URTEIL DES GERICHTSHOFES
29. September 1998 (1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats Mit Gründen versehene
Stellungnahme Kollegialprinzip Gesellschaftsrecht Richtlinien 68/151/EWG
und 78/660/EWG Jahresabschluß Sanktionen im Fall der Nichtoffenlegung“
In der Rechtssache C-191/95
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater
Jürgen Grunwald als Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez
de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Ernst Röder, Ministerialrat im
Bundesministerium für Wirtschaft, D-53107 Bonn, und Alfred Dittrich,
Regierungsdirektor im Bundesministerium der Justiz, als Bevollmächtigte, Beistand:
Rechtsanwalt Hans-Jürgen Rabe, Hamburg und Brüssel,
wegen Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag sowie aus der Ersten Richtlinie 68/151/EWG
des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in
den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des
Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um
diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8), und der Vierten
Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz
3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften
bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11) verstoßen hat, daß sie keine
geeigneten Sanktionen für den Fall vorgesehen hat, daß Kapitalgesellschaften die
ihnen insbesondere auf der Grundlage dieser Richtlinien obliegende Offenlegung
des Jahresabschlusses unterlassen,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm (Berichterstatter), M. Wathelet
und R. Schintgen sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida,
P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch,
P. Jann, L. Sevón und K. M. Ioannou,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat, sodann D. Louterman-Hubeau,
Hauptverwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien durch die Sechste Kammer in der Sitzung vom 12.
Dezember 1996,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts durch die Sechste Kammer
in der Sitzung vom 5. Juni 1997,
aufgrund der Entscheidung der Sechsten Kammer vom 18. September 1997 über
die Vorlage der Rechtssache an den Gerichtshof,
aufgrund des Beschlusses vom 14. Oktober 1997 über die Wiedereröffnung der
mündlichen Verhandlung,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 9. Dezember 1997, in der die
Kommission, vertreten durch Christiaan Timmermans, stellvertretender
Generaldirektor des Juristischen Dienstes, und Jürgen Grunwald, sowie die
deutsche Regierung, vertreten durch Rechtsanwalt Hans-Jürgen Rabe, mündliche
Ausführungen gemacht haben,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17.
Februar 1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am
16. Juni 1995 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofes eingetragen worden ist,
gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage auf Feststellung erhoben, daß die
Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag sowie aus der Ersten Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968
zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den
Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der
Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen
gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8; im folgenden: Erste Richtlinie), und der
Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel
54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von
Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11; im folgenden: Vierte
Richtlinie) verstoßen hat, daß sie keine geeigneten Sanktionen für den Fall
vorgesehen hat, daß Kapitalgesellschaften die ihnen insbesondere auf der
Grundlage dieser Richtlinien obliegende Offenlegung des Jahresabschlusses
unterlassen.
Die streitige Regelung
Die Erste Richtlinie
- 2.
- Gemäß ihrem Artikel 1 gilt die Erste Richtlinie in Deutschland für die
Aktiengesellschaft, die Kommanditgesellschaft auf Aktien und die Gesellschaft mit
beschränkter Haftung.
- 3.
- Nach Artikel 2 der Ersten Richtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die
erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit sich die Pflicht zur Offenlegung
hinsichtlich dieser Gesellschaften mindestens auf die in dieser Vorschrift
aufgeführten Urkunden und Angaben erstreckt. Gemäß Artikel 2 Absatz 1
Buchstabe f gilt die Pflicht zur Offenlegung insbesondere für „die Bilanz und die
Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr“.
- 4.
- Nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f Satz 3 wird jedoch u. a. für die Gesellschaften
mit beschränkter Haftung des deutschen Rechts die genannte Pflicht zur
Offenlegung „bis zum Zeitpunkt der Anwendung einer Richtlinie aufgeschoben, die
sowohl Vorschriften über die Koordinierung des Inhalts der Bilanzen und der Gewinn- und Verlustrechnungen enthält, als auch diejenigen dieser Gesellschaften, deren
Bilanzsumme einen in der Richtlinie festzusetzenden Betrag nicht erreicht, von der
Pflicht zur Offenlegung aller oder eines Teils dieser Schriftstücke befreit“. Nach
Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f letzter Satz erläßt der Rat die genannte Richtlinie
innerhalb von zwei Jahren nach der Annahme der Ersten Richtlinie.
- 5.
- In Artikel 3 Absätze 2 und 4 der Ersten Richtlinie werden die Eintragung aller
Urkunden und Angaben, die der Offenlegung unterliegen, in das in dem
Mitgliedstaat eingerichtete Register und ihre Bekanntmachung in geeigneter Form
in einem von diesem Staat zu bestimmenden Amtsblatt vorgeschrieben.
- 6.
- In Artikel 6 der Ersten Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten drohen geeignete Maßregeln für den Fall an,
daß die in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f) vorgeschriebene Offenlegung der
Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung unterbleibt;
...“
- 7.
- Gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Ersten Richtlinie mußten die Mitgliedstaaten diese
innerhalb einer Frist von achtzehn Monaten nach deren Bekanntgabe umsetzen;
die Bekanntgabe erfolgte am 11. März 1968.
Die Vierte Richtlinie
- 8.
