Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
TAMARA ĆAPETA
vom 25. Mai 2023(1)
Rechtssache C‑175/22
BK,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura
(Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad [Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Art. 6 Abs. 4 – Recht auf Unterrichtung über die Neubeurteilung einer Straftat durch ein nationales Gericht – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf ein faires Verfahren – Richterliche Unparteilichkeit“
I. Einleitung
1. Jüngsten Berichten zufolge werden in der Europäischen Union jedes Jahr über neun Millionen Personen einem Strafverfahren unterzogen.(2) Zu diesem Zweck hat die Europäische Union mehrere Rechtsinstrumente verabschiedet, in denen bestimmte gemeinsame Verfahrensrechte festgelegt sind, die in Strafverfahren gelten.
2. Eines dieser Instrumente ist die Richtlinie 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren(3), mit der Bestimmungen über das Recht von Personen auf Belehrung über ihre Verfahrensrechte und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt werden.
3. Die vorliegende Rechtssache geht auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) zurück, das die Auslegung der Richtlinie 2012/13/EU in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) betrifft.
4. In dieser Rechtssache geht es im Wesentlichen um die Frage, ob die Richtlinie 2012/13 einer nationalen Regelung entgegensteht, die es einem Gericht erlaubt, einen Angeklagten einer Straftat für schuldig zu befinden, die es rechtlich neu beurteilt hat, ohne diese Person vor der Verkündung seines Urteils darüber zu unterrichten. Der Fall wirft auch die Frage auf, ob es gegen das in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerte Recht auf ein unparteiisches Gericht verstoßen könnte, wenn die Unterrichtung über die Neubeurteilung einer Straftat durch das Gericht erfolgt.
II. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
5. Die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) erhob beim Spezialisierten Strafgericht, dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache, Anklage gegen den Beschuldigten BK.
6. Sie warf BK vor, in seiner Eigenschaft als polizeilicher Ermittlungsbeamter den Straftatbestand der Bestechlichkeit erfüllt zu haben. Nach dem bulgarischen Strafgesetzbuch(4) wird diese Straftat mit einer Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jahren, einer Geldstrafe von 25 000 Leva (BGN) (ca. 12 500 Euro), der Einziehung der Hälfte des Vermögens und dem Verlust von Rechten belegt.
7. Die Verteidigung von BK erhob Einwände gegen diese rechtliche Beurteilung und machte geltend, dass die fraglichen Handlungen nicht in den Aufgabenbereich von BK als polizeilicher Ermittlungsbeamter fielen und vielmehr den Straftatbestand des Betrugs erfüllten. Nach dem bulgarischen Strafgesetzbuch(5) wird diese Straftat mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet.
8. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es sich bei seiner Entscheidung in der Sache grundsätzlich auf den von der Staatsanwaltschaft formulierten Tatvorwurf stützen müsse. Sollte es der Ansicht sein, dass die Merkmale des vorgeworfenen Straftatbestands nicht erfüllt seien, müsse es einen Freispruch erlassen. Halte es jedoch den von der Staatsanwaltschaft behaupteten Sachverhalt für zutreffend, müsse es prüfen, ob sich daraus ein anderer Straftatbestand mit gleichem oder geringerem Strafmaß ergebe.
9. In einem solchen Fall seien die einschlägigen bulgarischen Rechtsvorschriften(6) in der Rechtsprechung dahin gehend ausgelegt worden, dass ein Gericht die rechtliche Beurteilung einer Straftat von sich aus ändern könne, ohne den Angeklagten vorher zu informieren. Dies sei jedoch nur dann der Fall, wenn sich der Tatvorwurf in tatsächlicher Hinsicht nicht wesentlich ändere und die neue rechtliche Beurteilung nicht zur Verhängung einer schwereren Strafe führe.(7) In der Praxis erfahre der Angeklagte von der neuen rechtlichen Beurteilung erst bei Verkündung des Urteils des Gerichts.
10. Das vorlegende Gericht ist daher der Ansicht, dass es nach nationalem Recht die rechtliche Beurteilung der BK zur Last gelegten Straftat ändern und somit einen Betrug feststellen könne, wie ihn die Verteidigung von BK behaupte. Es erwägt auch eine weitere mögliche Straftat, nämlich die Ausübung unerlaubter Einflussnahme, die nach dem bulgarischen Strafgesetzbuch(8) mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren oder einer Geldstrafe von bis zu 5 000 BGN (ca. 2 500 Euro) geahndet werden kann.
11. Das vorlegende Gericht bezweifelt, dass die nationale Regelung, wie sie in der Rechtsprechung ausgelegt wird, mit Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 vereinbar ist, da der Angeklagte auf diese Weise keine Möglichkeit habe, sich gegen die neue rechtliche Beurteilung zu verteidigen, und von ihr erst bei der Verurteilung erfahre. Das vorlegende Gericht ist sich jedoch nicht sicher, ob der Umstand, dass die neue rechtliche Beurteilung keine schwerere Strafe nach sich zieht, diese nationale Regelung rechtfertigen könne.
12. Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass es, falls der Gerichtshof feststellen sollte, dass die Richtlinie 2012/13 dem nationalen Recht entgegenstehe, verpflichtet sei, BK über die Möglichkeit einer Verurteilung auf der Grundlage einer anderen rechtlichen Beurteilung als der von der Staatsanwaltschaft angegebenen zu unterrichten und ihm Gelegenheit zu geben, seine Verteidigung vorzubereiten. Das vorlegende Gericht befürchtet, in einem solchen Fall seine Neutralität zu verlieren, wenn es eine bestimmte rechtliche Beurteilung für denkbar halte und den Angeklagten dann auf der Grundlage dieser Beurteilung verurteile, selbst wenn es ihm zuvor Gelegenheit gegeben habe, sich darauf vorzubereiten. Unter diesen Umständen fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Tatsache, dass die Unterrichtung über die Neubeurteilung der Straftat durch das Gericht und nicht die Staatsanwaltschaft erfolge, die durch Art. 47 Abs. 2 der Charta gewährleistete Unparteilichkeit des Gerichts in Frage stellen könnte.
