit könnte, so wie das psychiatrische Gutachten, auf das sich E. D. L. bei seinem Vorbringen stützt, in der Vorlageentscheidung beschrieben wird, unabhängig davon bestehen, in welchem Staat die Person inhaftiert wird: Es handelt sich um ein „hohes Selbstmordrisiko im Zusammenhang mit einer möglichen Inhaftierung“(25).

–        Die italienischen Gerichte (insbesondere das vorlegende Gericht) haben zu keinem Zeitpunkt angedeutet, dass in Kroatien hinsichtlich des Rechts auf Gesundheitsschutz systemische oder allgemeine Mängel vorlägen(26). Außerdem konzentriert sich die Vorlagefrage auf die Möglichkeit, mit Hilfe eines Auskunftsersuchens „auszuschließen“, dass die gesuchte Person in jenem Staat einer Gefahr ausgesetzt wird, wobei der Frage selbst eine günstige Hypothese (d. h., dass die Gefahr ausgeschlossen wird) zugrunde liegt.

49.      Folglich ist im vorliegenden Fall eine Prüfung der ersten der beiden im Urteil Aranyosi und Căldăraru entwickelten Stufen sowohl unnötig als auch unzweckmäßig.

b)      Ablehnung aufgrund außergewöhnlicher, nicht mit systemischen oder allgemeinen Mängeln zusammenhängender Umstände: Art. 4 der Charta

50.      Art. 4 der Charta könnte theoretisch herangezogen werden, wenn die gesuchte Person unter einer besonders schweren Krankheit leidet und die Vollstreckung des EHB aus diesem Grund unmittelbar zu einer schwerwiegenden, wesentlichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands(27) führt, die möglicherweise ihr Leben gefährdet.

51.      In einer solchen wirklich außergewöhnlichen Situation kann eine Übergabe, je nach den besonderen Umständen der kranken Person(28), als unmenschliche Behandlung eingestuft werden, unabhängig davon, ob im Ausstellungsmitgliedstaat systemische oder allgemeine Mängel vorliegen(29).

52.      Der Ausnahmecharakter würde also nicht durch die allgemeinen Haftbedingungen bzw. die Bedingungen der Gesundheitsversorgung im Ausstellungsmitgliedstaat an sich hervorgerufen, sondern durch die Übergabe selbst, soweit diese als solche das Leben oder die Gesundheit der gesuchten Person unmittelbar gefährden kann.

53.      Wie ich noch einmal betonen möchte, hängen die Probleme, zu denen die hier festgestellte Gesundheitsgefahr führt (d. h. die Möglichkeit eines Selbstmords infolge des Freiheitsentzugs), nicht davon ab, in welchem Mitgliedstaat die Festnahme und eventuell anschließende Inhaftierung im Rahmen eines EHB erfolgt. Ebenso wenig kann meiner Meinung nach die Übergabe angesichts der Umstände des vorliegenden Falles als unmenschliche Behandlung angesehen werden, da es bisher keinen Grund zu der Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Staat, der den EHB ausgestellt hat, nicht die erforderliche medizinische Versorgung erhalten wird.

54.      Es ist mit äußerster Vorsicht vorzugehen, um zu einer anderen Lösung des Problems der psychiatrischen Gefahren im Zusammenhang mit der Inhaftierung (die in allen Mitgliedstaaten bestehen) zu gelangen, als ohne Weiteres auf Art. 4 der Charta zu rekurrieren(30).

55.      Andernfalls könnte die Antwort des Gerichtshofs so verstanden werden, dass eine Festnahme bzw. Inhaftierung von selbstmordgefährdeten Personen in einer Haftanstalt an sich eine unmenschliche Behandlung darstelle, d. h., aufgrund ihres absoluten Charakters grundsätzlich gegen das Verbot des Art. 4 der Charta verstieße. In Anbetracht des gegenwärtigen Standes des Unionsrechts ist dieser Ansatz meines Erachtens nicht haltbar.