- Die Vierte Richtlinie legt für die in ihr genannten Gesellschaften die Vorschriften
über den Jahresabschluß fest. Artikel 2 der Richtlinie bestimmt: „Der
Jahresabschluß besteht aus der Bilanz, der Gewinn- und Verlustrechnung und dem
Anhang zum Jahresabschluß. Diese Unterlagen bilden eine Einheit.“
- 9.
- Zur Offenlegung des Jahresabschlusses bestimmt Artikel 47 Absatz 1 der Vierten
Richtlinie:
„(1) Der ordnungsgemäß gebilligte Jahresabschluß und der Lagebericht sowie der
Bericht der mit der Abschlußprüfung beauftragten Person sind nach den in den
Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gemäß Artikel 3 der Richtlinie
68/151/EWG vorgesehenen Verfahren offenzulegen.
Die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates können jedoch den Lagebericht von
der genannten Offenlegung freistellen. In diesem Fall ist der Lagebericht am Sitz
der Gesellschaft in dem betreffenden Mitgliedstaat zur Einsichtnahme für
jedermann bereitzuhalten. Eine vollständige oder teilweise Ausfertigung dieses
Berichts muß auf bloßen Antrag kostenfrei erhältlich sein.“
- 10.
- Gemäß Artikel 55 Absatz 1 der Vierten Richtlinie mußte diese innerhalb von zwei
Jahren nach ihrer Bekanntgabe, die am 31. Juli 1978 erfolgte, in das nationale
Recht umgesetzt werden.
Die nationalen Vorschriften
- 11.
- Das Gesetz über die Rechnungslegung von bestimmten Unternehmen und
Konzernen vom 15. August 1969 (BGBl. I S. 1189; im folgenden: Publizitätsgesetz)
trat in der Bundesrepublik Deutschland am 21. August 1969 in Kraft.
- 12.
- Die §§ 9 und 10 des Publizitätsgesetzes enthielten detaillierte Vorschriften über die
Verpflichtung zur Einreichung von Jahresabschluß und Geschäftsbericht zum
Handelsregister sowie zur Bekanntmachung des Jahresabschlusses im
Bundesanzeiger.
- 13.
- Das Publizitätsgesetz wurde insbesondere durch das Bilanzrichtlinien-Gesetz vom
19. Dezember 1985 (BGBl. I S. 2355) geändert, das die Vierte Richtlinie sowie die
Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates vom 13. Juni 1983 aufgrund von Artikel
54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß (ABl.
L 193, S. 1) und die Achte Richtlinie 84/253/EWG des Rates vom 10. April 1984
aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Zulassung
der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen
(ABl. L 126, S. 20) durchgeführt hat. Nach der zur Zeit geltenden Fassung sind die
von dem Gesetz betroffenen Unternehmen zur Offenlegung des Jahresabschlusses
und des Jahresberichts, insbesondere durch Einreichung zum Handelsregister,
verpflichtet (§ 9). Die Einhaltung dieser Verpflichtung kann nach § 21 Satz 1
Nummer 8 des Bilanzrichtlinien-Gesetzes mit Zwangsgeld durchgesetzt werden.
- 14.
- Das Bilanzrichtlinien-Gesetz hat außerdem in das Handelsgesetzbuch (im
folgenden: HGB) ein Drittes Buch Handelsbücher (§§ 238 bis 339) eingeführt.
- 15.
- § 325 HGB enthält die Vorschriften über die Offenlegung, insbesondere über die
Verpflichtungen der gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften, den
Jahresabschluß beim Handelsregister einzureichen und die Tatsache dieser
Einreichung im Bundesanzeiger bekanntzugeben.
- 16.
- § 335 HGB sieht die Festsetzung von Zwangsgeld für den Fall vor, daß Mitglieder
des vertretungsberechtigten Organs einer Kapitalgesellschaft der in § 325 HGB
vorgesehenen Pflicht zur Offenlegung ihrer Bilanzen nicht nachkommen. Nach
§ 335 Satz 1 Nummer 6 in Verbindung mit § 335 Satz 2 HGB schreitet das
Registergericht jedoch nur ein, wenn ein Gesellschafter, ein Gläubiger, der
Gesamtbetriebsrat oder der Betriebsrat der Gesellschaft dies beantragt.
- 17.
- Das Bilanzrichtlinien-Gesetz wurde der Kommission Anfang Januar 1986 notifiziert.
Diese Notifizierung erfolgte auf die Vertragsverletzungsklage in der Rechtssache
18/85 hin, mit der die Kommission der Bundesrepublik Deutschland vorwarf, die
Vierte Richtlinie verspätet umgesetzt zu haben. Aufgrund ihrer Klagerücknahme
wurde das Verfahren durch Streichungsbeschluß vom 11. Februar 1987 (ABl. C 80,
S. 6) beendet.
Vorverfahren und Anträge der Parteien
- 18.
- Mit Schreiben vom 26. Juni 1990 teilte die Kommission der deutschen Regierung
mit, daß nach ihr vorliegenden Veröffentlichungen 93 % der deutschen
Kapitalgesellschaften der Verpflichtung zur Offenlegung ihres Jahresabschlusses
nicht nachgekommen seien, was einen Verstoß gegen Artikel 3 der Ersten
Richtlinie in Verbindung mit Artikel 47 der Vierten Richtlinie darstelle. Sie wies
darauf hin, daß die Mitgliedstaaten nach Artikel 6 der Ersten Richtlinie verpflichtet
seien, geeignete Sanktionen für den Verstoß gegen die in der Richtlinie normierte
Publizitätspflicht vorzusehen, und forderte die Bundesregierung gemäß Artikel 169
EWG-Vertrag auf, sich binnen zwei Monaten zu äußern.