13. Vor diesem Hintergrund hat das Spezialisierte Strafgericht beschlossen, das Ausgangsverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 einer Auslegung nationaler Rechtsvorschriften – Art. 301 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit Art. 287 Abs. 1 NPK – durch die Rechtsprechung, wonach das Gericht in seinem Urteil eine von der Anklageschrift abweichende rechtliche Beurteilung der Tat vornehmen darf, sofern keine Einordnung als schwerer bestrafte Tat erfolgt, aus dem Grund entgegen, dass der Angeklagte vor der Urteilsverkündung nicht ordnungsgemäß über die neue, andere rechtliche Beurteilung unterrichtet wurde und sich nicht dagegen verteidigen konnte?
Falls die Frage bejaht wird: Untersagt Art. 47 Abs. 2 der Charta dem Gericht, den Angeklagten darüber zu unterrichten, dass es seine Entscheidung in der Sache selbst auf der Grundlage einer anderen rechtlichen Beurteilung der Tat erlassen könnte, und ihm außerdem die Möglichkeit zu geben, seine Verteidigung dazu vorzubereiten, weil die Initiative für diese andere rechtliche Beurteilung nicht von der Staatsanwaltschaft ausgegangen ist?
14. Mit Schreiben vom 5. August 2022 hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mitgeteilt, dass das Spezialisierte Strafgericht aufgrund einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung aufgelöst worden sei und dass bestimmte bei ihm anhängige Strafsachen, darunter auch die vorliegende Rechtssache, ab diesem Zeitpunkt an das Stadtgericht Sofia verwiesen worden seien.
15. Die Tschechische Republik und die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht. Am 2. März 2023 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der diese Verfahrensbeteiligten mündliche Ausführungen gemacht haben.
III. Rechtliche Würdigung
16. Die beiden dem Gerichtshof vorgelegten Fragen ergeben sich aus den Besonderheiten des bulgarischen Strafprozessrechts, die die Möglichkeit betreffen, dass ein Gericht eine Straftat unter bestimmten Umständen neu beurteilt, ohne den Angeklagten darüber zu unterrichten. In der Praxis erfährt dieser von der neuen rechtlichen Beurteilung der Straftat erst bei der Verkündung des Urteils und hat somit keine Möglichkeit, sich im Strafverfahren gegen die neue rechtliche Beurteilung zu verteidigen. Eine solche Neubeurteilung ist jedoch nur dann zulässig, wenn sich der Tatvorwurf in tatsächlicher Hinsicht nicht wesentlich ändert und die neue rechtliche Beurteilung keine schwerere Strafe nach sich zieht. Diese Besonderheiten ergeben sich aus der gerichtlichen Auslegung der einschlägigen bulgarischen Bestimmungen.
17. Die vom vorlegenden Gericht geäußerten Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit eines solchen nationalen Gesetzes mit dem Unionsrecht erfordern die Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2012/13 und des Grundrechts auf ein unparteiisches Gericht, wie es durch Art. 47 der Charta gewährleistet ist. Ich werde beide Fragen nacheinander behandeln.
A. Die erste Frage
18. Die erste Frage bezieht sich auf das Recht des Angeklagten, über eine Neubeurteilung der Straftat unterrichtet zu werden. Diese Frage erfordert meines Erachtens die Auslegung von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13, auch wenn das vorlegende Gericht in seiner Frage auch Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie anführt(9).
19. Ich schlage daher vor, dass der Gerichtshof die erste Frage dahin umformuliert, dass im Wesentlichen gefragt wird, ob Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 einer nationalen Regelung entgegensteht, die es dem Gericht erlaubt, den Angeklagten erst mit der Verkündung des Urteils darüber zu unterrichten, dass es die Straftat neu beurteilt hat.
20. Diese Frage impliziert, dass das Gericht die rechtliche Beurteilung der Straftat von sich aus ändern kann. Ich möchte zunächst klarstellen, dass der Gerichtshof im vorliegenden Fall nicht aufgefordert ist, darüber zu entscheiden, ob eine solche Befugnis des nationalen Gerichts mit dem Unionsrecht vereinbar ist(10). Die erste Frage betrifft lediglich den Zeitpunkt, zu dem die Änderung dem Angeklagten mitgeteilt werden muss.
21. Da die Antwort auf diese Frage die Auslegung der Richtlinie 2012/13 erfordert, möchte ich zunächst einige Worte zu dieser Richtlinie und ihrem Art. 6 sagen.
1. Die Richtlinie 2012/13 und ihr Art. 6
22. Die Richtlinie 2012/13 ist eine der sechs "Verfahrensrechte"- oder "Fahrplan"-Richtlinien, die auf die Entschließung des Rates von 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren(11) zurückgehen. Diese Entschließung wurde im Rahmen des Stockholmer Programms des Europäischen Rates für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts(12) angenommen. Diese Richtlinien stützen sich auf die Zuständigkeit der Europäischen Union nach Art. 82 Abs. 2 Buchst. b AEUV für den Erlass von Mindestvorschriften über die Rechte des Einzelnen in Strafverfahren.(13)
23. Die Hauptbegründung für solche gemeinsamen Vorschriften ist die Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen.(14) Dies kommt in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2012/13 sehr deutlich zum Ausdruck.(15)
24. Mit der Richtlinie 2012/13 werden gemeinsame Mindestvorschriften über das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren festgelegt.(16) Das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren ist ein grundlegender Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren,(17) da das Verfahren nur fair sein kann, wenn die Beteiligten ihre Rechte kennen.(18)
25. Art. 6 der Richtlinie 2012/13, der für den vorliegenden Fall relevant ist, trägt zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens bei, indem er Bestimmungen über einen Aspekt des Rechts auf Unterrichtung enthält.(19) Er betrifft das Recht von Verdächtigen oder beschuldigten Personen, zu wissen, was ihnen vorgeworfen wird. Er lautet wie folgt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden.
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.
(4) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“
26. Im 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 heißt es, dass Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden sollten, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind.