2.      Ablehnung auf der Grundlage der Art. 3 und 35 der Charta

56.      Das vorlegende Gericht verweist neben Art. 4 der Charta auch auf das Recht auf Unversehrtheit (Art. 3 der Charta) und das Recht auf Gesundheitsschutz (Art. 35 der Charta). Einige Verfahrensbeteiligte, wie E. D. L. und die finnische, die polnische, die rumänische oder die italienische Regierung, beziehen sich in ihren Erklärungen auf diese drei Grundrechte. Die niederländische Regierung hingegen thematisiert ausschließlich Art. 4 der Charta.

57.      Ich vertrete den Standpunkt, dass Art. 35 der Charta im vorliegenden Fall nicht einschlägig ist, weil es nicht um den Zugang zur Gesundheitsvorsorge und ‑versorgung unter den in den nationalen Rechtsvorschriften und Praktiken festgelegten Bedingungen geht, die ein hohes Maß an Gesundheitsschutz gewährleisten.

58.      Möglicherweise könnte ein Verstoß gegen das Recht auf geistige Unversehrtheit aus Art. 3 der Charta vorliegen, aber auch hier nicht wegen etwaiger Mängel des Gesundheitssystems oder der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat, die von niemandem geltend gemacht wurden, sondern wegen des angeblichen Fehlens einer angemessenen Behandlung für die psychiatrische Störung, unter der die gesuchte Person nach einem dem italienischen Berufungsgericht vorgelegten Sachverständigengutachten leidet.

59.      Die vorstehenden Erwägungen, die ich in diesem Zusammenhang zu Art. 4 angeführt habe, lassen sich auch auf Art. 3 der Charta ausweiten.

C.      Neuer Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB aufgrund von gesundheitlichen Problemen der gesuchten Person?

60.      Die der Einfachheit halber als „Aranyosi und Căldăraru“ bezeichnete Rechtsprechung ist ein Beispiel für eine Rechtsschöpfung durch den Gerichtshof, die durch die Notwendigkeit gerechtfertigt ist, in Fällen, die vom Gesetzgeber im Rahmen der EHB nicht ausdrücklich vorgesehen sind, ein Verfahren zum Schutz der Grundrechte des Einzelnen zu schaffen.

61.      Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 stellt kategorisch fest, dass der Rahmenbeschluss „nicht die Pflicht [berührt], die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten“. Der Artikel führt somit eine Abschlussklausel für das System ein, die die spezifischen, im Rahmenbeschluss berücksichtigten Garantien bestimmter Grundrechte überlagert(31).

62.      Aufgrund der Vermutung, dass alle Mitgliedstaaten die Grundrechte achten, konnte der europäische Gesetzgeber schwerlich die Möglichkeit systemischer oder allgemeiner Mängel, die zu einer Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person führen können, vorhersehen.

63.      Daher war es im Einklang mit Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 unvermeidlich, Gründe einzuführen, aus denen die Vollstreckung bei Verstößen, die sich aus systemischen oder allgemeinen Mängeln ergeben, ausnahmsweise abgelehnt werden kann.

64.      Ein „neuer“ Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB aus gesundheitlichen Gründen könnte indessen, wie in der mündlichen Verhandlung betont wurde, in das System des EHB unterschwellig eine Bresche schlagen, was zu einer Vielzahl von Einwänden der Betroffenen führen und somit das System der Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat beeinträchtigen würde.

65.      Eine richterliche Rechtsschöpfung, mit der der Katalog der Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung um die Gefahr für die Gesundheit erweitert wird, ist nach meiner Ansicht nicht erforderlich: Eine Ablehnung der Vollstreckung eines EHB ist nicht zulässig, wenn eine Aussetzung der Übergabe der gesuchten Person ausreicht. Denn bei der Aussetzung handelt es sich gerade um den Mechanismus, der im Rahmenbeschluss 2002/584 für einen Fall wie den vorliegenden vorgesehen ist.