- 19.
- Mit Mitteilung vom 30. Juli 1990 bestritt die deutsche Regierung einen Verstoß
gegen Artikel 3 der Ersten Richtlinie in Verbindung mit Artikel 47 der Vierten
Richtlinie. Unter Berufung auf eigene Statistiken und unter Hinweis auf die
geltenden deutschen Vorschriften bestritt die Bundesregierung die von der
Kommission vorgelegten Zahlen und gelangte zu dem Schluß, daß es keinen Grund
gebe, weitere Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung der
Offenlegungspflichten der Kapitalgesellschaften einzuführen.
- 20.
- Am 2. Juni 1992 richtete die Kommission daher eine mit Gründen versehene
Stellungnahme an die Bundesrepublik Deutschland. Sie hielt ihr vor, dadurch gegen
ihre Verpflichtungen aus der Ersten und der Vierten Richtlinie verstoßen zu haben,
daß sie keine geeigneten Sanktionen für den Fall vorgesehen habe, daß
Kapitalgesellschaften die ihnen insbesondere auf der Grundlage dieser Richtlinien
obliegende Offenlegung des Jahresabschlusses unterließen. Die Kommission
forderte die Bundesrepublik Deutschland auf, die notwendigen Maßnahmen zu
treffen, um dieser Stellungnahme binnen zwei Monaten nachzukommen. Auf
Antrag der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Frist bis zum 30. September
1992 verlängert.
- 21.
- Am 25. August 1993 erklärte sich die deutsche Regierung bereit, die Sanktionen
für den Fall der Nichtoffenlegung von Jahresabschlußunterlagen zu verschärfen,
sofern sich die Kommission mit den vorgesehenen Gesetzesänderungeneinverstanden erkläre und auf die Erhebung einer Klage beim Gerichtshof
verzichte. Sie unterbreitete der Kommission dementsprechend einen Vorschlag für
eine Einführung verschärfter Sanktionen, die stufenweise für alle
Kapitalgesellschaften zwischen dem 1. Januar 1995 und dem 1. Januar 1999 in
Kraft treten sollten. Hierzu wies sie darauf hin, daß im Fall des sofortigen
Inkrafttretens dieser Vorschriften die insoweit zuständigen Bundesländer in
Anbetracht der Vielzahl der einzuleitenden Verfahren und der großen Zahl von
Beamten der alten Länder, die im Anschluß an die deutsche Wiedervereinigung für
den Aufbau der neuen Länder zur Verfügung gestellt worden seien, nicht in der
Lage wären, ihre sofortige Anwendung zu gewährleisten.
- 22.
- Am 3. März 1994 antwortete das zuständige Kommissionsmitglied, daß die in
Aussicht gestellten Sanktionen unterschiedslos von Anfang an für alle betroffenen
Gesellschaften gelten müßten, die ihrer Offenlegungspflicht nicht nachkämen. Er
sei jedoch bereit, der Kommission eine Aussetzung des Verfahrens vorzuschlagen,
wenn die Bundesregierung noch während der laufenden Legislaturperiode einen
entsprechend geänderten Gesetzesentwurf vorlege.
- 23.
- Mit Schreiben vom 19. Mai 1994 teilte die Bundesregierung der Kommission mit,
daß sie unter diesen Voraussetzungen nicht von ihrer Rechtsauffassung abgehen
könne, daß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EG-Vertrag eine Verschärfung der im
deutschen Recht vorhandenen Sanktionen nicht erfordere.
- 24.
- Da auch weitere Besprechungen nicht zu einer Lösung führten, hat die Kommission
die vorliegende Klage erhoben, mit der sie beantragt, die Vertragsverletzung durch
die Bundesrepublik Deutschland festzustellen und dieser die Kosten des
Rechtsstreits aufzuerlegen.
- 25.
- Die deutsche Regierung beantragt, die Klage als unzulässig, hilfsweise als
unbegründet abzuweisen und der Kommission die Kosten des Verfahrens
aufzuerlegen.
Zur Zulässigkeit
- 26.
- Die deutsche Regierung hat drei Einreden der Unzulässigkeit erhoben, mit denen
sie erstens einen Verstoß gegen das Kollegialprinzip bei der Abgabe der mit
Gründen versehenen Stellungnahme und bei der Klageerhebung, zweitens eine
Änderung des Streitgegenstands und drittens eine fehlerhafte Begründung im
Zusammenhang mit der angeblichen Vertragsverletzung rügt.
Verstoß gegen das Kollegialprinzip bei der Abgabe der mit Gründen versehenen
Stellungnahme und bei der Klageerhebung
- 27.
- Die deutsche Regierung macht geltend, die mit Gründen versehene Stellungnahme
und die Erhebung der Klage beim Gerichtshof seien im Rahmen des
Ermächtigungsverfahrens beschlossen worden. Zwar sei es mit dem Kollegialprinzip
vereinbar, wenn für den Erlaß von Maßnahmen der Geschäftsführung und der
Verwaltung auf das Ermächtigungsverfahren zurückgegriffen werde; dieses
Verfahren sei jedoch bei Grundsatzentscheidungen wie denjenigen über die Abgabe
einer mit Gründen versehenen Stellungnahme und die Erhebung einer Klage beim
Gerichtshof ausgeschlossen. Nach Artikel 169 des Vertrages erforderten die
Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme und die Anrufung des
Gerichtshofes nämlich einen Beschluß der Kommission als Kollegialorgan.