27. Im 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 heißt es darüber hinaus, dass, wenn sich im Laufe des Strafverfahrens die Einzelheiten des Tatvorwurfs so weit ändern, dass die Stellung der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen in beträchtlichem Umfang betroffen ist, ihnen dies mitgeteilt werden sollte, wenn dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, und zwar so rechtzeitig, dass eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.
2. Erwägungen zur ersten Frage
28. Verstößt es gegen Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13, wenn der Angeklagte erst dann davon unterrichtet wird, dass sich der gegen ihn erhobene Tatvorwurf geändert hat, wenn das Urteil verkündet wird, mit dem er wegen dieses Vorwurfs verurteilt wird?
29. Die offensichtliche Antwort lautet "ja", da dem Angeklagten nicht die Möglichkeit gegeben wurde, sich gegen den Tatvorwurf zu verteidigen, dessentwegen er verurteilt wurde. Ist die Antwort jedoch ebenso eindeutig, wenn der neue und der ursprüngliche Tatvorwurf die gleichen Tatbestandsmerkmale aufweisen? Kann man davon ausgehen, dass sich der Angeklagte in einer solchen Situation nicht hätte verteidigen können?
30. Die Tschechische Republik ist der Ansicht, dass Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 einer nationalen Bestimmung wie der in Rede stehenden nicht entgegenstehe, wenn die neue rechtliche Beurteilung weder zu einer schwereren Strafe führe noch überraschend sei. Sie stützt sich dabei auf den Wortlaut dieser Bestimmung, wonach Verdächtige oder beschuldigte Personen nur dann über Änderungen informiert werden müssen, "wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten". In der mündlichen Verhandlung hat die Tschechische Republik als Beispiel die Straftatbestände des Diebstahls und des Raubes angeführt. Wie die Tschechische Republik erläutert hat, wird Diebstahl in der Regel als die Aneignung fremden Eigentums definiert, während Raub im Allgemeinen Diebstahl unter Anwendung von Gewalt bedeutet. Wenn die Straftat rechtlich zunächst als Raub eingestuft werde und dies dann in Diebstahl geändert werde, sei das Gericht nicht verpflichtet, den Angeklagten hierüber zu unterrichten, da Raub alle Tatbestandsmerkmale von Diebstahl umfasse, so dass bereits die Möglichkeit bestanden habe, eine Verteidigung vorzubringen. Werde die Straftat jedoch rechtlich zunächst als Diebstahl eingestuft, so dürfe dies nicht in Raub geändert werden, ohne dass der Angeklagte davon unterrichtet werde und ihm die Möglichkeit gegeben werde, sich zu verteidigen, da Diebstahl nicht alle Tatbestandsmerkmale von Raub enthalte.
31. Die Kommission macht geltend, dass ein nationales Gesetz wie das in Rede stehende durch Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 ausgeschlossen sei. Sie ist jedoch der Ansicht, dass es in einer Situation, in der die Tatbestandsmerkmale der neu beurteilten Straftat bereits in der ursprünglichen Straftat enthalten waren, nicht erforderlich sei, den Angeklagten vor der Verkündung des Urteils hierüber zu unterrichten. In einem solchen Fall brauche der Angeklagte seine Verteidigungsstrategie nicht zu ändern. Dieser Fall sei aber vorliegend nicht gegeben.
32. Sowohl die Tschechische Republik als auch die Kommission berufen sich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR). Sie führen aus, dass die Feststellung eines Verstoßes gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) von der Wahrung der Fairness des Verfahrens abhänge, weshalb zu berücksichtigen sei, ob der Angeklagte im Laufe des Verfahrens Kenntnis von der Möglichkeit einer neuen rechtlichen Beurteilung erlangt habe. In diesem Sinne ist auch die Auslegung von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 und insbesondere dessen Formulierung "erforderlich …, um ein faires Verfahren zu gewährleisten" zu verstehen.
33. Daher muss im Folgenden zunächst die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs (a) und des EGMR (b) geprüft werden.
a) Einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs
34. Das Urteil in der Rechtssache Kolev u. a.(20) betraf in erster Linie die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13. Der Gerichtshof (Große Kammer) stellte fest, dass der Zweck von Art. 6 der Richtlinie 2012/13, die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte zu ermöglichen und die Fairness des Verfahrens zu gewährleisten, erfordert, dass die beschuldigte Person zu einem Zeitpunkt, der es ihr ermöglicht, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf erhält. Von Bedeutung für den vorliegenden Fall ist, dass der Gerichtshof ferner feststellte, dass ein solches Erfordernis nicht die Möglichkeit ausschließt, dass die der Verteidigung übermittelten Informationen zum Tatvorwurf später abgeändert werden, insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Würdigung des zur Last gelegten Sachverhalts, wie in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 vorgesehen. Der Gerichtshof betonte jedoch, dass solche Änderungen der beschuldigten Person oder ihrem Rechtsanwalt so rechtzeitig mitgeteilt werden müssen, dass diese noch die Möglichkeit haben, wirksam zu reagieren, bevor das Gericht in die abschließende Beratung eintritt(21).
35. In seinem Urteil in der Rechtssache Moro(22) wiederholte der Gerichtshof die vorgenannten Feststellungen und entschied, dass sich die Unterrichtung über Änderungen der Anklage nicht nur auf Änderungen des Sachverhalts bezieht, dessen die Person beschuldigt wird, sondern auch auf eine Änderung der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhalts. Dies ist nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 erforderlich, damit die beschuldigte Person ihre Verteidigungsrechte tatsächlich und effektiv ausüben kann.(23)
36. Folglich scheint sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig zu ergeben, dass Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 im Fall einer Neubeurteilung der Straftat verlangt, dass die beschuldigte Person von dieser Neubeurteilung zu einem Zeitpunkt unterrichtet wird, zu dem sie die Möglichkeit hat, auf diese neue Anklage zu reagieren, und der vor der Phase der abschließenden Beratung durch das Gericht liegen muss.