D.      Aussetzung der Übergabe gemäß Art. 23 des Rahmenbeschlusses 2002/584

66.      Nach Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann die Übergabe der gesuchten Person „aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt“, ausnahmsweise ausgesetzt werden.

67.      Wie das vorlegende Gericht feststellt und praktisch alle Verfahrensbeteiligten hervorheben, führt die hier wiedergegebene Formel zu Schwierigkeiten. Meiner Auffassung nach handelt es sich jedoch nicht um so große Schwierigkeiten, als dass sie nicht im Wege einer genauen und nicht kreativen Auslegung der Bestimmung überwunden werden könnten.

68.      Nach Ansicht der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) ist Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584, da er nur „ausnahmsweise“ die Aussetzung der Übergabe in lediglich zeitlich begrenzten Situationen vorsehe, nicht als passend anzusehen, wenn es sich um schwere Erkrankungen handelt, die chronisch oder von unbestimmter Dauer sind(32).

69.      Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die Aussetzung auf unbestimmte Zeit verlängert werden könnte und dies dem Übergabeverfahren jede praktische Wirksamkeit nähme: Die sukzessive Verlängerung der Aussetzung wegen chronischer Gesundheitsprobleme beließe die gesuchte Person in einer Situation ständiger Ungewissheit über ihr Schicksal, was dem Erfordernis einer angemessenen Frist für jedes Verfahren, das ihre persönliche Freiheit beeinträchtigen könne, zuwiderlaufe(33).

70.      Insoweit betonen auch die kroatische und die niederländische Regierung sowie die Kommission, dass die in Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Aussetzung erst nach Anordnung der Vollstreckung des EHB beschlossen werden könne, nicht jedoch während der Entscheidung über die Vollstreckung selbst.

71.      Ich gebe zu, dass es sich um schwerwiegende Argumente handelt. Allerdings vertrete ich den Standpunkt, dass die Möglichkeiten bei der Auslegung der Bestimmung über das hinausgehen, was das vorlegende Gericht sowie die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vorgeschlagen haben.

72.      Als Prämisse gehe ich davon aus, dass der Umstand, dass in der nationalen Rechtsvorschrift (bzw. in den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584) kein entsprechender ausdrücklicher Grund für eine Ablehnung der Vollstreckung eines EHB genannt wird, nichts am zwingenden Gebot aus Art. 1 Abs. 3 ändert. Um dieses Gebot zu erfüllen, hat die auslegende (gerichtliche) Instanz unter Heranziehung der vom Gesetzgeber vorgegebenen normativen Elemente nach Möglichkeit eine materiell gleichwertige Lösung zu finden.

73.      Meines Erachtens bietet Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die erforderlichen Elemente für eine solche materiell gleichwertige Lösung. Sein Inhalt lässt eine Auslegung zu, die, selbst wenn sie weitreichend und ambitioniert ausfällt, immer noch mehr mit der gesetzgeberischen Lösung vereinbar ist als die Schaffung eines neuen Grundes für die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB durch richterliche Rechtsschöpfung. Es ist besser, die Bedeutung und den Umfang der positiven Bestimmung anzupassen, als im Wege der Rechtsprechung eine neue, von dieser Bestimmung unabhängige Regel zu schaffen.

74.      In Fällen wie dem vorliegenden kann Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wie ich betonen möchte, wenn er im Kontext des Rahmenbeschlusses ausgelegt wird, den Anstoß zu der von Art. 1 Abs. 3 geforderten Lösung bieten.

E.      Bedingte und überprüfbare Aussetzung der Vollstreckung eines EHB aus schwerwiegenden humanitären Gründen

75.      Dafür, dass Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Voraussetzung von Art. 1 Abs. 3 genügt, spricht, dass er ausdrücklich darauf abstellt, dass die „Übergabe … eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt“.

