Language of document : ECLI:EU:F:2007:33

Rechtssache T752/20

(auszugsweise Veröffentlichung)

International Management Group (IMG)

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 28. Juni 2023

„Außervertragliche Haftung – Untersuchungen des OLAF – An die Presse durchgesickerte Informationen – Materieller und immaterieller Schaden – Kausalzusammenhang – Zurechenbarkeit von durchgesickerten Informationen – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Vertraulichkeit von Rechtsgutachten“

1.      Schadensersatzklage – Zulässigkeit – Abweisung einer Klage als unbegründet, ohne über die Zulässigkeit zu entscheiden – Ermessen der Unionsgerichte

(Art. 268 und Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 23, 24)

2.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Kumulative Voraussetzungen – Nichtvorliegen einer der Voraussetzungen – Abweisung der Schadensersatzklage in vollem Umfang

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 25, 26)

3.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Kausalzusammenhang – Begriff – Beweislast

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 33)

4.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Dem Kläger obliegende Beweislast – Grenzen – Schaden mit mehreren möglichen Ursachen – Organ, das am besten in der Lage ist, die Ursache des Schadens festzustellen

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 48, 49)

5.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Unterlassungen der Unionsorgane – Fehlende Stellungnahme der Kommission in der Art, dass sie öffentlich das Durchsickern des Berichts des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) verurteilt, die Verbreitung falscher Informationen beendet sowie falsche Informationen berichtigt hätte – Fürsorgepflicht – Unanwendbarkeit

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 71-73)

6.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Unterlassungen der Unionsorgane – Fehlende Stellungnahme der Kommission in der Art, dass sie öffentlich das Durchsickern des Berichts des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) verurteilt, die Verbreitung falscher Informationen beendet sowie falsche Informationen berichtigt hätte – Verletzung der Sorgfaltspflicht – Erforderlichkeit eines Verstoßes gegen eine Rechtspflicht zum Tätigwerden – Fehlen – Offenkundige und erhebliche Überschreitung der Grenzen ihres Wertungsspielraums durch die Kommission – Fehlen

(Art. 340 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates)

(vgl. Rn. 76-80, 83, 84, 87-101)

7.      Gerichtliches Verfahren – Antrag, interne Dokumente eines Organs aus der Akte zu entfernen – Gutachten des Juristischen Dienstes eines Organs – Überwiegendes öffentliches Interesse der Transparenz, das die Verbreitung von Dokumenten rechtfertigt – Fehlen – Juristisches Gutachten, das keinen Bezug zu einem Gesetzgebungsverfahren hat und den eigenen Interessen des Klägers dienen kann – Entfernung aus den Akten

(Art. 1 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 3 EUV; Art. 15 Abs. 1 und Art. 298 Abs. 1 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates)

(vgl. Rn. 116-123)

Zusammenfassung

Die International Management Group (IMG) wurde nach ihren Statuten als internationale Organisation errichtet, um den am Wiederaufbau Bosnien-Herzegowinas beteiligten Staaten zu diesem Zweck eine spezialisierte Stelle zur Verfügung stellen zu können. Im Rahmen ihrer Tätigkeiten, die sich in der Zwischenzeit ausgeweitet haben, schloss sie mehrere Vereinbarungen mit der Europäischen Kommission, insbesondere in Anwendung der als „indirekte oder gemeinsame Mittelverwaltung“ bezeichneten Methode zur Ausführung des Haushaltsplans der Europäischen Union.

Nach Beendigung seiner Untersuchung zum rechtlichen Status der Klägerin erstellte das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) am 9. Dezember 2014 einen Abschlussbericht, in dem es feststellte, dass die Klägerin keine „internationale Organisation“ im Sinne der Finanzregelung der Union sei und möglicherweise nicht einmal eine eigene Rechtspersönlichkeit besitze.