37. Diese Rechtsprechung stützt daher die Auffassung, dass die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende nationale Regelung gegen Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 verstößt. Allerdings wurde der Gerichtshof in keiner dieser früheren Rechtssachen gebeten, sich zu der Frage zu äußern, ob die beschuldigte Person über die Neubeurteilung der Straftat unterrichtet werden muss, wenn die neue rechtliche Beurteilung auf denselben Tatbestandsmerkmalen beruht wie die ursprüngliche rechtliche Beurteilung. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die vorangegangene Rechtsprechung eine abschließende Antwort für den vorliegenden Fall enthält.
b) Einschlägige Rechtsprechung des EGMR
38. Wie ich dargelegt habe (siehe Nr. 32 dieser Schlussanträge), berufen sich sowohl die Tschechische Republik als auch die Kommission auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK, wonach die betroffene Person das Recht hat, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache und in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden.
39. Zunächst einmal hat der EGMR festgestellt, dass Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK der Person das Recht gibt, nicht nur über den Grund der Beschuldigung (d. h. die Handlungen, die sie begangen haben soll und auf die sich die Beschuldigung stützt), sondern auch über die rechtliche Würdigung dieser Handlungen informiert zu werden. Dies wird als wichtig angesehen, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.(24) Folglich wird die Reichweite von Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK im Licht des allgemeineren Rechts auf ein faires Verfahren, das in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert wird, und des Rechts der Person auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK geprüft.(25)
40. Was die Änderungen des Tatvorwurfs betrifft, so muss der Angeklagte ordnungsgemäß und vollständig darüber unterrichtet werden und muss auch über die Zeit und die Möglichkeiten verfügen, die erforderlich sind, um darauf zu reagieren und seine Verteidigung auf der Grundlage neuer Informationen oder Anschuldigungen zu organisieren.(26) Wie der EGMR in ständiger Rechtsprechung festgestellt hat, müssen die Gerichte, wenn sie – sofern ein solches Recht im innerstaatlichen Recht anerkannt ist – die Möglichkeit haben, den Sachverhalt, mit dem sie ordnungsgemäß befasst werden, neu zu beurteilen, sicherstellen, dass der Angeklagte die Möglichkeit hatte, seine Verteidigungsrechte in dieser Frage tatsächlich und effektiv auszuüben. Dies setzt voraus, dass der Angeklagte ausführlich und rechtzeitig nicht nur über die wesentlichen Tatsachen, auf die sich der Tatvorwurf stützt, sondern auch über die rechtliche Beurteilung dieser Tatsachen informiert wird.(27)
41. Auf Grundlage dieser Erwägungen hat der EGMR festgestellt, dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EMRK in Fällen vorlag, in denen die Straftat von einem Gericht neu beurteilt wurde und der Angeklagte keine Gelegenheit hatte, sich gegen die neue rechtliche Beurteilung praktisch, effektiv und rechtzeitig zu verteidigen(28). Der EGMR hat insbesondere hervorgehoben, dass es zu spät ist, wenn die Unterrichtung zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die Person keine Möglichkeit mehr hat, ihre Verteidigung gegen den neuen Tatvorwurf vorzubereiten, und sie erst durch das Urteil des Gerichts von der Neubeurteilung erfährt(29).
42. Die Tatsache, dass die Neubeurteilung die Anwendung einer milderen Strafe betrifft, wurde vom EGMR nicht als relevant angesehen(30).
43. In der Rechtssache Pélissier und Sassi/Frankreich(31) z. B. sah der EGMR (Große Kammer) es als Verstoß gegen die EMRK an, dass ein Gericht den Straftatbestand des strafbaren Konkurses in den der Beihilfe zum strafbaren Konkurs umstufte, ohne dass die Angeklagten über diesen Tatvorwurf informiert wurden. In diesem Zusammenhang prüfte der EGMR, ob diese Personen von der Möglichkeit hätten wissen müssen, dass sie wegen des neuen Tatvorwurfs verurteilt werden könnten. In Anbetracht der Unterschiede bei den zu beweisenden Tatbestandsmerkmalen stellte der EGMR fest, dass dieser neue Vorwurf der Beihilfe nicht zu den Tatbestandsmerkmalen des ursprünglichen Tatvorwurfs gehörte, die den Angeklagten seit Beginn des Verfahrens bekannt waren. Es sei zwar nicht Sache des EGMR, die Erfolgsaussichten der Verteidigung zu beurteilen, auf die sich diese Personen hätten berufen können, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich zu dem neuen Tatvorwurf zu äußern, doch sei es plausibel, zu argumentieren, dass die Verteidigung anders ausgefallen wäre. Folglich hätte das Gericht, als es von einem ihm nach nationalem Recht eingeräumten Recht Gebrauch gemacht habe, den Tatvorwurf neu zu beurteilen, den Angeklagten die Möglichkeit geben müssen, ihre Verteidigung gegen den neuen Tatvorwurf vorzubereiten. Von der Neubeurteilung erst durch das Urteil zu erfahren, sei zu spät.
44. In ähnlicher Weise stellte der EGMR in der Rechtssache Penev/Bulgarien einen Verstoß gegen die EMRK fest.(32) Der EGMR betonte, dass der Angeklagte nicht wissen konnte, dass das Gericht ein Urteil möglicherweise auf Grundlage einer neuen rechtlichen Beurteilung fällen würde, dass die Tatbestandsmerkmale der alten und der neuen Straftat unterschiedlich waren und dass die Tatbestandsmerkmale der neuen Straftat im Verfahren nie erörtert worden waren, da die Person erst durch das Urteil des Gerichts von der neuen rechtlichen Beurteilung erfuhr. Der EGMR wies auch Argumente zurück, wonach die rechtliche Beurteilung der Straftat von geringer Bedeutung sei, solange die alternative Verurteilung auf demselben Sachverhalt beruhe, und bekräftigte, dass die EMRK vorschreibt, dass der Angeklagte nicht nur über die Handlungen, die er begangen haben soll, sondern auch über deren rechtliche Beurteilung eingehend unterrichtet werden muss.
