Language of document : ECLI:EU:T:2011:69

Rechtssachen T-117/07 und T-121/07

Areva u. a.

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Projekte im Bereich gasisolierter Schaltanlagen – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt wird – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht – Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung – Dauer der Zuwiderhandlung – Geldbußen – Gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Geldbuße – Erschwerende Umstände – Rolle als Anführer – Mildernde Umstände – Kooperation“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Unternehmen – Begriff – Wirtschaftliche Einheit

(Art. 81 Abs. 1 EG)

2.      Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche juristische Person – Ausnahmen

(Art. 81 Abs. 1 EG)

3.      Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Von einer Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung – Zurechnung an die Muttergesellschaft in Anbetracht der zwischen ihnen bestehenden wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen

(Art. 81 Abs. 1 EG)

4.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Klagegrund einer fehlenden oder unzureichenden Begründung – Klagegrund einer unzutreffenden Begründung – Unterscheidung

(Art. 253 EG)

5.      Gemeinschaftsrecht – Allgemeine Rechtsgrundsätze – Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften – Geltungsbereich – Wettbewerb

(Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 4, und Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 5)

6.      Wettbewerb – Kartelle – Vereinbarungen zwischen Unternehmen – Beweislast der Kommission für die Dauer der Zuwiderhandlung

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2, und Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 3)

7.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verfolgungsverjährung – Beginn

(Art. 81 EG; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnung Nr. 1/2003, Art. 25)

8.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang

(Art. 253 EG)

9.      Wettbewerb – Geldbußen – Gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung – Voraussetzungen

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

10.    Wettbewerb – Geldbußen – Gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung – Umfang

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

11.    Wettbewerb – Geldbußen – Gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung – Möglichkeit jedes einzelnen Schuldners, gegen eine solche Entscheidung eine Nichtigkeitsklage zu erheben

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

12.    Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen – Tragweite

(Art. 81 Abs. 1 EG)

13.    Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Verankerung in der Europäischen Menschenrechtskonvention und erneute Bekräftigung in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

14.    Wettbewerb – Grundsätze – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Kommission – Unabhängiges und unparteiisches Gericht – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung

(Art. 81 EG, 229 EG und 230 EG; Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 17, und Nr. 1/2003, Art. 31)

15.    Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zwingendes Recht

(Art. 81 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

16.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße verhängt wird – Verpflichtung zur Einhaltung des Grundsatzes der begrenzten Ermächtigung

(Art. 5 EG und 81 EG; EWR-Abkommen, Art. 53; Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2, und Nr. 1/2003, Art. 7 Abs. 1, und 23 Abs. 2)

17.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Vorläufiger Charakter – Fallenlassen von Rügen, die sich gegenüber bestimmten Gesellschaften als unbegründet erweisen, was zu einer Verschlechterung der Position der Gesellschaft führt, die als Adressatin der angefochtenen Entscheidung beibehalten wird – Zulässigkeit im Hinblick auf die Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch diese Gesellschaften

(Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 19 Abs. 1, und Nr. 1/2003, Art. 27 Abs. 1)

18.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Erschwerende Umstände – Rolle als Anführer oder Anstifter der Zuwiderhandlung – Begriff

(Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2, und Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nrn. 2 und 3)

19.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Erschwerende Umstände – Rolle als Anführer der Zuwiderhandlung – Von verschiedenen Unternehmen und den sie leitenden Gesellschaften nacheinander wahrgenommene Rolle

(Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2, und Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 2)

20.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Nachprüfung – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung

(Art. 229 EG; Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 17, und Nr. 1/2003, Art. 31)

21.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Berücksichtigung des weltweiten Umsatzes, der im letzten vollständigen Kalenderjahr der Zuwiderhandlung mit den Waren und Dienstleistungen erzielt wurde, auf die sich die Zuwiderhandlung bezieht

(Verordnungen Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2, und Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 Buchst. A)

1.      Im Wettbewerbsrecht ist unter dem Begriff des Unternehmens eine im Hinblick auf den jeweiligen Gegenstand der Zuwiderhandlung bestehende wirtschaftliche Einheit zu verstehen. Das den Unternehmen in Art. 81 Abs. 1 EG u. a. auferlegte Verbot von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken, richtet sich an wirtschaftliche Einheiten, die jeweils in einer einheitlichen Organisation persönlicher, materieller und immaterieller Mittel bestehen, mit der dauerhaft ein bestimmter wirtschaftlicher Zweck verfolgt wird, und die an einer Zuwiderhandlung im Sinne dieser Vorschrift beteiligt sein können.

