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Verbundene Rechtssachen C-482/01 und C-493/01


Georgios Orfanopoulos u. a.undRaffaele Oliveri
gegen
Land Baden-Württemberg



(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Stuttgart)

„Freizügigkeit – Öffentliche Ordnung – Richtlinie 64/221/EWG – Ausweisung wegen Verstößen gegen das Strafgesetz – Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer und der persönlichen Verhältnisse – Grundrechte – Schutz des Familienlebens – Berücksichtigung von Umständen, die nach der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung und der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung durch ein Verwaltungsgericht eingetreten sind – Recht des Betroffenen, bei einer zur Stellungnahme berufenen Stelle Zweckmäßigkeitserwägungen geltend zu machen“


Leitsätze des Urteils

1.
Freizügigkeit – Freier Dienstleistungsverkehr – Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Vorabentscheidungsverfahren betreffend die Frage, ob eine nationale Regelung, die unter bestimmten Umständen die Ausweisung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten vorschreibt, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist – Angaben, anhand deren der Gerichtshof nicht die maßgeblichen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen feststellen kann – Prüfung, die Sache des nationalen Gerichts ist

(Artikel 18 EG, 39 EG, 43 EG, 46 EG, 49 EG, 55 EG und 234 EG; Richtlinie 90/364 des Rates)

2.
Freizügigkeit – Ausnahmen – Gründe der öffentlichen Ordnung – Verurteilung wegen bestimmter Delikte zu bestimmten Strafen – Zwingende Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen ohne Berücksichtigung des persönlichen Verhaltens – Unzulässigkeit

(Richtlinie 64/221 des Rates, Artikel 3)

3.
Freizügigkeit – Ausnahmen – Gründe der öffentlichen Ordnung – Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen – Nationale Regelung, die die Möglichkeit ausschließt, Umstände zu berücksichtigen, die zwischen der Verwaltungsentscheidung und der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung durch ein Gericht eingetreten sind – Unzulässigkeit

(Richtlinie 64/221 des Rates, Artikel 3)

4.
Freizügigkeit – Ausnahmen – Gründe der öffentlichen Ordnung – Verurteilung wegen bestimmter Delikte zu bestimmten Strafen – Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen auf der Grundlage einer Vermutung und ohne dass das persönliche Verhalten oder die Gefahr für die öffentliche Ordnung gebührend berücksichtigt werden – Unzulässigkeit – Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen, der eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt – Betroffener, der sich auf familiäre Umstände berufen kann – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Beurteilung im Einzelfall unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des Familienlebens

(Artikel 39 Absatz 3 EG; Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Artikel 8; Richtlinie 64/221 des Rates, Artikel 3)

5.
Freizügigkeit – Ausnahmen – Ausländerrechtliche Entscheidungen – Ausweisungsentscheidung – Rechtsweggarantien – Nationale Rechtsvorschriften, die weder ein Widerspruchs- noch ein Klageverfahren vorsehen, das auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit umfasst – Unzulässigkeit

(Richtlinie 64/221 des Rates, Artikel 9 Absatz 1)

1.
Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts wird das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht uneingeschränkt gewährt. Dies folgt zum einen aus den Bestimmungen zur Freizügigkeit und zum freien Dienstleistungsverkehr in Titel III des Dritten Teils des Vertrages, d. h. aus den Artikeln 39 EG, 43 EG, 46 EG, 49 EG und 55 EG, sowie aus den zu ihrer Durchführung erlassenen Vorschriften des abgeleiteten Rechts und zum anderen aus den Bestimmungen des Zweiten Teils des Vertrages und insbesondere aus Artikel 18 EG, der zwar den Unionsbürgern das Recht verleiht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, dabei aber ausdrücklich auf die im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen verweist.
Wird der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 234 EG danach gefragt, ob eine nationale Bestimmung, die den zuständigen Behörden vorschreibt, wegen bestimmter Delikte zu bestimmten Strafen verurteilte Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, und kann der Gerichtshof aufgrund der ihm vorliegenden Angaben nicht mit Gewissheit feststellen, ob der betreffende Gemeinschaftsangehörige sich auf die Bestimmungen des Artikels 39 EG oder auf andere Bestimmungen des Vertrages oder des abgeleiteten Rechts über die Freizügigkeit oder den freien Dienstleistungsverkehr stützen kann, während feststeht, dass der Betroffene in seiner Eigenschaft als Unionsbürger nach Artikel 18 EG über das Recht verfügt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im EG‑Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten, hat das vorlegende Gericht festzustellen, auf welche gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats wie der Betroffene neben Artikel 18 Absatz 1 EG gegebenenfalls stützen kann.