45. Die Rechtssache D.M.T. und D.K.I./Bulgarien(33) scheint der vorliegenden Rechtssache am ähnlichsten zu sein, da es um die Neubeurteilung einer Straftat der Bestechlichkeit als Betrug ging. Der EGMR stellte einen Verstoß gegen die EMRK fest, da der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens über die geänderte Beurteilung unterrichtet wurde; erst durch das Urteil des Gerichts erfuhr er von dem neuen Tatvorwurf. Nach Ansicht des EGMR konnte der Angeklagte eine solche Neubeurteilung nicht vorhersehen, da die Tatbestände der beiden Straftaten unterschiedlich waren, und daher war es plausibel, dass die Verteidigung anders ausgefallen wäre.
46. Ich halte es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass es in diesen Fällen Unterschiede bei den Tatbestandsmerkmalen gab, die für die ursprüngliche Straftat und die neu beurteilte Straftat nachzuweisen waren.
47. Im Gegensatz dazu hat der EGMR keinen Verstoß gegen die EMRK in Situationen festgestellt, in denen der Angeklagte die Möglichkeit hatte, auf die neue rechtliche Beurteilung der Straftat zu reagieren(34). Dies war beispielsweise der Fall, wenn der Angeklagte während der Prüfung der Rechtssache durch das zuständige Gericht über die Möglichkeit einer Änderung des Tatvorwurfs unterrichtet wurde und die Möglichkeit hatte, vor der Urteilsverkündung Argumente gegen den neuen Tatvorwurf vorzubringen(35). Diese Situation unterscheidet sich jedoch vom vorliegenden Fall, in dem der Angeklagte erst nach der Urteilsverkündung von der Neubeurteilung der Straftat erfahren würde.
48. In einigen Fällen stellte der EGMR keinen Verstoß gegen die EMRK fest, wenn davon ausgegangen wurde, dass der Angeklagte die wesentlichen Punkte der neuen rechtlichen Beurteilung kannte und in der Lage war, sich im Verfahren gegen den Tatvorwurf zu verteidigen.
49. In der Rechtssache Salvador Torres/Spanien(36) sah der EGMR keine Verletzung des Rechts des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK darin, dass die Straftat von einfacher Unterschlagung in einfache Unterschlagung in dem besonders schweren Fall, dass der Angeklagte den öffentlichen Charakter seiner Stellung ausgenutzt hatte, geändert wurde. Der öffentliche Charakter der Stellung des Angeklagten war ein Bestandteil des ursprünglichen Tatvorwurfs und ihm daher seit Verfahrensbeginn bekannt. Der Angeklagte hatte somit die Möglichkeit, diesen Punkt im Verfahren anzusprechen.
50. Auch in der Rechtssache Marilena-Carmen Popa/Rumänien(37) sah der EGMR darin, dass das Gericht die rechtliche Beurteilung der Straftat von fortgesetzter Urkundenfälschung in eine einmalige Urkundenfälschung geändert hatte, keinen Verstoß gegen die EMRK. Der EGMR stellte fest, dass die einmalige Fälschungshandlung, derentwegen die Person verurteilt wurde, ein Bestandteil des ursprünglichen Tatvorwurfs der fortgesetzten Urkundenfälschung war. Sie war der Angeklagten also seit Beginn des Strafverfahrens bekannt, und sie konnte während des gesamten Verfahrens in Bezug auf jede ihr vorgeworfene Fälschungshandlung ihre Auffassung äußern und zu ihrer Verteidigung Bemerkungen und Beweise vorlegen. Unter diesen Umständen vertrat der EGMR die Auffassung, dass der Angeklagte sich der Möglichkeit, dass die nationalen Gerichte sie wegen der neu eingestuften Straftat schuldig sprechen könnten, voll bewusst gewesen sein müsse.
51. Schließlich sah der EGMR beispielsweise in der Rechtssache Gea Catalán/Spanien(38) keinen Verstoß gegen die EMRK darin, dass die beanstandete Abweichung das Ergebnis eines Schreibfehlers der Staatsanwaltschaft war, der Angeklagte aber im Verfahren ordnungsgemäß über alle Bestandteile des Tatvorwurfs informiert worden war.
52. Die vorstehende Rechtsprechung des EGMR lässt sich demnach in zwei Gruppen einteilen. In der ersten Gruppe von Fällen unterschieden sich die Tatbestandsmerkmale der ursprünglichen und der neu beurteilten Straftat. In diesen Fällen vertrat der EGMR die Auffassung, dass der Angeklagte nicht die Möglichkeit hatte, sich vor der Verkündung des Urteils, mit dem er wegen der neu beurteilten Straftat verurteilt wurde, zu verteidigen. Die vorliegende Rechtssache scheint auf einer solchen Situation zu beruhen, doch ist dies vom vorlegenden Gericht zu beurteilen. Die zweite Gruppe besteht aus jenen Fällen, in denen die Tatbestandsmerkmale der ursprünglichen Straftat alle Tatbestandsmerkmale der neu beurteilten Straftat umfassen (wie das in Nr. 30 dieser Schlussanträge erwähnte Beispiel der Tschechischen Republik im Fall von Diebstahl und Raub). Die Rechtsprechung des EGMR scheint nahezulegen, dass der Angeklagte in solchen Situationen bereits die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen, und dass seine Verteidigungsstrategie nicht anders aussehen würde. Daher stellte die Unterrichtung des Angeklagten erst zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung keinen Verstoß gegen die EMRK dar.
c) Wie soll der Gerichtshof Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 auslegen?
53. Die Tschechische Republik und die Kommission haben betont, dass der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 einen ähnlichen Ansatz verfolgen solle wie der EGMR in seiner Rechtsprechung zur Beurteilung geltend gemachter Verstöße gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK.