(vgl. Randnr. 63)

2.      Im Wettbewerbsrecht hat nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit, wonach eine Person nur für ihre eigenen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, grundsätzlich die Person, die das Unternehmen zu dem Zeitpunkt leitete, zu dem es an der Zuwiderhandlung beteiligt war, für diese Zuwiderhandlung einzustehen, selbst wenn das genannte Unternehmen am Tag des Erlasses der die Zuwiderhandlung feststellenden Entscheidung unter der Verantwortlichkeit oder Leitung einer anderen Person steht.

Unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen lässt die Rechtsprechung zu, dass vom Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit nach dem Kriterium „der wirtschaftlichen Kontinuität“ abgewichen werden darf, wonach ein Verstoß gegen Wettbewerbsregeln, damit die praktische Wirksamkeit dieser Regeln nicht durch u. a. an der Rechtsform der betroffenen Gesellschaften vorgenommene Änderungen vereitelt werden kann, dem wirtschaftlichen Nachfolger einer juristischen Person zugerechnet werden kann, die der Urheber dieses Verstoßes ist, selbst wenn diese juristische Person zum Zeitpunkt des Erlasses der die genannte Zuwiderhandlung feststellenden Entscheidung noch besteht.

Die Kommission kann das Kriterium „der wirtschaftlichen Kontinuität“ unangewendet lassen und für die Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung dessen Muttergesellschaft, die dieses Unternehmen bis zu seiner Übertragung an völlig oder fast völlig in ihrem Alleineigentum stehende Tochtergesellschaften unmittelbar geleitet hat, persönlich bis zu dem Zeitpunkt verantwortlich machen, zu dem sie diese Tochtergesellschaften und dieses Unternehmen schließlich an einen anderen Konzern veräußert hat.

(vgl. Randnrn. 65-66, 72, 78)

3.      Im Wettbewerbsrecht ist es grundsätzlich Sache der Kommission, nachzuweisen, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft auf dem Markt gehabt hat, und zwar auf der Grundlage von Sachverhaltsangaben wie insbesondere eines eventuellen Weisungsrechts der Muttergesellschaft gegenüber der Tochtergesellschaft. Die Kommission kann allerdings vernünftigerweise vermuten, dass eine 100%ige Tochtergesellschaft einer Muttergesellschaft im Wesentlichen die Weisungen ihrer Muttergesellschaft ausführt, und braucht aufgrund dieser Haftungsvermutung nicht nachzuprüfen, ob die Muttergesellschaft dieses Weisungsrecht gegenüber der Tochtergesellschaft tatsächlich ausgeübt hat. Erklärt die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte, dass sie beabsichtige, die Muttergesellschaft für eine Zuwiderhandlung der Tochtergesellschaft persönlich verantwortlich zu machen, und beruft sie sich dabei auf die Haftungsvermutung, die sich daraus ergibt, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital an der Tochtergesellschaft hält, ist es Sache der Muttergesellschaft, die ihre Haftung bestreiten möchte, im Lauf des Verwaltungsverfahrens oder spätestens vor den Gerichten der Union hinreichende Beweise vorzulegen, um die Vermutung zu entkräften, indem sie beweist, dass die Tochtergesellschaft, obwohl die Muttergesellschaft das gesamte Kapital an ihr hielt, tatsächlich eigenständig ihr Marktverhalten bestimmte.

Die Kommission muss in der Lage sein, in ihrer eine Zuwiderhandlung feststellenden Entscheidung die Antworten der betroffenen Unternehmen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zu berücksichtigen. Hierbei muss sie nicht nur die Argumente der betroffenen Unternehmen zulassen oder zurückweisen können, sondern auch selbst die von ihnen angeführten Angaben zum Sachverhalt prüfen können, sei es, um die Beschwerdepunkte fallen zu lassen, die sich womöglich als nicht stichhaltig erweisen, sei es, um sowohl auf tatsächlicher als auch auf rechtlicher Ebene ihr Vorbringen zur Stützung der von ihr weiter aufrechterhaltenen Beschwerdepunkte zu ordnen oder zu vervollständigen. Das ist der Fall, wenn sich die Entscheidung der Kommission nicht nur auf die Haftungsvermutung, die sich aus dem Halten des gesamten Kapitals an den Tochtergesellschaften durch ihre Muttergesellschaft ergibt, stützt, sondern auch auf Angaben zum Sachverhalt, die im Lauf des Verwaltungsverfahrens gemacht wurden und die belegen, dass

– innerhalb der Gruppe die betriebliche Organisation Vorrang vor der Rechtsstruktur hatte und die Tätigkeiten auf dem Gebiet der gerügten Vorhaben auf der obersten Ebene von der Muttergesellschaft und ihren Vorgängergesellschaften geleitet wurden,