76.      Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584. Die in jenen Artikeln vorgesehenen Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann oder muss, beziehen sich auf objektive Elemente, d. h. auf die Straftat, aufgrund deren der EHB ausgestellt wurde, oder auf Vorkommnisse im Verlauf des Strafverfahrens, das aufgrund dieser Straftaten eingeleitet wurde bzw. eingeleitet werden kann(34).

77.      Würde die Liste aus Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um einen zusätzlichen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung bei Gefahr eines Verstoßes gegen die Art. 3 oder 4 der Charta (der aufgrund des Grundrechtscharakters notwendigerweise zwingend sein müsste) erweitert, so führte dies bei einer Systematik für die Ablehnung der Vollstreckung, die auf der rechtlichen Ausgestaltung der Strafrechtssysteme aller Mitgliedstaaten beruht, zu offensichtlichen Schwierigkeiten.

78.      Wenn es keine andere Möglichkeit gäbe, müsste wahrscheinlich trotz dieser Schwierigkeiten ein neuer Grund für die Ablehnung der Vollstreckung im Wege der richterlichen Rechtsschöpfung eingeführt werden, wie es in der Rechtssache Aranyosi und Căldăraru geschehen ist und wie ich es vorstehend dargestellt habe. Im vorliegenden Fall hingegen steht die Möglichkeit des Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zur Verfügung. Diese ist insbesondere deshalb effektiv, weil

–        Sinn und Zweck einer Vorschrift, die darauf abzielt, das Leben und die Unversehrtheit der gesuchten Person zu schützen, nicht Abbruch getan wird;

–        sie unabhängig von der Straftat zum Tragen kommt, derentwegen die Person gesucht wird, bzw. von der zu vollstreckenden Strafe, d. h. unabhängig von allen Umständen, die mit den Strafrechtssystemen der Mitgliedstaaten zusammenhängen und auf denen die Art. 3, 4 und  4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 beruhen.

79.      Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erweist sich meines Erachtens als geeignet, um die vom vorlegenden Gericht dargelegten Zweifel auszuräumen.

80.      Zunächst legt die Bestimmung ein Kriterium für die „Mindestanforderungen“ an die Schwere der Gefahr („Gefährdung für Leib oder Leben“) in Verbindung mit den Art. 3 und 4 der Charta fest(35).

81.      Sodann sieht die Bestimmung einen Kommunikationsweg zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde vor, nach dessen Verlauf das vorlegende Gericht fragt.

82.      Die Kommunikation zwischen den beiden Justizbehörden bezieht sich nach dieser Bestimmung zwar nicht auf das Vorliegen von Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung, sondern auf das Datum der Übergabe der gesuchten Person, jedoch spricht meines Erachtens nichts dagegen, dass der Informationsaustausch bereits zu dem Zeitpunkt stattfindet, zu dem die Vollstreckungsbehörde über die Aussetzung der Übergabe zu entscheiden hat.

83.      Durch den Austausch kann die vollstreckende Justizbehörde von der ausstellenden Justizbehörde Informationen darüber erhalten, ob in den Haftanstalten die medizinische Behandlung zur Verfügung steht, der die gesuchte Person aufgrund ihres Zustands bedarf.

84.      Als Ergebnis dieses Dialogs und in Anbetracht des Gesundheitszustands der gesuchten Person, der der ausstellenden Justizbehörde noch nicht bekannt war, kann es dazu kommen, dass die ausstellende Justizbehörde, sofern sie dies für zweckmäßig erachtet, von Amts wegen oder auf Ersuchen der vollstreckenden Behörde die Angemessenheit des EHB erneut prüft und dabei einen (neuen) Faktor berücksichtigt, der sich auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung auswirkt(36).

85.      Die Abwägung der Umstände, auf deren Grundlage die Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt (wie u. a. der Umstand, ob der EHB zwecks Durchführung eines Strafverfahrens oder zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt wurde, und die Schwere der Straftaten), umfasst auf diese Weise auch diejenigen, die die Gesundheit der gesuchten Person betreffen. Infolge der Abwägung kann es zur (vorübergehenden oder endgültigen) Rücknahme des EHB oder auch zu seiner Aufrechterhaltung kommen, wenn die ausstellende Justizbehörde dennoch eine Fortsetzung des Übergabeverfahrens beschließt.