54. Kann dem wirklich gefolgt werden?
55. Nach ständiger Rechtsprechung muss das sekundäre Unionsrecht, einschließlich der Richtlinie 2012/13, im Einklang mit den für die Europäische Union verbindlichen Grundrechten ausgelegt werden(39). Auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 3 der Charta handelt es sich bei diesen Rechten auch um diejenigen, die durch die EMRK und die einschlägige Rechtsprechung des EGMR garantiert werden, soweit die Rechte der Charta den Rechten der EMRK entsprechen. In diesem Zusammenhang wird im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 festgestellt, dass sie im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen steht, die mit der Charta anerkannt wurden, und dass sie insbesondere das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte fördern soll. Ferner heißt es im 42. Erwägungsgrund, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2012/13, die den in der EMRK gewährleisteten Rechten entsprechen, im Einklang mit diesen Rechten, wie sie in der Rechtsprechung des EGMR ausgelegt werden, ausgelegt und umgesetzt werden sollten.(40)
56. Die Verpflichtung, die Richtlinie 2012/13 im Einklang mit den Grundrechten auszulegen, bedeutet jedoch, dass die in dieser Richtlinie enthaltenen Rechte keinen geringeren Schutz bieten dürfen als den, der durch die Charta und die EMRK gewährleistet wird. Sie bedeutet nicht, dass der Unionsgesetzgeber beschuldigten Personen keine weiter gehenden Rechte einräumen kann. Wenn das sekundäre Unionsrecht solche weiter gehenden Rechte vorsieht, bedeutet dies außerdem nicht automatisch, dass die Charta einen höheren Standard als die EMRK vorsieht. Es bedeutet lediglich, dass die gesetzgeberische Lösung noch vorteilhafter ist als das, was nach dem Grundrechtsstandard in der Union erforderlich ist, unter den der Unionsgesetzgeber nicht gehen kann, wohl aber darüber hinaus.
57. Selbst wenn die Rechtsprechung des EGMR dahin auszulegen ist, dass sie unter bestimmten Umständen eine Neubeurteilung der Straftat zulässt, ohne dem Angeklagten die Möglichkeit zu geben, auf eine solche Änderung zu reagieren, bedeutet dies mithin nicht zwangsläufig, dass Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 so ausgelegt werden sollte.
58. Bei der Auslegung des sekundären Unionsrechts muss der Gerichtshof nicht nur den Grundrechtsschutz als Mindeststandard berücksichtigen, sondern auch den Zweck des auszulegenden Rechtsakts.
59. Wie in ihren Erwägungsgründen(41) zum Ausdruck gebracht, bezweckt die Richtlinie 2012/13 die Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften, um das gegenseitige Vertrauen zu stärken und folglich die gegenseitige Anerkennung im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu ermöglichen.
60. Dieser wichtige Zweck, der der Richtlinie 2012/13 zugrunde liegt, beeinflusst notwendigerweise die Art und Weise ihrer Auslegung, ebenso wie er die Auslegung anderer auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassener Richtlinien beeinflusst. In der Rechtssache Covaci, der ersten Rechtssache, in der der Gerichtshof um Auslegung der Richtlinie 2012/13 ersucht wurde, schlug Generalanwalt Bot vor, „die auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassenen Vorschriften in dem Sinne auszulegen, dass ihre volle praktische Wirksamkeit gewährleistet wird, da eine solche Auslegung, die den Schutz der Rechte verstärken wird, gleichzeitig das gegenseitige Vertrauen stärken und folglich die gegenseitige Anerkennung erleichtern wird"(42). Er vertrat ferner die Auffassung, dass "[e]ine Einschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschriften durch eine am Wortlaut haftende Auslegung … dazu führen [kann], diese gegenseitige Anerkennung und daher die Schaffung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu behindern“(43).
61. Ich schließe mich dieser Auffassung von Generalanwalt Bot an. Die durch die Richtlinie 2012/13 festgelegten gemeinsamen Bestimmungen müssen so ausgelegt werden, dass der Zweck der Stärkung des gegenseitigen Vertrauens bestmöglich erreicht wird. Ein solches Ziel spricht für einfache Lösungen. Der Gerichtshof ist jedoch an die Grenzen einer zulässigen Auslegung gebunden, die sich aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 ergeben.
62. Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, wie die Formulierung "wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten" in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 ausgelegt werden kann. Wenn es mehr als eine Möglichkeit gibt, was meiner Ansicht nach der Fall ist, sollte der Gerichtshof die Möglichkeit wählen, durch die der Zweck der Stärkung des gegenseitigen Vertrauens am besten erreicht wird.
63. Meines Erachtens lässt der Wortlaut von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 (mindestens) zwei Möglichkeiten zu.
64. Nach der ersten Auslegungsmöglichkeit ist die Fairness des Verfahrens in Fällen gewahrt, in denen die Tatbestandsmerkmale der ursprünglichen und der neu beurteilten Straftat übereinstimmen, selbst wenn die beschuldigte Person vor der Verkündung des Urteils nicht über die Neubeurteilung der Straftat unterrichtet wird. Diese Möglichkeit entspricht der Rechtsprechung des EGMR. Sie beruht auf der Prämisse, dass das Gericht in solchen Fällen davon ausgehen kann, dass die beschuldigte Person bereits die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen, und dass die Verteidigungsstrategie nicht anders aussehen würde.
65. Es ist verständlich, dass ein solcher einzelfallbezogener Ansatz in der Rechtsprechung des EGMR vertretbar erscheinen mag. Der EGMR ist mit der Aufgabe betraut, nachträglich zu beurteilen, ob die Art und Weise, in der ein bestimmtes Strafverfahren durchgeführt wurde, auf der EMRK beruhende Rechte verletzt hat. Der EGMR kann daher rückwirkend und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls beurteilen, ob ein Gericht, das dem Angeklagten keine Gelegenheit gegeben hat, sich gegen den Tatvorwurf nach Neubeurteilung zu verteidigen, gegen die EMRK verstoßen hat.
66. Wenn die Richtlinie 2012/13 das gegenseitige Vertrauen stärken soll, hat diese Auslegungsmöglichkeit jedoch Nachteile. Ein solcher Einzelfallansatz beruht auf der (subjektiven) Einschätzung eines Gerichts, dass die beschuldigte Person (und ihr Rechtsanwalt) keine andere Verteidigungsstrategie anwenden konnte. Meines Erachtens ist eine solche Anforderung an das Gericht, mögliche Verteidigungsstrategien in konkreten Fällen zu bewerten, problematisch und könnte sogar eher mit der richterlichen Unparteilichkeit kollidieren als der Fall, den das nationale Gericht mit der zweiten Vorlagefrage im Sinn hatte (siehe Nrn. 77 bis 84 dieser Schlussanträge).