– sechs Mitglieder des Verwaltungsrates der Tochtergesellschaften gleichzeitig oder nacheinander Mitglieder des Verwaltungsrates der Muttergesellschaften in der Gruppe gewesen waren, bevor sie an eine neue Gruppe veräußert wurden,

– die von der Muttergesellschaft vorgenommene Ernennung eines neuen Mitglieds im Verwaltungsrat ihrer im fraglichen Geschäftsbereich tätigen Tochtergesellschaften das Ergebnis stützt, dass durch die erstgenannte Gesellschaft ein entscheidender Einfluss auf die Zweitgenannten ausgeübt wurde,

– im Rahmen der konzerninternen Umstrukturierungsmaßnahmen die im fraglichen Geschäftsbereich tätigen Tochtergesellschaften, wie ihr unmittelbar nach der konzernübergreifenden Veräußerung stattgefundener Firmenwechsel zeigt, in die Gruppe integriert wurden.

Ebenso kann die Kommission feststellen, dass die Übertragung von Funktionen geschäftlicher Art die Muttergesellschaft nicht ihrer Haftung entheben könne, wenn diese Gesellschaft selbst einräumt, dass sie in der Zeit der Zuwiderhandlung sämtliche Angebotsentwürfe für die beanstandeten Vorhaben zu genehmigen gehabt habe, die eine bestimmte Schwelle überstiegen oder für die Gruppe erhebliche Risiken mit sich gebracht hätten.

(vgl. Randnrn. 86-87, 91, 97, 116, 144)

4.      Was die der Kommission obliegende Begründungspflicht insbesondere beim Erlass einer eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsvorschriften feststellenden Entscheidung angeht, ist die Rüge einer fehlenden oder nicht hinreichenden Begründung von der Rüge einer unzutreffenden Begründung der Entscheidung aufgrund eines Sachverhaltsirrtums oder eines Fehlers in der rechtlichen Bewertung zu unterscheiden. Letzterer Gesichtspunkt betrifft die Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit der Entscheidung und nicht die Prüfung des Verstoßes gegen wesentliche Formerfordernisse und kann somit keinen Verstoß gegen Art. 253 EG darstellen.

(vgl. Randnr. 88)

5.      Der Grundsatz des Verbots der Rückwirkung von Strafvorschriften ist ein allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz, der auch in Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist und zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Wahrung die Unionsgerichte zu sichern haben. Selbst wenn nach Art. 15 Abs. 4 der Verordnung Nr. 17 und nach Art. 23 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 Entscheidungen der Kommission, mit denen Geldbußen wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht festgesetzt werden, nicht strafrechtlicher Art sind, muss die Kommission gleichwohl in jedem Verwaltungsverfahren, das in Anwendung des Wettbewerbsrechts zu Sanktionen führen kann, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere das Rückwirkungsverbot beachten.

Demnach müssen die Regeln, nach denen natürlichen oder juristischen Personen im Wettbewerbsrecht Zuwiderhandlungen angelastet werden, denen entsprechen, die zur Zeit der Begehung der Zuwiderhandlung vorgesehen waren. Haften mehrere Personen persönlich für die Beteiligung ein und desselben Unternehmens im wettbewerbsrechtlichen Sinne an einer Zuwiderhandlung, sind sie als gesamtschuldnerisch für diese Zuwiderhandlung haftend anzusehen. Außerdem können für die Beteiligung ein und desselben Unternehmens an einer Zuwiderhandlung die Person, unter deren Verantwortlichkeit oder Leitung das Unternehmen im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung unmittelbar stand, und die Person, die dasselbe Unternehmen im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung mittelbar leitete, weil sie tatsächlich eine Kontrollbefugnis über die erstgenannte Person ausübte und deren Marktverhalten bestimmte, persönlich und gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden.