86.      Ich vertrete den Standpunkt, dass Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 für diese Konstellation ein System der Kommunikation zwischen den Gerichten zulässt, ähnlich dem System, das gemäß Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vor der Entscheidung über die Vollstreckung des EHB zur Anwendung kommen kann.

87.      Zwar sind im Sinne von Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und nach dessen Wortlaut die Informationen relevant, die erforderlich sind, „um über die Übergabe entscheiden zu können“, d. h. für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Übergabe nach Maßgabe der Erfüllung der Bedingungen, die sich insbesondere aus den Art. 3 bis 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergeben(37).

88.      Liegen schwerwiegende humanitäre Gründe vor(38), spricht nach meiner Ansicht jedoch nichts dagegen, den Informationsaustausch zu nutzen, wenn die Informationen für die Beurteilung der Gefahr geeignet sind, aufgrund deren die Übergabe ausgesetzt werden kann, und zwar auch dann, wenn die Übergabe bereits angeordnet wurde.

89.      Im Hinblick auf die Rechte der gesuchten Person, aber auch im Hinblick auf das berechtigte Interesse der Union, Straflosigkeit zu verhindern, worauf insbesondere der Mechanismus des EHB abzielt(39), hat die vollstreckende Justizbehörde über die eventuelle Aussetzung der Übergabe unter Berücksichtigung aller für eine Entscheidung in voller Kenntnis der Sachlage erforderlichen Informationen zu befinden.

90.      Wenn eine solche Kenntnis eine unmittelbare und flüssige Kommunikation mit der ausstellenden Justizbehörde erfordert, so ist der Zugang zum Mechanismus des Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auch dann angemessen, wenn die Vollstreckung bereits angeordnet wurde.

91.      Eine Vollstreckung, die den „Filter“ der in den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung durchlaufen hat und bereits angeordnet wurde, kann folglich ausgesetzt werden. Die schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit wird so zu einem Grund, der als Voraussetzung bei der Anordnung der Vollstreckung des EHB zu berücksichtigen ist und der ihre Aussetzung rechtfertigt.

F.      Aussetzung oder Ablehnung der Vollstreckung aufgrund chronischer und irreversibler Krankheit?

92.      In Bezug auf die zeitliche Verlängerung der Maßnahme verweist Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 darauf, dass die Aussetzung „ausnahmsweise“ erfolgen kann, und ordnet an, dass die Vollstreckung des EHB erfolgt, „sobald diese [schwerwiegenden humanitären Gründe, die eine Aussetzung gerechtfertigt haben,] nicht mehr gegeben sind“.

93.      Der vorläufige Charakter der Aussetzung muss folglich mit dem Fortbestehen der humanitären Gründe, die die Aussetzung rechtfertigen, in Wechselwirkung stehen. Die humanitären Gründe können aus verschiedenen Ursachen (insbesondere angesichts der Entwicklung der die gesuchte Person betreffenden Lage) entfallen bzw. behoben werden.

94.      Auf jeden Fall besteht, wie es das vorlegende Gericht vorschlägt(40), in dem Fall, dass die Aussetzung verlängert werden muss, kein Hinderungsgrund, dass zwischen den beteiligten Justizbehörden ein fortlaufender Dialog geführt wird, der zu anderen individuellen Lösungen führen kann(41).

95.      Nur wenn die Aussetzung unter Berücksichtigung aller Umstände über einen Zeitraum hinaus verlängert werden müsste, dessen Angemessenheit von der vollstreckenden Justizbehörde(42) im Dialog mit der ausstellenden Justizbehörde zu beurteilen ist, ist von einer durch Erstere angeordneten Übergabe abzusehen.