Kurz nach seiner Erstellung wurde der Bericht des OLAF an die gesetzlich vorgesehenen Empfänger, nämlich an die zuständigen nationalen Behörden sowie an die Kommission übermittelt. In der Folge sickerte sein Inhalt an die Presse durch. Am 13. Februar 2015 wurden Informationen über den Inhalt dieses Berichts in der Zeitschrift Der Spiegel veröffentlicht, und am 11. Dezember 2015 erfolgte die Veröffentlichung des Berichts auf der Internetseite der Zeitung New Europe. Die von der Kommission durchgeführten Untersuchungen führten nicht zur Identifizierung des Ursprungs des Lecks.

Die Klägerin hat Klage auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens erhoben, der ihr im Anschluss an das Durchsickern des Berichts des OLAF an die Presse durch die Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Kommission und des OLAF entstanden sein soll.

Das Gericht weist die Klage ab und präzisiert dabei die Voraussetzungen für den Nachweis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, aufgrund eines Unterlassens eines Unionsorgans. Ferner äußert es sich zum Umfang der Sorgfaltspflicht in diesem Kontext, insbesondere im Hinblick auf das erforderliche weitere Vorgehen des für die Sicherstellung der Vertraulichkeit verantwortlichen Unionsorgans nach der Verbreitung eines Dokuments in der Presse.

Würdigung durch das Gericht

In seinem Urteil stellt das Gericht fest, dass die von der Klägerin geltend gemachte Rechtswidrigkeit, die auf eine Verletzung der Fürsorge- und der Sorgfaltspflicht der Kommission gestützt wird und in einem Unterlassen der Kommission bestehen soll – nämlich dahin gehend, dass diese das Durchsickern des OLAF‑Berichts nicht öffentlich verurteilt, die durch das Durchsickern herbeigeführte Verbreitung falscher Informationen nicht beendet sowie diese Informationen nicht berichtigt habe –, zu verneinen ist.

Im Hinblick auf die Fürsorgepflicht stellt das Gericht fest, dass diese speziell die Pflichten der Unionsorgane gegenüber ihren Beamten und sonstigen Bediensteten betrifft, und zwar insbesondere dahin gehend, dass sie die Berücksichtigung derer individuellen Interessen beinhaltet. Der vorliegende Fall betrifft jedoch nicht die Beziehungen zwischen der Unionsverwaltung und einem ihrer Beamten oder sonstigen Bediensteten. Folglich ist die Fürsorgepflicht darauf nicht anwendbar.

Bezüglich der Verletzung der Sorgfaltspflicht weist das Gericht zunächst zum einen darauf hin, dass die außervertragliche Haftung der Union nur ausgelöst werden kann, wenn die Person, die einen Schaden erlitten zu haben glaubt, den Nachweis erbringt, dass ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm vorliegt, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Insbesondere hängt das Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes von dem Wertungsspielraum des Organs, der Einrichtung oder der sonstigen Stelle der Union, dem oder der der Verstoß angelastet wird, sowie davon ab, ob die Grenzen dieses Spielraums in Anbetracht u. a. des Grades an Klarheit und Präzision der betreffenden Norm, etwaiger bei ihrer Auslegung oder Anwendung auftretender Schwierigkeiten sowie der Komplexität des zu regelnden Sachverhalts in offenkundiger und schwerwiegender Weise überschritten wurden. Zum anderen können Unterlassungen der Unionsorgane nur dann die Haftung der Union begründen, wenn die Organe gegen eine Rechtspflicht zum Tätigwerden verstoßen haben, die sich aus einer Unionsvorschrift ergibt.

Daraus schließt das Gericht, dass die Prüfung der Frage, ob ein Organ aufgrund eines Unterlassens einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm begangen hat, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, die Feststellung erfordert, ob drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich erstens das Bestehen einer Rechtspflicht zum Tätigwerden, zweitens das Bestehen eines Wertungsspielraums des betreffenden Organs bzw. der betreffenden Einrichtung oder sonstigen Stelle der Union und drittens ein offenkundiger und qualifizierter Verstoß des Organs gegen die Grenzen seines Wertungsspielraums.