(vgl. Randnrn. 131-134)

6.      Hinsichtlich der Dauer einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass die Kommission, soweit es an Beweismaterial fehlt, mit dem diese Dauer direkt belegt werden kann, zumindest Beweismaterial beibringt, das sich auf Fakten bezieht, die zeitlich so nahe beieinander liegen, dass sie vernünftigerweise den Schluss zulassen, dass die Zuwiderhandlung zwischen zwei konkreten Zeitpunkten ohne Unterbrechung erfolgt ist. Was die Beweismittel angeht, so ist üblich, dass die Tätigkeiten, mit denen wettbewerbswidrige Verhaltensweisen und Vereinbarungen verbunden sind, im Geheimen ablaufen, dass die Zusammenkünfte heimlich stattfinden, meist in einem Drittland, und dass die Unterlagen darüber auf ein Minimum reduziert werden. Selbst wenn die Kommission Schriftstücke findet, die – wie z. B. die Protokolle einer Zusammenkunft – eine unzulässige Kontaktaufnahme zwischen Wirtschaftsteilnehmern explizit bestätigen, handelt es sich normalerweise nur um lückenhafte und vereinzelte Belege, so dass es häufig erforderlich ist, bestimmte Einzelheiten durch Schlussfolgerungen zu rekonstruieren. In den meisten Fällen muss das Vorliegen einer Verhaltensweise oder wettbewerbswidrigen Vereinbarung aus einer Reihe von Koinzidenzen und Indizien abgeleitet werden, die bei einer Gesamtbetrachtung mangels einer anderen schlüssigen Erklärung den Beweis für eine Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellen können. Im Rahmen einer Zuwiderhandlung, die sich über mehrere Jahre erstreckt, bleibt die Tatsache, dass sich das Kartell während verschiedener Zeitabschnitte manifestiert, die durch mehr oder weniger lange Zwischenräume voneinander getrennt sein können, ohne Einfluss auf den Bestand dieses Kartells, sofern mit den verschiedenen Maßnahmen, die Teil dieser Zuwiderhandlung sind, im Rahmen einer einzigen und fortgesetzten Zuwiderhandlung das gleiche Ziel verfolgt wird.

Da die gegen die Wettbewerbsregeln verstoßenden Vereinbarungen, insgesamt betrachtet, ihre Wirkungen zwischen dem Datum des Inkrafttretens einer von ihnen und dem Enddatum der Geltung einer anderen von ihnen zeitigten, konnte die Kommission zu Recht diese Vereinbarungen als einen Hinweis darauf verstehen, dass die Zuwiderhandlung ununterbrochen während des ganzen fraglichen Zeitraums fortdauerte. So sind die Tatsache, dass das Kartell wiederholt in Erscheinung getreten ist, und das Bündel von Indizien, das die Kommission dafür zusammengetragen hat, dass die Tätigkeiten, mit denen das betroffene Unternehmen am Kartell beteiligt war, während des gesamten fraglichen Zeitraums weiterbetrieben wurden, als hinreichender Beweis dafür anzusehen, dass das Kartell ununterbrochen zwischen den von der Kommission festgestellten Daten fortbestand.

(vgl. Randnrn. 164-166, 176-177)

7.      Nach Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 verjährt die Befugnis der Kommission zur Verhängung einer Sanktion wegen eines Verstoßes gegen Art. 81 EG und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum in fünf Jahren. Die Verjährung beginnt mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung begangen worden ist. Bei dauerhaften oder fortgesetzten Zuwiderhandlungen beginnt die Verjährung jedoch erst an dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung beendet ist.

(vgl. Randnr. 188)

8.      Der Kommission kann nicht vorgeworfen werden, sie habe bei einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln die Entscheidung, gegen zwei Gesellschaften eine gesamtschuldnerisch zu zahlende Geldbuße festzusetzen, nicht speziell im Hinblick auf die Tatsache begründet, dass diese Gesellschaften am Tag des Erlasses dieser Entscheidung keine wirtschaftliche Einheit mehr gebildet hätten, da dieser Umstand ihrer Ansicht nach dieser Festsetzung nicht entgegensteht. Die Kommission ist nämlich nicht gehalten, in ihrer Entscheidung genau die Gründe für bestimmte Aspekte darzulegen, die ihrer Ansicht nach offenkundig neben der Sache liegen oder keine oder eine eindeutig untergeordnete Bedeutung für ihre Beurteilung haben.

(vgl. Randnr. 200)

9.      Die gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Geldbußen, die aufgrund eines Verstoßes gegen die Art. 81 EG und 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geschuldet werden, ist eine Rechtswirkung, die sich von Gesetzes wegen aus den materiellen Bestimmungen dieser Artikel ergibt.