96.      Daher vertrete ich folgenden Standpunkt:

–        Die vollstreckende Justizbehörde hat grundsätzlich die im Rahmenbeschluss 2002/584 (Art. 3, 4 und 4a) ausdrücklich vorgesehenen (abschließenden) Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung einzuhalten, d. h. die Gründe, die sich strikt auf die zur Last gelegten Straftaten und Vorkommnisse im Verlauf des Strafverfahrens beziehen, dessen Gegenstand diese Straftaten sind.

–        In Ausnahmefällen und bei Vorliegen hinreichender Gründe für die Annahme, dass eine schwerwiegende Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 oder 4 der Charta aus Gründen besteht, die mit dem gesundheitlichen Befinden der gesuchten Person zusammenhängen und ihr Leben gefährden, kann die vollstreckende Justizbehörde, nachdem sie von der ausstellenden Justizbehörde entsprechend informiert wurde, die Vollstreckung des EHB solange aussetzen, wie die schwerwiegende Gefahr fortbesteht.

V.      Ergebnis

97.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) wie folgt zu antworten:

Art. 1 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind in Verbindung mit den Art. 3, 4 und 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

wie folgt auszulegen:

Wenn die vollstreckende Justizbehörde der Auffassung ist, dass die Übergabe einer gesuchten Person, die an einer schweren, chronischen und möglicherweise irreversiblen Krankheit leidet, für diese die Gefahr eines schweren Gesundheitsschadens mit sich bringen könnte, hat die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um Informationen zu ersuchen, die es ermöglichen, das Bestehen dieser Gefahr auszuschließen, und gegebenenfalls ausnahmsweise die Übergabe der betreffenden Person auszusetzen, solange die schwerwiegende Gefahr fortbesteht.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den [EHB] und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.


3      Verbundene Rechtssachen C‑404/15 und C‑659/15 PPU (EU:C:2016:198), im Folgenden: Urteil Aranyosi und Căldăraru oder Rechtsprechung Aranyosi und Căldăraru.


4      Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002/584/GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’arresto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri (Gesetz Nr. 69 vom 22. April 2005, Bestimmungen zur Anpassung des nationalen Rechts an den Rahmenbeschluss 2002/584) (GURI Nr. 98 vom 29. April 2005, S. 6) in der durch Decreto legislativo (Gesetzesvertretendes Dekret) Nr. 10 vom 2. Februar 2021 (GURI Nr. 30 vom 5. Februar 2021, S. 22) geänderten Fassung.


5      Nach der Vorlageentscheidung (Rn. 1.3) bezieht sich die Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand) auf die Art. 2 und 35 der italienischen Verfassung, die das Recht auf Gesundheit garantieren, sowie auf Art. 3, in dem der Gleichheitsgrundsatz verankert ist. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz ergebe sich daraus, dass die nationale Vorschrift über die Auslieferung ausdrücklich vorsehe, dass die Auslieferung bei Vorliegen gesundheitlicher Gründe abgelehnt werde, solche Gründe jedoch nach dem Wortlaut des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Fall eines EHB nicht berücksichtigt werden könnten.


6      Rn. 7.3 der Vorlageentscheidung mit Verweis auf die Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29), und vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60).


7      Rn. 7.4 der Vorlageentscheidung mit Verweis auf das Urteil Aranyosi und Căldăraru, Rn. 80.


8      Rn. 7.5 der Vorlageentscheidung.


9      Das vorlegende Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft (Haftbedingungen in Ungarn) (C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589), und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu (C‑128/18, EU:C:2019:857, im Folgenden: Urteil Dorobantu).


10      Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, im Folgenden: Urteil Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems]), und vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, im Folgenden: Urteil Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde]).


11      Vgl. statt aller Urteil vom 26. Oktober 2021, Openbaar Ministerie (Recht auf Anhörung durch die vollstreckende Justizbehörde) (C‑428/21 PPU und C‑429/21 PPU, EU:C:2021:876, Rn. 38).


12      Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht) (C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, im Folgenden: Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], Rn. 43).


13      Ebd., Rn. 44.


14      Urteil Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), Rn. 41.


15      Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 191).