Dieses Gericht hat insoweit insbesondere zu prüfen, ob der Betroffene – als Arbeitnehmer oder als andere Person, die aufgrund der zur Durchführung des Artikels 39 EG erlassenen Vorschriften des abgeleiteten Rechts die Freizügigkeit in Anspruch nehmen kann – vom Anwendungsbereich des Artikels 39 EG erfasst wird oder ob er sich auf andere gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen stützen kann wie die Richtlinie 90/364 über das Aufenthaltsrecht oder Artikel 49 EG, der u. a. für Dienstleistungsempfänger gilt.

(vgl. Randnrn. 47, 52-54, Tenor 1)

2.
Artikel 3 der Richtlinie 64/221 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, wonach bei den fraglichen Maßnahmen ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein darf und strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres diese Maßnahmen nicht rechtfertigen können, steht einer nationalen Regelung entgegen, die den innerstaatlichen Behörden vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten auszuweisen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem deutschen Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sofern die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

(vgl. Randnr. 71, Tenor 2)

3.
Artikel 3 der Richtlinie 64/221 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, wonach bei den fraglichen Maßnahmen ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein darf und strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres diese Maßnahmen nicht rechtfertigen können, steht einer innerstaatlichen Praxis entgegen, nach der innerstaatliche Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann, die das Verhalten des Betroffenen für die öffentliche Ordnung darstellen würde. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Entscheidung über die Ausweisung und der Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt.

(vgl. Randnr. 82, Tenor 3)

4.
Die Artikel 39 EG und 3 der Richtlinie 64/221 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, wonach bei den fraglichen Maßnahmen ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein darf und strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres diese Maßnahmen nicht rechtfertigen können, stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder einer innerstaatlichen Praxis entgegen, nach der die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist, trotz der Berücksichtigung familiärer Umstände auf der Grundlage der Vermutung verfügt wird, dass dieser auszuweisen ist, ohne dass sein persönliches Verhalten oder die Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt würden.
Hingegen stehen Artikel 39 EG und die Richtlinie 64/221 der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der wegen bestimmter Delikte zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden ist und der einerseits eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt und sich andererseits seit vielen Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und sich gegenüber dieser Ausweisung auf Umstände familiärer Art berufen kann, nicht entgegen, sofern die von den innerstaatlichen Behörden im Einzelfall vorgenommene Beurteilung der Frage, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen liegt, unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere unter Wahrung der Grundrechte wie desjenigen auf Schutz des Familienlebens erfolgt.

(vgl. Randnr. 100, Tenor 4-5)

5.
Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, der eine verfahrensrechtliche Mindestgarantie für die Personen sicherstellen soll, denen gegenüber eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet getroffen wird, steht einer Bestimmung eines Mitgliedstaats entgegen, die gegen eine von einer Verwaltungsbehörde getroffene Entscheidung über die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ein Widerspruchsverfahren und eine Klage, in denen auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht.
Wenn feststeht, dass die Nachprüfung der betreffenden Entscheidungen durch Verwaltungsgerichte im Rahmen gerichtlicher Verfahren erfolgt, aber ein Zweifel in Bezug auf den Umfang dieser Kontrolle fortbesteht, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die zuständigen Gerichte die Zweckmäßigkeit von Ausweisungsmaßnahmen überprüfen können.

(vgl. Randnrn. 105, 107, 112, 116, Tenor 6)