Die gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung einer Geldbuße wegen Beteiligung eines Unternehmens an einem Verstoß gegen die Art. 81 EG und 53 EWR‑Abkommen folgt daraus, dass jede der betroffenen Personen persönlich für die Beteiligung des Unternehmens an der Zuwiderhandlung verantwortlich gemacht werden kann. Die Einheitlichkeit des Verhaltens des Unternehmens auf dem Markt rechtfertigt es für die Anwendung des Wettbewerbsrechts, dass die Gesellschaften oder, allgemein gesprochen, die Rechtssubjekte, die persönlich hierfür verantwortlich gemacht werden können, gesamtschuldnerisch haften. Die gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der wegen eines Verstoßes gegen die Art. 81 EG und 53 EWR‑Abkommen festgesetzten Geldbußen gehört, da sie dazu beiträgt, deren tatsächliche Beitreibung zu garantieren, zum Ziel der Abschreckung, das allgemein mit dem Wettbewerbsrecht verfolgt wird, und dies unter Beachtung des Grundsatzes des Verbots der Doppelbestrafung, das ein grundlegendes Prinzip des Unionsrechts ist und auch in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist, wonach eine mehrfache Bestrafung desselben unternehmerischen Marktverhaltens bei derselben wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung bei den Rechtssubjekten verboten ist, die hierfür persönlich verantwortlich gemacht werden können.

Dass die jeweilige persönliche Verantwortlichkeit, die mehrere Gesellschaften wegen der Beteiligung desselben Unternehmens an einer Zuwiderhandlung trifft, nicht identisch ist, bedeutet nicht, dass gegen diese Gesellschaften keine gesamtschuldnerisch zu zahlende Geldbuße verhängt werden dürfte, denn die gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Geldbuße deckt nur den Zuwiderhandlungszeitraum ab, während dessen diese Gesellschaften eine wirtschaftliche Einheit und somit im wettbewerbsrechtlichen Sinne ein Unternehmen bildeten.

(vgl. Randnrn. 204-206)

10.    Soweit sich der Klagegrund, der aus einem Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit hergeleitet wird, als Einwand der Rechtswidrigkeit gegen die Regeln über die gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung von Geldbußen bei Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln auslegen lässt mit der Begründung, dass diese Regeln eine Quelle der Unsicherheit in Bezug auf die zu zahlende Geldbuße, auf die Bestimmung des Schuldners der Zahlungsverpflichtung und auf die Rechtslage der Gesamtschuldner seien, impliziert dieser Klagegrund, dass zur Rechtmäßigkeit der Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung für die Zahlung der Geldbußen im Wettbewerbsrecht Stellung zu nehmen und zu prüfen ist, ob die Rechte und Verpflichtungen, die sich daraus ergeben, hinreichend genau von den von der Sanktion betroffenen Gesellschaften erkannt werden können.

Ebenso wie der Begriff des „Unternehmens“ im Sinne des Wettbewerbsrechts, aus dem er sich von Rechts wegen ergibt, ist der Begriff der „gesamtschuldnerischen Haftung für die Zahlung der Geldbußen“ ein autonomer Begriff, der unter Bezugnahme auf die Ziele und die Systematik des Wettbewerbsrechts auszulegen ist, wovon er ein Teil ist, und zwar gegebenenfalls unter Bezugnahme auf die allgemeinen Grundsätze, die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtssysteme ergeben. In Ermangelung einer gegenteiligen Angabe in der Entscheidung, mit der sie eine gesamtschuldnerisch zu zahlende Geldbuße gegenüber mehreren Gesellschaften wegen eines eine Zuwiderhandlung darstellenden Verhaltens eines Unternehmens festsetzt, rechnet die Kommission diesen Gesellschaften das genannte Verhalten zu gleichen Teilen zu. Außerdem sind die zur gesamtschuldnerischen Zahlung einer Geldbuße verurteilten Gesellschaften gehalten, eine einzige Geldbuße zu zahlen, deren Betrag unter Bezugnahme auf die Umsätze des fraglichen Unternehmens berechnet worden ist.

Folglich schuldet jede Gesellschaft den Gesamtbetrag der Geldbuße gegenüber der Kommission, und die Zahlung, die eine von ihnen bewirkt, hat gegenüber der Kommission für alle befreiende Wirkung. Die Gesellschaften, gegen die eine gesamtschuldnerisch zu zahlende Geldbuße festgesetzt wird und die, ausgenommen gegenteiliger Angaben in der die Geldbuße festsetzenden Entscheidung, gleichermaßen für die Begehung der Zuwiderhandlung verantwortlich sind, müssen grundsätzlich zu gleichen Teilen zur Zahlung der wegen dieser Zuwiderhandlung festgesetzten Geldbuße beitragen. Demzufolge kann die Gesellschaft, die, eventuell nachdem sie von der Kommission auf Zahlung in Anspruch genommen worden ist, den gesamten Betrag der Geldbuße entrichtet, schon auf der Grundlage der Entscheidung der Kommission gegenüber ihren Mitgesamtschuldnern, und zwar gegen jeden in Höhe seines Anteils, Erstattung verlangen. Wenn somit zwar die Entscheidung, die gegenüber mehreren Gesellschaften eine gesamtschuldnerisch zu zahlende Geldbuße festsetzt, es nicht von vornherein erlaubt, die Gesellschaft zu bestimmen, die der Kommission tatsächlich den Betrag der Geldbuße zu zahlen haben wird, so verhindert sie doch nicht, dass jede dieser Gesellschaften zweifelsfrei den Anteil des Geldbußenbetrags, der letztlich auf sie entfällt, kennen und gegen ihre Gesamtschuldner wegen Erstattung der Beträge vorgehen kann, die sie über diesen Anteil hinausgehend womöglich gezahlt hat.