- 28.
- Die Kommission hält dem entgegen, die Beschlüsse zur Versendung des
Mahnschreibens, zur Zustellung der mit Gründen versehenen Stellungnahme und
zur Klageerhebung seien von der Kommission als Kollegialorgan in
gemeinschaftlicher Sitzung gefaßt worden.
- 29.
- Durch Beschluß vom 23. Oktober 1996 hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) der
Kommission aufgegeben, die von ihr als Kollegialorgan gefaßten Beschlüsse, die am
2. Juni 1992 an die Bundesrepublik Deutschland gerichtete mit Gründen versehene
Stellungnahme abzugeben und die vorliegende Vertragsverletzungsklage zu
erheben, vorzulegen.
- 30.
- Dementsprechend hat die Kommission dem Gerichtshof Protokolle bestimmter
Sitzungen sowie Dokumente vorgelegt, die in diesen Protokollen erwähnt werden.
- 31.
- In der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 1997 hat die deutsche Regierung
vorgetragen, die Kommission habe, wenn man die von ihr vorgelegten Unterlagen
betrachte, nicht den Nachweis erbracht, daß die Mitglieder des Kollegiums bei ihrer
Entscheidung, die mit Gründen versehene Stellungnahme abzugeben und die Klage
zu erheben, tatsächlich hinreichend über den Inhalt dieser Akte informiert gewesen
seien. Das Kollegium müsse jedoch über alle einschlägigen rechtlichen und
tatsächlichen Angaben verfügen, um sicherstellen zu können, daß seine Beschlüsse
keine Zweifel offenließen, und um zu gewährleisten, daß die zugestellten Akte
tatsächlich vom Kollegium erlassen worden seien und dem Willen des Kollegiums,
das hierfür die politische Verantwortung übernehme, entsprochen hätten.
- 32.
- Die Kommission hat vorgetragen, angesichts der Zahl der
Vertragsverletzungsverfahren stünden den Kommissionsmitgliedern aus Gründen
der Effizienz nicht die Entwürfe der mit Gründen versehenen Stellungnahmen zur
Verfügung, wenn sie den Beschluß faßten, solche Akte zu erlassen; da diesen Akten
keine unmittelbaren verbindlichen rechtlichen Wirkungen zukämen, sei dies auch
nicht erforderlich. Dagegen lägen den Mitgliedern des Kollegiums wichtige
Informationen vor, insbesondere darüber, welche Sachverhalte beanstandet würden
und welche gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften nach Auffassung der
Dienststellen der Kommission verletzt seien. Das Kollegium habe somit in voller
Kenntnis der Umstände zu den Vorschlägen ihrer Dienststellen, die mit Gründen
versehene Stellungnahme abzugeben und die Klage zu erheben, Stellung
genommen. Die Ausarbeitung der mit Gründen versehenen Stellungnahmen erfolge
auf Verwaltungsebene unter der Verantwortung des sachlich zuständigen
Kommissionsmitglieds, nachdem das Kollegium den Beschluß gefaßt habe, diesen
Akt zu erlassen.
- 33.
- Vorab ist darauf hinzuweisen, daß die Tätigkeit der Kommission dem
Kollegialprinzip unterliegt (Urteil vom 15. Juni 1994 in der Rechtssache C-137/92 P,
Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555, Randnr. 62).
- 34.
- Es steht außer Streit, daß die Beschlüsse, die mit Gründen versehene
Stellungnahme abzugeben und die Klage zu erheben, diesem Kollegialprinzip
unterliegen.
- 35.
- Die Anwendung von Artikel 169 ist nämlich eines der Mittel der Kommission, um
dafür zu sorgen, daß die Mitgliedstaaten die Bestimmungen des Vertrages und die
auf seiner Grundlage von den Organen erlassenen Bestimmungen anwenden (Urteil
vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-422/92, Kommission/Deutschland, Slg.
1995, I-1097, Randnr. 16). Die Beschlüsse, eine mit Gründen versehene
Stellungnahme abzugeben und Klage zu erheben, fügen sich somit in den
allgemeinen Rahmen der Überwachungsfunktion ein, mit der die Kommission
aufgrund von Artikel 155 erster Gedankenstrich EG-Vertrag betraut ist.
- 36.
- Durch die Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme bringt die
Kommission ihre förmliche Auffassung zur rechtlichen Situation des betroffenen
Mitgliedstaats zum Ausdruck. Durch die förmliche Feststellung der vorgeworfenen
Vertragsverletzung schließt die mit Gründen versehene Stellungnahme im übrigen
das Vorverfahren nach Artikel 169 ab (Urteil vom 31. Januar 1984 in der
Rechtssache 74/82, Kommission/Irland, Slg. 1984, 317, Randnr. 13). Der Beschluß,
eine mit Gründen versehene Stellungnahme abzugeben, kann daher nicht als
Maßnahme der Verwaltung oder Geschäftsführung angesehen werden und
Gegenstand einer Ermächtigung sein.
