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Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Słupsku (Polen), eingereicht am 25. Oktober 2021 – Strafverfahren gegen M.C., M.F.

(Rechtssache C-648/21)

Verfahrenssprache: Polnisch

Vorlegendes Gericht

Sąd Okręgowy w Słupsku

Beteiligte des Ausgangsstrafverfahrens

M.C., M.F.

Vorlagefragen

Ist Art.19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie Art. 47b Abs. 5 und 6 in Verbindung mit Art. 30 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 entgegensteht, wonach ein Organ eines nationalen Gerichts, z. B. das Kollegium des Gerichts, befugt ist, einen Richter dieses Gerichts teilweise oder ganz von seiner Verpflichtung zu entbinden, die ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entscheiden, wenn:

a) dem Kollegium des Gerichts, von Rechts wegen, Gerichtspräsidenten angehören, die von einem Organ der Exekutive, wie dem Justizminister, der auch Generalstaatsanwalt ist, auf diese Posten berufen wurden;

b) die Entbindung des Richters von der Verpflichtung, die ihm zugewiesenen Rechtssachen zu entscheiden, ohne seine Zustimmung erfolgt;

c) im nationalen Recht weder Kriterien, die das Kollegium des Gerichts bei der Entbindung eines Richters von seiner Verpflichtung zur Entscheidung der ihm zugewiesenen Rechtssachen anzuwenden hat, noch eine Begründungspflicht und eine gerichtliche Überprüfung einer solchen Entbindung vorgesehen sind;

d) einige Mitglieder des Kollegiums des Gerichts unter Umständen, die mit den im Urteil des Gerichtshofs vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C-791/19, EU:C:2021:596), genannten vergleichbar sind, in das Richteramt berufen worden sind?

Sind die in der ersten Frage genannten Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs [des Unionsrechts] dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht, das mit einer in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/3431 fallenden Strafsache befasst ist und in dem ein Richter in der in der ersten Frage beschriebenen Weise von seiner Verpflichtung zur Entscheidung von Rechtssachen entbunden wurde, und alle staatlichen Behörden berechtigen (oder verpflichten), die Handlung des Kollegiums des Gerichts und andere, nachfolgende Handlungen, wie z. B. Anordnungen zur Neuverteilung von Rechtssachen, einschließlich der Rechtssache des Ausgangsverfahrens, ohne Berücksichtigung des von seiner Verpflichtung entbundenen Richters, unangewendet zu lassen, damit dieser weiterhin dem mit dieser Rechtssache befassten Spruchkörper angehören kann?

Sind die in der ersten Frage genannten Bestimmungen und der Grundsatz des Vorrangs [des Unionsrechts] dahin auszulegen, dass die innerstaatliche Rechtsordnung in Strafverfahren, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/34 fallen, Wege vorsehen muss, die gewährleisten, dass die Verfahrensbeteiligten (wie die Angeklagten im Ausgangsverfahren) die in [der ersten Frage] genannten Entscheidungen – die zu einer Änderung der Zusammensetzung des mit der Rechtssache befassten Gerichts und folglich dazu führen sollen, dass der bisher zuständige Richter in der in [der ersten Frage] beschriebenen Weise von der Verpflichtung zur Entscheidung der Rechtssache entbunden wird – überprüfen lassen und Rechtsmittel gegen sie einlegen können?

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1 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).