(vgl. Randnrn. 213, 215)

11.    Die gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Geldbußen im Wettbewerbsrecht nimmt keiner der von der Sanktion betroffenen Gesellschaften das Recht, eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung zu erheben, mit der die Kommission ihnen gegenüber eine gesamtschuldnerisch zu zahlende Geldbuße festgesetzt hat.

(vgl. Randnr. 217)

12.    Der Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen, der in jedem Verwaltungsverfahren anwendbar ist, das zu Sanktionen nach dem Wettbewerbsrecht führen kann, verlangt, dass eine Sanktion gegen eine Person nur wegen Taten verhängt wird, die ihr individuell zur Last gelegt werden. Das ist der Fall, wenn gegen zwei Unternehmen wegen der Beteiligung eines Unternehmens an einer Zuwiderhandlung Sanktionen wegen Taten, die ihnen von der Kommission individuell zur Last gelegt worden sind, aufgrund der Verantwortlichkeit verhängt worden sind, die sie als unmittelbare oder mittelbare Leiter dieses Unternehmens trifft.

(vgl. Randnrn. 219-220)

13.    Das Erfordernis einer gerichtlichen Kontrolle ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen in den Mitgliedstaaten ergibt und auch in den Art. 6 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wurde ferner in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erneut bekräftigt.

(vgl. Randnr. 224)

14.    Das Erfordernis einer effektiven gerichtlichen Kontrolle gilt insbesondere für jede Entscheidung der Kommission, mit der ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt und geahndet wird. Nach Art. 17 der Verordnung Nr. 17 und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 hat das Gericht bei Klagen gegen Entscheidungen, mit denen die Kommission eine Geldbuße festgesetzt hat, die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung im Sinne von Art. 229 EG; es kann die festgesetzte Geldbuße aufheben, herabsetzen oder erhöhen.

Bei den auf Art. 230 EG gestützten Klagen ist eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission, mit der natürlichen oder juristischen Personen ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht zur Last gelegt und gegen sie deswegen eine Geldbuße verhängt wird, als effektiver gerichtlicher Rechtsschutz dieser Entscheidung anzusehen. Die Intensität der vom Unionsrichter ausgeübten Kontrolle und somit die Effektivität der Klagen gegen die Entscheidungen, mit denen die Kommission einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln feststellt und eine Geldbuße verhängt, werden noch durch die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung verstärkt, die dem Gericht auf diesem Gebiet verliehen ist. Über eine bloße Kontrolle der Rechtmäßigkeit hinaus, die lediglich eine Abweisung der Nichtigkeitsklage oder die Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts ermöglicht, ermächtigt die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung, über die der Unionsrichter verfügt, ihn zur Änderung der angefochtenen Entscheidung selbst ohne deren Nichtigerklärung unter Berücksichtigung sämtlicher Sachverhaltsumstände, beispielsweise um den Betrag der verhängten Geldbuße zu ändern.

(vgl. Randnrn. 225-227)

15.    Art. 81 EG und entsprechend Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sind dem Bereich der öffentlichen Ordnung zuzurechnende Vorschriften, die für die Erfüllung der der Europäischen Gemeinschaft und dem EWR anvertrauten Aufgaben unerlässlich sind, so dass die Verantwortlichkeit und die Sanktion, die die Gesellschaften treffen, nicht zu deren freier Disposition stehen können.

(vgl. Randnr. 229)

16.    Gemäß Art. 5 EG wird die Europäische Gemeinschaft innerhalb der Grenzen der ihr im Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. Sie verfügt somit nur über begrenzte Ermächtigungen.

Wenn die Kommission ein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung eröffnet, mit der ein Verstoß gegen die Art. 81 EG und 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum festgestellt werden soll, ist allein sie gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 oder Art. 7 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 dafür zuständig, diesen Verstoß festzustellen und den Unternehmen, die vorsätzlich oder fahrlässig hieran beteiligt waren, Geldbußen aufzuerlegen. Die Kommission würde gegen den Grundsatz der begrenzten Ermächtigung verstoßen, wenn sie die Befugnisse, die ihr so durch die vorgenannten Vorschriften übertragen worden sind, auf einen Dritten übertrüge.