- 37.
- Dasselbe gilt für den Beschluß, beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage zu
erheben. Im Rahmen ihrer Rolle als Hüterin des Vertrages ist die Kommission für
die Entscheidung zuständig, ob es angebracht ist, ein Vertragsverletzungsverfahren
einzuleiten (in diesem Sinne Urteil vom 11. August 1995 in der Rechtssache
C-431/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189, Randnr. 22). Eine solche
Entscheidung steht im Ermessen dieses Organs (siehe u. a. Urteil vom 27.
November 1990 in der Rechtssache C-200/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990,
I-4299, Randnr. 9) und kann nicht als Maßnahme der Verwaltung oder
Geschäftsführung eingestuft werden.
- 38.
- Somit wird mit der ersten Unzulässigkeitsrüge, wie sie im Laufe des vorliegenden
Verfahrens erläutert worden ist, die Frage aufgeworfen, ob das Kollegium dem
Kollegialprinzip gerecht wurde, als es einerseits in einer mit Gründen versehenen
Stellungnahme zu der Auffassung gelangte, daß die Bundesrepublik Deutschland
gegen eine ihrer Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen habe, und
andererseits, nachdem die Bundesrepublik dieser Stellungnahme nicht innerhalb der
gesetzten Frist nachgekommen war, beschloß, die vorliegende Klage zu erheben.
- 39.
- Nach ständiger Rechtsprechung beruht das Kollegialprinzip auf der Gleichheit der
Mitglieder der Kommission bei der Mitwirkung an der Entscheidungsfindung und
besagt namentlich, daß die Entscheidungen gemeinsam beraten werden und daß
alle Mitglieder des Kollegiums für sämtliche erlassenen Entscheidungen politisch
gemeinsam verantwortlich sind (Urteile vom 23. September 1986 in der
Rechtssache 5/85, AKZO Chemie/Kommission, Slg. 1986, 2585, Randnr. 30, und
vom 21. Dezember 1989 in den verbundenen Rechtssachen 46/87 und 227/88,
Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, sowie das Urteil Kommission/BASF u. a.,
Randnr. 63).
- 40.
- Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, daß die Beachtung dieses Prinzips für die
von den Rechtswirkungen einer Entscheidung der Kommission betroffenen
Rechtssubjekte von Interesse ist (vgl. in diesem Sinne das Urteil Kommission/BASF
u. a., Randnr. 64).
- 41.
- Allerdings sind die Förmlichkeiten, die zu beachten sind, damit das Kollegialprinzip
tatsächlich eingehalten wird, je nach Art und Rechtswirkungen der von diesem
Organ erlassenen Akte verschieden.
- 42.
- So hat der Gerichtshof zu Entscheidungen, die zur Durchsetzung der
Wettbewerbsregeln erlassen werden und mit denen eine Zuwiderhandlung gegen
diese Regeln festgestellt, Anordnungen gegenüber Unternehmen erlassen und ihnen
finanzielle Sanktionen auferlegt werden können, festgestellt, daß die Unternehmen
oder Unternehmensvereinigungen, an die diese Entscheidungen gerichtet sind, die
Gewähr dafür haben müssen, daß der verfügende Teil und die Begründung dieser
Entscheidungen vom Kollegium erlassen worden sind (vgl. in diesem Sinne das
Urteil Kommission/BASF u. a., Randnrn. 65 bis 67).
- 43.
- Die Bedingungen, unter denen über die Abgabe der mit Gründen versehenen
Stellungnahme und die Erhebung der Vertragsverletzungsklage im Kollegium
gemeinschaftlich zu beraten war, sind im vorliegenden Fall also unter
Berücksichtigung der Rechtswirkungen dieser Entscheidungen gegenüber dem
betroffenen Staat festzulegen.
- 44.
- Die Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme ist Teil eines
Vorverfahrens (Urteil vom 27. Mai 1981 in den verbundenen Rechtssachen 142/80
und 143/80, Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413, Randnr. 15), das keine bindenden
rechtlichen Wirkungen für den Adressaten der mit Gründen versehenen
Stellungnahme entfaltet. Letztere ist nur ein Abschnitt eines vorprozessualen
Verfahrens, das gegebenenfalls zur Anrufung des Gerichtshofes führt (Urteil vom
10. Dezember 1969 in den verbundenen Rechtssachen 6/69 und 11/69,
Kommission/Frankreich, Slg. 1969, 523, Randnr. 36). Dieses vorprozessuale
Verfahren soll es dem Mitgliedstaat erlauben, freiwillig seinen Verpflichtungen aus
dem Vertrag nachzukommen oder gegebenenfalls seine Auffassung zu rechtfertigen
(Urteile vom 23. Oktober 1997 in der Rechtssache C-157/94,
Kommission/Niederlande, Slg. 1997, I-5699, Randnr. 60, in der Rechtssache
C-158/94, Kommission/Italien, Slg. 1997, I-5789, Randnr. 56, und in der Rechtssache
C-159/94, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-5815, Randnr. 103).
- 45.