16      Urteil Aranyosi und Căldăraru, Rn. 83.


17      Urteil Dorobantu, Rn. 50 und die dort zitierte frühere Rechtsprechung.


18      Urteil Aranyosi und Căldăraru, Rn. 85.


19      Im Einklang mit den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) in seinem Urteil vom 28. September 2015, Bouyid/Belgien (CE:ECHR:2015:0928JUD002338009), hat der Gerichtshof daran erinnert, dass die EMRK unter allen Umständen, auch bei der Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens, ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung vorschreibt, das unabhängig vom Verhalten des Betroffenen gilt (Urteil Aranyosi und Căldăraru, Rn. 87). Es darf somit keine Ausnahme von der Garantie aus Art. 4 der Charta geben, auch nicht auf der Grundlage der wichtigsten Staatsräson, d. h. der Selbsterhaltung.


20      Es handelt sich um das zweite Grundrecht, das der Gerichtshof im Zusammenhang mit einer möglichen Ausweitung der Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung eines EHB prüft, u. a. Urteile Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht), Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) und Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde).


21      Urteil Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde). In Rn. 57 weist der Gerichtshof darauf hin, dass „… die Anwendung des Mechanismus des [EHB] … nur ausgesetzt werden darf, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze, einschließlich des Rechtsstaatsprinzips, durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Europäischen Rat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 3 EUV festgestellt wird“. Hervorhebung nur hier.


22      Urteil Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), Rn. 37.


23      Urteile Aranyosi und Căldăraru und Dorobantu.


24      Rn. 43 ihrer schriftlichen Erklärungen: „Das Problem resultiert aus der individuellen Situation der Person und ist mit dieser untrennbar verbunden, unabhängig von den Haftbedingungen in dem Mitgliedstaat, der den [EHB] ausgestellt hat.“


25      Vorlageentscheidung, Rn. 1.1.


26      In ihren schriftlichen Erklärungen (Rn. 7) macht die kroatische Regierung geltend, dass das kroatische Gesundheitssystem für die gesuchte Person unabhängig von ihrem Status ein hohes Niveau der Gesundheitsversorgung, einschließlich der Versorgung bei Pflegebedürftigkeit, sicherstelle.


27      Vgl. entsprechend das Urteil vom 24. April 2018, MP (Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen) (C‑353/16, EU:C:2018:276, im Folgenden: Urteil MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], Rn. 41): „… Art. 4 der Charta [ist] dahin auszulegen, dass die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen, der an einer besonders schweren psychischen oder physischen Beeinträchtigung leidet, eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne dieses Artikels darstellt, wenn seine Abschiebung mit der tatsächlichen und erwiesenen Gefahr einer wesentlichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands verbunden wäre.“ Vgl. insoweit auch das jüngst ergangene Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Abschiebung – Medizinisches Cannabis) (C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 66).


28      Im Urteil MP (Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen), Rn. 40, wird wiederum in Bezug auf den entsprechenden Artikel der EMRK das Urteil des EGMR vom 13. Dezember 2016, Paposhvili/Belgien (CE:ECHR:2016:1213JUD004173810, §§ 178 und 183), zitiert: „… aus der jüngsten Rechtsprechung des [EGMR] [ergibt sich], dass diese Bestimmung [Art. 3 EMRK] der Abschiebung einer schwer kranken Person entgegensteht, für die unmittelbare Lebensgefahr besteht oder bei der es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass sie, obwohl sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, mit einem tatsächlichen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Empfangsstaat oder des fehlenden Zugangs zu ihr einer ernsten, raschen und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu werden, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung führt.“


29      Um das von der italienischen Regierung in der mündlichen Verhandlung dargestellte Beispiel aufzugreifen, könnte die Übergabe eines Patienten mit einer Nierenerkrankung, die unweigerlich eine Dialysebehandlung erfordert, zu einem Verstoß gegen Art. 4 der Charta führen, wenn diese Behandlung im Ausstellungsmitgliedstaat nicht zur Verfügung steht.