Es kann nicht gesagt werden, dass die Kommission in einem bestimmten Fall einem nationalen Richter oder Schiedsrichter einen Teil der ihr übertragenen Befugnisse bei der Feststellung und Ahndung solcher Verstöße überantwortet habe, wenn die Kommission in der in diesem Fall angefochtenen Entscheidung den jeweiligen Haftungsanteil zweier eigenständiger Gesellschaften im Rahmen der Beteiligung des betroffenen Unternehmens an der festgestellten Zuwiderhandlung und mithin ihren jeweiligen Anteil an der Geldbuße bestimmt, für deren Zahlung sie der Kommission gegenüber gesamtschuldnerisch haften.

(vgl. Randnrn. 233-234, 236)

17.    Die Mitteilung der Beschwerdepunkte ist ein vorbereitendes Dokument, dessen tatsächliche und rechtliche Beurteilungen rein vorläufiger Art sind. Aus diesem Grund kann und muss sogar die Kommission Tatsachen berücksichtigen, die sich aus dem Verwaltungsverfahren ergeben, um insbesondere Beschwerdepunkte fallen zu lassen, die sich als unbegründet erweisen. Wenn eine Gesellschaft, gegen die wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht Sanktionen verhängt worden sind, vor Erlass der angefochtenen Entscheidung in der Lage war, sachdienlich ihren Standpunkt dazu geltend zu machen, dass die Kommission in dieser Entscheidung eine zuvor gegen andere Gesellschaften erhobene Rüge fallen lassen würde, um diese Gesellschaften zusammen mit der erstgenannten Gesellschaft gesamtschuldnerisch für die Beteiligung eines einzelnen Unternehmens an einer Zuwiderhandlung haftbar zu machen, sind die Verteidigungsrechte der erstgenannten Gesellschaft durch die Diskrepanz zwischen der Mitteilung der Beschwerdepunkte und der angefochtenen Entscheidung nicht verletzt worden.

(vgl. Randnrn. 248-249, 262)

18.    Die von einem oder mehreren Unternehmen in einem Kartell gespielte Rolle eines Anführers ist bei der Bemessung der Geldbuße zu berücksichtigen, da die Unternehmen, die eine solche Rolle gespielt haben, im Verhältnis zu den anderen Unternehmen eine besondere Verantwortung tragen müssen. Um als Anführer eines Kartells eingestuft werden zu können, muss ein Unternehmen eine wichtige Antriebskraft für das Kartell gewesen sein oder eine besondere, konkrete Verantwortung für dessen Funktionieren getragen haben. Dies ist der Fall, wenn ein Unternehmen dadurch bei der Zuwiderhandlung eine Anführerrolle gespielt hat, dass es die Funktion des „Europa-Sekretariats“ des Kartells wahrgenommen hat, die ihr die Rolle eines Anführers bei der Koordinierung des Kartells und jedenfalls im Rahmen der konkreten Funktionsweise des Kartells zugewiesen hat, insbesondere wenn das „Europa-Sekretariat“ Kontaktstelle für die Mitglieder des Kartells war und ihm eine zentrale Rolle im Rahmen des konkreten Funktionierens des Kartells insoweit zufiel, als es den Informationsaustausch innerhalb des Kartells erleichterte und Informationen, die für dessen Funktionieren wesentlich waren, insbesondere Informationen über bestimmte besonders wichtige Projekte, bündelte, zusammentrug und mit den anderen Kartellmitgliedern austauschte, als es das Sekretariat für die Arbeitstreffen organisierte und versah und als es gelegentlich die Codes änderte, die der Verschleierung dieser Treffen oder dieser Kontakte dienten.