- Für den Fall, daß dieses Bemühen um eine Regelung erfolglos bleibt, soll die mit
Gründen versehene Stellungnahme den Streitgegenstand festlegen. Dagegen kann
die Kommission mit den nach Artikel 169 abgegebenen Stellungnahmen oder mit
anderen Äußerungen im Rahmen dieses Verfahrens nicht die Rechte und
Verpflichtungen eines Mitgliedstaats abschließend festlegen oder ihm
Zusicherungen hinsichtlich der Vereinbarkeit eines bestimmten Verhaltens mit dem
Vertrag geben. Nach dem System der Artikel 169 bis 171 des Vertrages kann sich
nur aus einem Urteil des Gerichtshofes ergeben, welche Rechte und Pflichten die
Mitgliedstaaten haben und wie ihr Verhalten zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne
das Urteil Essevi und Salengo, Randnrn. 15 f.).
- 46.
- Der mit Gründen versehenen Stellungnahme kommt eine rechtliche Wirkung somit
nur im Hinblick auf die Anrufung des Gerichtshofes zu (Urteil Essevi und Salengo,
Randnr. 18); kommt der Staat dieser Stellungnahme nicht innerhalb der gesetzten
Frist nach, so ist die Kommission darüber hinaus berechtigt, aber nicht verpflichtet,
den Gerichtshof anzurufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 1989 in
der Rechtssache 247/87, Starfruit/Kommission, Slg. 1989, 291, Randnr. 12).
- 47.
- Die Entscheidung, den Gerichtshof anzurufen, stellt zwar eine unerläßliche
Maßnahme dar, um diesem eine verbindliche Entscheidung über die angebliche
Vertragsverletzung zu ermöglichen, doch ändert sie gleichwohl nicht aus sich heraus
die streitige Rechtslage.
- 48.
- Aus alledem ergibt sich, daß das Kollegium sowohl über den Beschluß der
Kommission, eine mit Gründen versehene Stellungnahme abzugeben, als auch über
den Beschluß, eine Vertragsverletzungsklage zu erheben, gemeinschaftlich beraten
muß. Die Elemente, auf die diese Beschlüsse gestützt sind, müssen den Mitgliedern
des Kollegiums daher zur Verfügung stehen. Dagegen braucht das Kollegium nicht
selbst den Wortlaut der Rechtsakte, durch die diese Beschlüsse umgesetzt werden,
und ihre endgültige Ausgestaltung zu beschließen.
- 49.
- Im vorliegenden Fall steht fest, daß den Mitgliedern des Kollegiums alle Elemente,
die ihnen für ihre Beschlußfassung dienlich erschienen, zur Verfügung standen, als
das Kollegium am 31. Juli 1991 beschloß, die mit Gründen versehene
Stellungnahme abzugeben, und am 13. Dezember 1994 den Vorschlag billigte, die
vorliegende Klage zu erheben.
- 50.
- Aufgrund dessen ist festzustellen, daß die Kommission die sich aus dem
Kollegialprinzip ergebenden Regeln eingehalten hat, als sie die mit Gründen
versehene Stellungnahme gegenüber der Bundesrepublik Deutschland abgab und
die vorliegende Klage erhob.
- 51.
- Folglich ist die auf einen Verstoß gegen das Kollegialprinzip gestützte Einrede der
Unzulässigkeit als unbegründet zurückzuweisen.
Änderung des Streitgegenstands
- 52.
- Die deutsche Regierung macht geltend, die Klage sei unzulässig, da die Klageschrift
inhaltlich vom Mahnschreiben abweiche. In ihrem Mahnschreiben habe die
Kommission nämlich erklärt, die Bundesrepublik Deutschland habe gegen ihre
Verpflichtungen aus Artikel 47 der Vierten Richtlinie in Verbindung mit Artikel
3 der Ersten Richtlinie verstoßen, während sie in der mit Gründen versehenen
Stellungnahme und der Klageschrift einen Verstoß gegen die Artikel 2 Absatz 1
Buchstabe f, 3 und 6 der Ersten Richtlinie angenommen habe. Der
Streitgegenstand sei somit während des Vorverfahrens geändert worden.
- 53.
- Die Kommission hält dem entgegen, der Wortlaut sowohl des Mahnschreibens als
auch der Mitteilung der deutschen Regierung vom 30. Juli 1990 zeige, daß ihr
Anliegen klar ausgedrückt gewesen und richtig verstanden worden sei.
- 54.
- Vorab ist darauf hinzuweisen, daß die in Artikel 169 des Vertrages genannte mit
Gründen versehene Stellungnahme zwar eine zusammenhängende und detaillierte
Darlegung der Gründe enthalten muß, aus denen die Kommission zu der
Überzeugung gelangt ist, daß der betreffende Staat gegen eine seiner
Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen hat; doch können an die Genauigkeit
des Mahnschreibens, das zwangsläufig nur in einer ersten knappen
Zusammenfassung der Vorwürfe bestehen kann, keine so strengen Anforderungen
gestellt werden. Nichts hindert daher die Kommission daran, in der mit Gründen
versehenen Stellungnahme die Vorwürfe näher darzulegen, die sie im
Mahnschreiben bereits in allgemeiner Form erhoben hat (vgl. Urteil vom 16.
September 1997 in der Rechtssache C-279/94, Kommission/Italien, Slg. 1997, I-4743,
Randnr. 15).
- 55.