30      Um die Gefahr abzuwenden, gibt es in vielen Haftanstalten üblicherweise Ad-hoc-Protokolle und in einigen Mitgliedstaaten psychiatrische Abteilungen oder Krankenhäuser für Häftlinge. Vgl. das Dokument „Preventing suicide in jails and prisons“ der Weltgesundheitsorganisation und der IASP (International association for suicide prevention) (2007) unter https://n9.cl/947kd. Vgl. auch den von der Kommission in der mündlichen Verhandlung zitierten Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) über die Haftbedingungen in der Europäischen Union, in dessen Ausgabe 2019 ein vergleichbares Niveau der nationalen Systeme der Gesundheitsversorgung in Haftanstalten festgestellt wird (FRA: Criminal detention conditions in the European Union: rules and reality, 2019).


31      Zu den ausdrücklich genannten Rechten gehört z. B. das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal bestraft zu werden (Art. 50 der Charta). Zu seinem Schutz dient der in Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Grund, aus dem die Vollstreckung des EHB abzulehnen ist, und dieses Recht findet sich auch in den meisten der in Art. 4 verankerten Gründen für die fakultative Ablehnung einer Vollstreckung des EHB. Das Gleiche gilt für das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 der Charta), das bei Verurteilungen in Abwesenheit zum Tragen kommt und nach Art. 4a des Rahmenbeschlusses als Grund, aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann, anerkannt ist.


32      Rn. 6.2 und 6.3 der Vorlageentscheidung.


33      Rn. 6.3 der Vorlageentscheidung.


34      Das einzige subjektive Element, das in Betracht gezogen wird, findet sich in Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wonach eine Vollstreckung abzulehnen ist, wenn die Person aufgrund ihres Alters nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Es handelt sich dabei zwar um einen Grund, der sich auf einen persönlichen Umstand bezieht, jedoch ist dieser mit der strafbaren Handlung verbunden und wirkt sich auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus.


35      Die Kommission hebt hervor (Rn. 45 ihrer schriftlichen Erklärungen), dass „seelisches Leid“, das mit dem Freiheitsentzug einhergehe, diese Schwelle nicht erreiche.


36      E. D. L. stuft in Rn. 6 seiner schriftlichen Erklärungen die Ausstellung eines EHB gegen eine schwerkranke Person als grundsätzlich unverhältnismäßig ein. Ich teile diesen abstrakten Ansatz nicht. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann jedoch in dem von mir dargestellten Sinne eine Bedeutung zukommen.


37      Art. 15 Abs. 2 fügt zu diesen Bestimmungen Art. 8 des Rahmenbeschlusses hinzu, in dem Inhalt und Form des EHB geregelt sind.


38      Nichts hindert die vollstreckende Justizbehörde daran, die entsprechenden Informationen gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzufordern, unabhängig davon, ob sie von vornherein das Vorliegen schwerwiegender humanitärer Gründe feststellt oder die Gefahr für die Unversehrtheit und Gesundheit der gesuchten Person erst nach Anordnung der Vollstreckung entdeckt.


39      Urteil Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde), Rn. 62.


40      Rn. 9.5 der Vorlageentscheidung.


41      Die Tatsache, dass es sich um eine chronische Erkrankung von unbestimmter Dauer handelt, schließt die Anwendung von Art. 23 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht aus. Eine chronisch kranke Person kann im Ausstellungsmitgliedstaat zu ähnlichen Bedingungen wie im Vollstreckungsmitgliedstaat medizinisch versorgt werden. Anders verhält es sich, wenn die Übergabe selbst eine unmittelbare Gefahr für das Leben der gesuchten Person darstellt.


42      In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem sich die gesuchte Person auf freiem Fuß befindet, kann eine wiederholte Aussetzung auf Antrag des Betroffenen nach meiner Meinung nicht als unangemessene Verzögerung angesehen werden.