67. In der vorliegenden Rechtssache scheinen die Tatbestandsmerkmale der ursprünglichen und der neu beurteilten Straftat unterschiedlich zu sein, so dass eine nationale Regelung, die es dem Gericht gestattet, den Angeklagten erst mit der Verkündung des Urteils über die Neubeurteilung der Straftat zu unterrichten, selbst nach der ersten Auslegungsmöglichkeit nicht mit Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 vereinbar wäre. Würden jedoch die Tatbestandsmerkmale der beiden Straftaten übereinstimmen, stünde die erste Auslegungsmöglichkeit einer nationalen Regelung nicht entgegen, die es erlaubt, den Angeklagten erst zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung über die Neubeurteilung der Straftat zu unterrichten. Das bedeutet, dass das Gericht in dem von der Tschechischen Republik angeführten Beispiel betreffend Diebstahl und Raub (siehe Nr. 30 dieser Schlussanträge) zu dem Schluss kommen müsste, dass die Verteidigungsstrategie nicht anders aussehen würde. Man stelle sich jedoch vor, dass eine des Raubes beschuldigte Person ihre Verteidigung auf die Widerlegung der Gewaltanwendung konzentriert, weil sie vom Straftatbestand des Raubes freigesprochen würde, wenn dieses Tatbestandsmerkmal nicht erfüllt wäre. Diese Person hätte sich möglicherweise nicht auf das Tatbestandsmerkmal der Aneignung fremden Eigentums konzentriert. Wenn der Angeklagte wüsste, dass es sich bei der Straftat um Diebstahl handelte, hätte er möglicherweise mehr Wert darauf gelegt, diesen Teil des Tatvorwurfs zu widerlegen. Könnte ein Gericht mit Sicherheit zu dem Schluss kommen, dass eine andere Verteidigungsstrategie für den Angeklagten nicht hilfreich wäre? Angesichts der Unsicherheit, die mit dieser Auslegungsmöglichkeit verbunden ist, wird sie nicht dazu beitragen, das Vertrauen der Gerichte eines Mitgliedstaats in die Praxis der Gerichte anderer Mitgliedstaaten zu stärken.
68. Man könnte sogar behaupten, dass Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 überflüssig ist, wenn er nur das Recht wiedergibt, wie es sich aus der Charta und der EMRK ergibt. Die Regeln der ersten Auslegungsmöglichkeit sind für die Mitgliedstaaten und ihre Gerichte bereits verbindlich. Ich räume ein, dass es nicht zu leugnen ist, dass manchmal die bloße Wiedergabe der von den Gerichten bei der Auslegung der Grundrechte aufgestellten Regeln im sekundären Unionsrecht zur Sichtbarkeit dieser Regeln beitragen kann.(44) Die zweite Auslegungsmöglichkeit führt jedoch zu einer noch klareren Regel und ist daher wirksamer in Bezug auf die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens.
69. Die zweite Auslegungsmöglichkeit besagt, dass für die Zwecke von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 eine Unterrichtung der beschuldigten Person darüber, dass die Straftat neu beurteilt wurde (oder werden kann), die so rechtzeitig erfolgt, dass eine Reaktion auf die neue Straftat möglich ist, immer "erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten". Dies gilt ungeachtet dessen, dass die beschuldigte Person unter Umständen von der Möglichkeit einer Neubeurteilung der Straftat wusste(45) und dass alle Tatbestandsmerkmale der neuen Straftat unter die ursprüngliche Straftat subsumiert werden.
70. Würde eine solche Auslegung akzeptiert, bedeutete dies, dass ein Gericht, nach dessen Auffassung die Straftat neu beurteilt werden sollte, der beschuldigten Person die Möglichkeit geben muss, eine neue Verteidigung vorzubringen. Eine solche Verlängerung des Verfahrens sollte kein Grund sein, die vorgeschlagene Auslegung abzulehnen, insbesondere wenn man sie gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren abwägt.
71. Diese Auslegung von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 ist, auch wenn sie das Verfahren verlängern könnte, wesentlich einfacher, da sie keine subjektiven Bewertungen durch das Gericht voraussetzt. Vielmehr wird eine klare Regel aufgestellt: Hält das Gericht eine Neubeurteilung der Straftat für erforderlich, muss es die beschuldigte Person über den neuen Tatvorwurf unterrichten und ihr die Möglichkeit geben, auf den neuen Tatvorwurf zu reagieren, indem sie eine neue Verteidigung vorbringt.
72. Ich finde nur ein Argument gegen die zweite Auslegungsmöglichkeit. Dieses Argument stützt sich auf die Entstehungsgeschichte von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13.(46) Eines der institutionellen Dokumente des Rates der Europäischen Union(47) deutet darauf hin, dass der Rat dem in der Rechtsprechung des EGMR verfolgten Ansatz folgen wollte. Er schlug daher den Erwägungsgrund vor, der jetzt der 29. Erwägungsgrund ist und in dem die Ausdrücke "in beträchtlichem Umfang betroffen" und "notwendig …, um ein faires Verfahren zu gewährleisten" direkt aus der Rechtsprechung des EGMR übernommen wurden.
73. Da jedoch nicht sicher ist, dass die Formulierung "erforderlich …, um ein faires Verfahren zu gewährleisten" in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 in der endgültigen Fassung dieser Richtlinie als Ausdruck einer Absicht des Unionsgesetzgebers beibehalten wurde, schlicht das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf, wie es sich in der Rechtsprechung des EGMR entwickelt hat, neu zu formulieren, besteht meines Erachtens kein Grund, diesem Argument mehr Gewicht beizumessen als demjenigen, das sich auf den Zweck der Richtlinie 2012/13 stützt, das gegenseitige Vertrauen zu stärken.