- Es trifft zu, daß das von der Kommission an den Mitgliedstaat gerichtete
Mahnschreiben sowie die von ihr abgegebene mit Gründen versehene
Stellungnahme den Streitgegenstand abgrenzen, so daß dieser nicht mehr erweitert
werden kann. Denn die Möglichkeit zur Äußerung stellt für den betreffenden Staat
auch dann, wenn er meint, davon nicht Gebrauch machen zu müssen, eine vom
Vertrag gewollte wesentliche Garantie dar, deren Beachtung ein substantielles
Formerfordernis des Verfahrens auf Feststellung der Vertragsverletzung eines
Mitgliedstaats ist (Urteil vom 8. Februar 1983 in der Rechtssache 124/81,
Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1983, 203, Randnr. 6). Die mit Gründen
versehene Stellungnahme und die Klage der Kommission müssen daher auf
dieselben Rügen gestützt werden wie das Mahnschreiben, mit dem das
Vorverfahren eingeleitet wird.
- 56.
- Dieses Erfordernis kann jedoch nicht so weit gehen, daß in jedem Fall eine völlige
Übereinstimmung zwischen den im Mahnschreiben erhobenen Rügen, dem Tenor
der mit Gründen versehenen Stellungnahme und den Anträgen in der Klageschrift
bestehen muß, sofern der Streitgegenstand nicht erweitert oder geändert, sondern
nur beschränkt worden ist (vgl. in diesem Sinn das zitierte Urteil vom 16.
September 1997, Kommission/Italien, Randnr. 25).
- 57.
- Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, daß die Kommission in ihrem
Mahnschreiben die der Bundesrepublik Deutschland vorgeworfene
Vertragsverletzung hinreichend genau bezeichnet hat, indem sie ausgeführt hat,
Artikel 3 der Ersten Richtlinie in Verbindung mit Artikel 47 der Vierten Richtlinie
sei dadurch verletzt, daß ein erheblicher Teil der Kapitalgesellschaften der
Offenlegungspflicht nicht nachkomme, und indem sie auf die den Mitgliedstaaten
nach Artikel 6 der Ersten Richtlinie obliegende Pflicht hingewiesen hat, geeignete
Sanktionen für den Verstoß gegen die Offenlegungspflicht vorzusehen. Diesem
Schreiben konnte die deutsche Regierung also entnehmen, welche Art von Rügen
ihr gegenüber erhoben wurden; damit war es ihr möglich, sich dagegen zu
verteidigen.
- 58.
- Somit hat der Umstand, daß die Kommission die Rügen, die darauf gestützt waren,
daß ein erheblicher Teil der Kapitalgesellschaften der Offenlegungspflicht nicht
nachkomme, nicht aufrechterhalten hat, während sie die bereits im Mahnschreiben
in allgemeinerer Form erhobenen Rügen hinsichtlich der Notwendigkeit, geeignete
Sanktionen vorzusehen, näher ausgeführt hat, lediglich eine Beschränkung des
Gegenstands der Klage zur Folge gehabt.
- 59.
- Der zweite Unzulässigkeitsgrund ist daher ebenfalls als unbegründet
zurückzuweisen.
Fehlerhafte Begründung des Verstoßvorwurfs
- 60.
- Nach Ansicht der deutschen Regierung konnte die Kommission die
Übereinstimmung der deutschen Vorschriften über die Verpflichtung zur
Offenlegung des Jahresabschlusses mit dem Gemeinschaftsrecht nicht auf der
Grundlage von nicht verifizierten Zahlen über die Befolgung dieser Verpflichtung
durch die Unternehmen in Frage stellen. Zur Begründung eines solchen Verstoßes
hätte die Kommission sich durch eigene Ermittlungen Gewißheit über die von ihr
zugrundegelegten Zahlen verschaffen müssen. Somit könne nicht davon
ausgegangen werden, daß die Kommission eine detaillierte und zusammenhängende
Darstellung der Gründe für ihre Überzeugung gegeben habe, der Bundesrepublik
Deutschland müßten die behaupteten Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht
vorgeworfen werden.
- 61.
- Die Kommission erwidert, daß sie weiterhin vom Vertragsverstoß überzeugt sei,
und weist darauf hin, daß die Bundesrepublik Deutschland den Vertragsverstoß in
ihrem Schreiben vom 25. August 1993 selbst eingeräumt habe.
- 62.
- Hierzu genügt der Hinweis, daß die Kommission im Stadium der Klage die Rügen,
die darauf gestützt waren, daß ein erheblicher Teil der Kapitalgesellschaften den
Offenlegungspflichten nicht nachkomme, nicht aufrechterhalten hat. Die dritte
Unzulässigkeitseinrede bezieht sich somit auf einen im Stadium des Vorverfahrens
behaupteten Verstoß, der nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist.
Daher ist diese Einrede zurückzuweisen.
- 63.
- Folglich ist die Klage insgesamt für zulässig zu erklären.
Zur Begründetheit
- 64.
- Die Kommission trägt vor, die Prüfung der geltenden deutschen Rechtsvorschriften
ergebe klar, daß die Offenlegung des Jahresabschlusses der Kapitalgesellschaften
zwar in den §§ 325 ff. HGB geregelt sei, der deutsche Gesetzgeber jedoch kein
wirksames rechtliches Instrument geschaffen habe, um die Offenlegungspflicht
durchzusetzen. Zwar sehe § 335 Satz 1 Nummer 6 HGB die Festsetzung von
Zwangsgeld für den Fall vor, daß Mitglieder des vertretungsberechtigten Organs
einer Kapitalgesellschaft der Offenlegungspflicht nicht nachkämen, doch könne das
Registergericht solche Zwangsgelder nicht von Amts wegen verhängen.