(vgl. Randnrn. 280, 283, 287)

19.    Im Wettbewerbsrecht gebieten es die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit bei einer lang anhaltenden Zuwiderhandlung, während deren verschiedene Unternehmen unter der Leitung unterschiedlicher Gesellschaften nacheinander für einen jeweils genau bestimmten Zeitraum die Rolle als Anführer der Zuwiderhandlung wahrgenommen haben, dass gegen die Gesellschaften, die ein oder mehrere Unternehmen geleitet haben, die unter ihrer Leitung die Rolle eines Anführers des Verstoßes gespielt haben, dann eine unterschiedliche Erhöhung des Grundbetrags ihrer Geldbuße festgesetzt wird, wenn die Zeiträume, in denen das oder die jeweiligen Unternehmen diese Rolle unter ihrer Leitung wahrgenommen haben, erheblich voneinander abweichen. Die Anführerrolle bezieht sich auf die Funktionsweise des Kartells und im Gegensatz zur Rolle als Anstifter des Verstoßes notwendig auf eine bestimmte Dauer. Daher muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass einer Gesellschaft, die eines der am Kartell beteiligten Unternehmen geleitet hat, die Rolle als treibende Kraft für das Funktionieren des Kartells zugerechnet werden kann, die von diesem Unternehmen während höchstens knapp über einem Viertel des Verstoßzeitraums gespielt worden ist, wohingegen einer anderen Gesellschaft, die ein anderes am Kartell beteiligtes Unternehmen geleitet hat, die Rolle als treibende Kraft für das Funktionieren des Kartells zugerechnet werden kann, die von diesem Unternehmen während fast drei Vierteln des Verstoßzeitraums gespielt worden ist.

Folglich hat die Kommission gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem sie Gesellschaften, die über die von ihnen geleiteten Unternehmen die Rolle als Anführer des Kartells wahrgenommen hatten, die gleiche Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße auferlegt hat, obwohl die Zeiträume, in denen das oder die fraglichen Unternehmen unter der Leitung dieser Gesellschaften die Funktion als Anführer des Kartells des Kartells ausgeübt hatten, erheblich voneinander abwichen.

Selbst wenn aber unterstellt würde, dass die Kommission die Kriterien für eine Qualifikation als Anführer des Verstoßes dadurch rechtswidrig angewandt habe, dass sie diese Qualifikation bei einem Unternehmen trotz der bedeutenden Rolle, die dieses im Kartell gespielt hat, nicht bejaht hat, würde ein solcher Rechtsverstoß, der zugunsten eines anderen begangen worden wäre, es doch nicht rechtfertigen, die Rügen der Nichtbeachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung oder des Diskriminierungsverbots als begründet anzusehen.

(vgl. Randnrn. 307-308, 311-312)

20.    Der Unionsrichter kann aufgrund der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung aus Art. 17 der Verordnung Nr. 17 und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme hinaus die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung ersetzen und demgemäß die verhängte Geldbuße aufheben, herabsetzen oder erhöhen, wenn ihm die Frage nach deren Höhe zur Beurteilung vorgelegt worden ist. Bei dieser Beurteilung muss sichergestellt werden, dass der Aufschlag wegen der Rolle des betroffenen Unternehmens als Anführer des Verstoßes auf eine Höhe festgesetzt wird, die seine Abschreckungswirkung gewährleistet.

(vgl. Randnrn. 318-319)

21.    Im Fall der Verhängung von Geldbußen gegen mehrere Gesellschaften wegen der Beteiligung von durch diese Gesellschaften geleiteten Unternehmen an einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsvorschriften weicht die Kommission bei der Bestimmung der jeweiligen Höhe dieser Geldbußen nicht von der in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS festgesetzt werden, genannten Methode ab, geht nicht über den in Art. 15 der Verordnung Nr. 17 und Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegten rechtlichen Sanktionsrahmen hinaus und verletzt nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, indem sie beschließt, für die Beurteilung der Größe und Wirtschaftskraft, die jedes einzelne Unternehmen zur Zeit der Zuwiderhandlung besaß, grundsätzlich auf den vom jeweiligen Unternehmen im letzten vollen Kalenderjahr der Zuwiderhandlung erzielten weltweiten Umsatz mit den beanstandeten Projekten abzustellen. Dies gilt besonders für den Fall, dass die Kommission es angesichts des weltweiten Charakters eines Kartells für angebracht hält, für den Vergleich der jeweiligen Bedeutung der einzelnen Unternehmen denjenigen Anteil am weltweiten Umsatz zugrunde zu legen, den das fragliche Unternehmen im letzten vollen Kalenderjahr seiner Beteiligung an der festgestellten Zuwiderhandlung mit den vom Kartell erfassten Projekten erzielt hat; diese Grundlage ist nämlich geeignet, die Fähigkeit der einzelnen Unternehmen, andere Wirtschaftsteilnehmer im Gebiet des Europäischen Wirtschaftsraums zu schädigen, genau abzubilden und eine Aussage über den jeweiligen Beitrag zur Wirksamkeit des Kartells insgesamt bzw. die Instabilität zu treffen, in die das Kartell ohne Mitwirkung des Unternehmens geraten wäre.

(vgl. Randnrn. 360, 362)