74. Schließlich bin ich nicht der Ansicht, dass eine Absicht, schlicht das durch die EMRK gewährleistete Schutzniveau neu zu formulieren, aus dem 40. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 abgeleitet werden kann, wonach die Richtlinie nur Mindestvorschriften festlegt. Es lohnt sich, diesen Erwägungsgrund in vollem Umfang zu zitieren:
„Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um auch in Situationen, die von dieser Richtlinie nicht ausdrücklich erfasst sind, ein höheres Schutzniveau zu bieten. Das Schutzniveau sollte nie unter den Standards der [EMRK] in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen.“
75. Wie aus diesem Erwägungsgrund hervorgeht, bedeutet der Ausdruck "Mindestvorschriften", dass die Mitgliedstaaten ein höheres Schutzniveau als das in der Richtlinie 2012/13 vorgeschriebene festlegen können. Er bedeutet nicht, dass die in dieser Richtlinie festgelegten Bestimmungen das niedrigstmögliche Minimum sein müssen. Der dritte Satz dieses Erwägungsgrundes stellt klar, dass die EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR die Untergrenze darstellt, auch in Situationen, die nicht von der Richtlinie 2012/13 erfasst werden. Aus dem Erwägungsgrund geht nicht hervor, dass die durch die Richtlinie 2012/13 gewährten Rechte nicht weiter gehen könnten als die durch die EMRK gewährten.
76. Aus den oben dargelegten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 die zweite Möglichkeit zu wählen. Diese Bestimmung ist daher dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die es dem Angeklagten nicht ermöglicht, sich in Bezug auf die neu beurteilte Straftat zu verteidigen, nachdem er über die Neubeurteilung unterrichtet wurde. Diese Auslegung wird nicht dadurch berührt, dass die neue rechtliche Beurteilung keine schwerere Strafe nach sich zieht.
B. Die zweite Frage
77. Für den Fall, dass der Gerichtshof die erste Frage bejaht, was ich vorschlage, möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Garantien der richterlichen Unparteilichkeit einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es einem Gericht erlaubt, den Angeklagten über eine mögliche Neubeurteilung der Straftat zu unterrichten, wenn die Initiative für diese Neubeurteilung nicht von der Staatsanwaltschaft ausgeht.
78. Wie ich bereits erläutert habe (siehe Nr. 20 dieser Schlussanträge), geht es in diesem Fall nicht um die Möglichkeit, dass Gerichte und nicht Staatsanwälte die Straftat im Strafverfahren neu beurteilen. Vielmehr verhält es sich so, wie ein Verfasser erklärte: "Es ist durchaus möglich, dass ein Gericht nach innerstaatlichem Recht nicht an die rechtliche Beurteilung des zur Last gelegten Verhaltens durch die Staatsanwaltschaft gebunden ist, aber dies verlagert nur die Informationspflicht von Letzterer auf Ersteres – wenn eine solche Änderung ins Auge gefasst wird, muss das Gericht die Verteidigung informieren und die Verhandlung vertagen, um ihr die Möglichkeit zu geben, die Verteidigung an den neuen Tatvorwurf anzupassen.(48)
79. Die zweite Frage ist daher dahin zu verstehen, dass gefragt wird, ob die einem nationalen Gericht auferlegte Verpflichtung, den Angeklagten über die Neubeurteilung der Straftat zu unterrichten, dem Gebot der richterlichen Unparteilichkeit widerspricht.
80. Das Gebot der richterlichen Unparteilichkeit als Teilaspekt der richterlichen Unabhängigkeit(49) umfasst zwei Aspekte. Zum einen müssen die Mitglieder des Gerichts selbst subjektiv unparteiisch sein, d. h. keines seiner Mitglieder darf Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile an den Tag legen, wobei die persönliche Unparteilichkeit bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird. Zum anderen muss das Gericht objektiv unparteiisch sein, d. h. hinreichende Garantien bieten, um jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen.(50)
81. Das vorlegende Gericht scheint hinsichtlich beider Aspekte der Unparteilichkeit Bedenken zu haben.
82. Meines Erachtens beeinträchtigt der Umstand, dass das Gericht den Angeklagten darüber unterrichtet, dass es eine Neubeurteilung der Straftat beschlossen hat oder in Erwägung zieht, nicht seine Unparteilichkeit. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Gericht dem Angeklagten nach der Ankündigung einer (möglichen) Neubeurteilung der Straftat die Möglichkeit gibt, eine neue Verteidigung vorzubringen.
83. Die Auffassung, dass die Unparteilichkeit des Gerichts nicht durch die bloße Tatsache beeinträchtigt wird, dass das Gericht den Angeklagten über die Neubeurteilung der Straftat unterrichtet, kann durch das Urteil des EGMR in der Rechtssache Bäckström und Andersson/Schweden(51) gestützt werden. In diesem Urteil vertrat der EGMR die Auffassung, dass das Tätigwerden eines Gerichts, um die Beteiligten auf die Möglichkeit einer Änderung der rechtlichen Beurteilung der Straftat hinzuweisen, keinen Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts im Sinne des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK aufkommen ließ.
84. Ohne dass ich es für notwendig erachte, weiter auf diese Frage einzugehen, bin ich der Auffassung, dass die in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Garantien der richterlichen Unparteilichkeit einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es einem Gericht erlaubt, den Angeklagten über eine mögliche Neubeurteilung der Straftat zu unterrichten, auch wenn die Initiative für eine solche Neubeurteilung nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern vom Gericht ausgeht.
IV. Ergebnis
85. Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Spezialisierten Strafgericht (Bulgarien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
(1) Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren steht einer nationalen Regelung entgegen, die es dem Angeklagten nicht ermöglicht, sich in Bezug auf die neu beurteilte Straftat zu verteidigen, nachdem er über die Neubeurteilung unterrichtet wurde. Diese Auslegung wird nicht dadurch berührt, dass die neue rechtliche Beurteilung keine schwerere Strafe nach sich zieht.
(2) Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die es einem Gericht erlaubt, den Angeklagten über eine mögliche Neubeurteilung der Straftat zu unterrichten, auch wenn die Initiative für eine solche Neubeurteilung nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern vom Gericht ausgeht.