Das Gericht stellt fest, dass die Klägerin im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen hat, dass die Kommission zum Tätigwerden verpflichtet war. In diesem Zusammenhang führt es aus, dass die von der Klägerin geltend gemachte Verletzung der Sorgfaltspflicht eng mit der Verordnung Nr. 883/2013(1) verbunden ist und dass die Kommission aufgrund dieser Verordnung verpflichtet ist, die Wahrung der Vertraulichkeit der Untersuchungen des OLAF sicherzustellen. Trotz dieser Verpflichtung kann die Sorgfaltspflicht, der die Kommission unterliegt, jedoch angesichts dessen, dass sie ihre Vertraulichkeitspflicht nicht verletzt hat und für das Durchsickern des OLAF‑Berichts an die Presse nicht verantwortlich gemacht werden kann, für sie keine Handlungspflicht begründen, die darin bestünde, das Durchsickern von Informationen über eine solche Untersuchung an die Presse zu verurteilen und sich von den veröffentlichten Informationen zu distanzieren. Die Sorgfaltspflicht hat nicht den Umfang, den ihr die Klägerin zuschreibt. Tatsächlich ist es das Durchsickern des Berichts an die Presse – dessen Zurechnung an die Kommission jedoch nicht nachgewiesen worden ist –, das eine Verletzung der Vertraulichkeitspflicht darstellt, nicht jedoch das Unterlassen, das die Klägerin der Kommission vorwirft.

Das Gericht fügt hinzu, dass, selbst wenn aufgrund ihrer Sorgfaltspflicht eine Rechtspflicht der Kommission zum Tätigwerden bestanden hätte, nicht davon ausgegangen werden könnte, dass die von der Klägerin geltend gemachte Verletzung dieser Pflicht einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm darstellt, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen.

Insoweit führt das Gericht aus, dass unter der Annahme des Bestehens einer solchen Verpflichtung die Sorgfaltspflicht dahin auszulegen wäre, dass es im Fall des Durchsickerns eines vertraulichen Dokuments, das nicht nachweislich von dem betroffenen Organ verursacht wurde, diesem Organ obliegen würde, den Schaden, der sich aus der Verletzung der Vertraulichkeit ergeben könnte, nicht zu vergrößern.

Eine solche Pflicht zum Tätigwerden, um den Schaden, der durch einen der Kommission nicht zuzurechnenden Verstoß gegen die Vertraulichkeit entsteht, nicht zu vergrößern, folgt aber gerade nicht aus der Verordnung Nr. 883/2013. Indem die Verordnung vorsieht, dass die betroffenen Organe die Wahrung der Vertraulichkeit bei den Untersuchungen des OLAF sicherstellen, verpflichtet sie diese Organe nämlich dazu, zu gewährleisten, dass der Inhalt der Untersuchungen des OLAF vertraulich bleibt. Demgegenüber erlegt sie ihnen für den Fall, dass die Vertraulichkeit nicht gewahrt worden ist und die Verbreitung ihren Ursprung nicht innerhalb des betroffenen Organs hat, keine Verpflichtungen auf, das Durchsickern von Informationen zu verurteilen, die Verbreitung der betreffenden Informationen zu beenden oder etwaige falsche Informationen zu berichtigen. Derartige Verpflichtungen können nicht als Teil der Verpflichtung, die Wahrung der Vertraulichkeit der Untersuchungen des OLAF sicherzustellen, angesehen werden. Zum einen ist nämlich, nachdem die Vertraulichkeit bereits verletzt worden ist, die der Kommission obliegende Verpflichtung, die Wahrung der Vertraulichkeit sicherzustellen, gegenstandslos geworden. Zum anderen geht erstens das etwaige Erfordernis, das Durchsickern zu verurteilen, über die bloße Verpflichtung zur Wahrung der Vertraulichkeit hinaus, zweitens ist die Kommission in einem solchen Fall nicht in der Lage, die sich aus einem solchen Durchsickern ergebende Verbreitung des OLAF‑Berichts in der Presse zu beenden, und drittens ist, sofern einige der verbreiteten Informationen falsch sein sollten, ihre Berichtigung nicht geeignet, ihren vertraulichen Charakter wiederherzustellen, der endgültig weggefallen ist.


1      Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. September 2013 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (Euratom) Nr. 1074/1999 des Rates (ABl. 2013, L 248, S. 1).