- 65.
- Die deutsche Regierung macht geltend, die durch Artikel 6 der Ersten Richtlinie
aufgestellte Pflicht zur Einführung geeigneter Sanktionen wegen unterlassener
Offenlegung der Bilanz oder der Gewinn- und Verlustrechnung gelte noch nicht in
bezug auf die Gesellschaften mit beschränkter Haftung des deutschen Rechts.
Hilfsweise trägt sie vor, Artikel 6 der Ersten Richtlinie sei richtig umgesetzt
worden. Nach Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages solle die
Koordinierung des nationalen Gesellschaftsrechts nämlich die Interessen der
Gesellschafter sowie Dritter schützen. Letztere seien nicht alle natürlichen oder
juristischen Personen, sondern nur diejenigen, die in einer rechtlichen Beziehung
zu der Gesellschaft stünden. Angesichts der äußerst großen Zahl von kleinen und
mittleren Gesellschaften mit beschränkter Haftung stünde schließlich die Einleitung
von Verfahren gegen diese Gesellschaften außer Verhältnis zu dem in Artikel 54
Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages aufgestellten Ziel der Regelung.
- 66.
- Hierzu genügt der Hinweis, daß der Gerichtshof im Urteil vom 4. Dezember 1997
in der Rechtssache C-97/96 (Daihatsu Deutschland, Slg. 1997, I-6843,
Randnrn. 14 f.) festgestellt hat, daß die durch die Erste Richtlinie gelassene
Regelungslücke durch die Vierte Richtlinie geschlossen wurde. Diese Richtlinie hat
die einzelstaatlichen Vorschriften über die Gliederung und den Inhalt des
Jahresabschlusses und des Lageberichts sowie über die Bewertungsmethoden und
die Offenlegung dieser Unterlagen bei den Kapitalgesellschaften, darunter den
Gesellschaften mit beschränkter Haftung deutschen Rechts, koordiniert.
- 67.
- In dem Urteil Daihatsu Deutschland hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß
Artikel 6 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß er den Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nur den Gesellschaftern, den Gläubigern
und dem Gesamtbetriebsrat bzw. dem Betriebsrat der Gesellschaft das Recht
einräumen, die Verhängung der Maßregel zu beantragen, die das nationale Recht
für den Fall vorsieht, daß eine Gesellschaft den durch die Erste Richtlinie
aufgestellten Pflichten auf dem Gebiet der Offenlegung des Jahresabschlusses nicht
nachkommt.
- 68.
- Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß das Fehlen geeigneter Sanktionen nicht
damit gerechtfertigt werden kann, daß die Anwendung solcher Sanktionen auf
sämtliche Gesellschaften, die ihren Abschluß nicht offenlegen, wegen ihrer großen
Zahl für die deutsche Verwaltung erhebliche Schwierigkeiten schaffen würde, die
außer Verhältnis zu dem vom Gemeinschaftsgesetzgeber verfolgten Ziel stünden.
Nach ständiger Rechtsprechung kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf interne
Umstände berufen, um die Nichtbeachtung von Verpflichtungen und Fristen zu
rechtfertigen, die sich aus den Normen des Gemeinschaftsrechts ergeben (vgl. u. a.
Urteile vom 19. Februar 1991 in der Rechtssache C-374/89, Kommission/Belgien,
Slg. 1991, I-367, Randnr. 10, vom 7. April 1992 in der Rechtssache C-45/91,
Kommission/Griechenland, Slg. 1992, I-2509, Randnr. 21, und vom 29. Juni 1995
in den verbundenen Rechtssachen C-109/94, C-207/94 und C-225/94,
Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-1791, Randnr. 11).
- 69.
- Folglich ist festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch, daß sie
keine geeigneten Sanktionen für den Fall vorgesehen hat, daß Kapitalgesellschaften
die ihnen insbesondere aufgrund der Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f, 3 und 6 der
Ersten Richtlinie in Verbindung mit Artikel 47 Absatz 1 der Vierten Richtlinie
obliegende Offenlegung des Jahresabschlusses unterlassen, gegen ihre
Verpflichtungen aus diesen Richtlinien verstoßen hat.
Kosten
- 70.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Die Kommission hat beantragt, die
Bundesrepublik Deutschland zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da diese mit
ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
- 1.
- Die Einreden der Unzulässigkeit werden zurückgewiesen.
- 2.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch, daß sie keine geeigneten
Sanktionen für den Fall vorgesehen hat, daß Kapitalgesellschaften die ihnen
insbesondere aufgrund der Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f, 3 und 6 der
Ersten Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur
Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den
Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse
der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese
Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, in Verbindung mit Artikel 47
Absatz 1 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978
aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über den
Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen obliegende
Offenlegung des Jahresabschlusses unterlassen, gegen ihre Verpflichtungen
aus diesen Richtlinien verstoßen.
- 3.
- Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.
Rodríguez IglesiasGulmann
Ragnemalm
Wathelet Schintgen
Mancini Moitinho de Almeida
Kapteyn
Murray Edward
Puissochet Hirsch
Jann
Sevón Ioannou
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. September 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias