Language of document : ECLI:EU:T:2008:211

Rechtssache T‑410/03

Hoechst GmbH

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Wettbewerb – Kartelle – Sorbatmarkt – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Berechnung der Geldbußen – Begründungspflicht – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Erschwerende Umstände – Grundsatz ne bis in idem – Zusammenarbeit während des Verwaltungsverfahrens – Akteneinsicht – Dauer des Verfahrens“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verstoß, der sich aus der Verpflichtung der Kommission ergibt – Beachtung der Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Gleichbehandlung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2 und Art. 17; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission)

2.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Akteneinsicht

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 19 Abs. 1 und Art. 20)

3.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Abstellung der Zuwiderhandlungen – Befugnis der Kommission – Anordnungen an die Unternehmen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 3 Abs. 1)

4.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verjährung bei Geldbußen – Ausschließliche Anwendung der Verordnung Nr. 2988/74

(Verordnung Nr. 2988/74 des Rates, Art. 2 Abs. 1 und 3)

5.      Wettbewerb – Geldbußen – Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden – Begründungspflicht – Umfang

(Art. 253 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

6.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Ermessen der Kommission

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2)

7.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 A)

8.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Einteilung der betroffenen Unternehmen in Gruppen mit einem für die jeweilige Gruppe gleichen Ausgangsbetrag

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 A)

9.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Abschreckungswirkung der Geldbuße

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 A, Abs. 4 und 5)

10.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Dauer der Zuwiderhandlung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 B Abs. 1 und 3)

11.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 A und B)

12.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Notwendiger Inhalt – Wahrung der Verteidigungsrechte

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 2)

13.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Erschwerende Umstände – Wiederholungsfall

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

14.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Nichtverhängung oder Herabsetzung einer Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilungen 96/C 207/04 und 2002/C 45/03 der Kommission)

15.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Berücksichtigung der Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens mit der Kommission

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission, Abschnitt B)

16.    Wettbewerb – Geldbußen – Sanktionen der Gemeinschaft und Sanktionen in einem Drittstaat wegen Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht

(Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15)

1.      Im Rahmen der Anwendung der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen verstößt die Kommission gegen die Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Gleichbehandlung, wenn sie einem der mit ihr zusammenarbeitenden Unternehmen versichert, dass dieses gewarnt werde, sollte der Eindruck entstehen, andere Unternehmen könnten es auf dem Gebiet der Zusammenarbeit überholen, und zwar selbst dann, wenn diese Zusage in der Folgezeit nicht wirklich in die Tat umgesetzt wurde.

Auch wenn dieser Verfahrensfehler nicht zur Nichtigerklärung der endgültigen Kommissionsentscheidung führen kann, kann die Bedeutung der Einhaltung dieser Grundsätze durch dieses Organ es rechtfertigen, dass der Gemeinschaftsrichter im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung die Geldbuße eines Unternehmens herabsetzt, zu dessen Nachteil sich dieser Verfahrensfehler ausgewirkt hat.

(vgl. Randnrn. 136-137, 581-582)

2.      Das Recht auf Akteneinsicht als Ausfluss des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte impliziert in Wettbewerbssachen, dass die Kommission dem betroffenen Unternehmen die Möglichkeit gibt, alle Schriftstücke in der Ermittlungsakte zu prüfen, die möglicherweise für seine Verteidigung erheblich sind. Dazu gehören sowohl belastende als auch entlastende Schriftstücke mit Ausnahme von Geschäftsgeheimnissen anderer Unternehmen, internen Schriftstücken der Kommission und anderen vertraulichen Informationen.

Die Kommission kann jedoch die völlige Verweigerung der Übermittlung der Schriftstücke in ihren Akten nicht mit dem allgemeinen Hinweis auf die Vertraulichkeit rechtfertigen. Das Recht der Unternehmen und Unternehmensvereinigungen auf Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse muss nämlich mit der Gewährleistung des Anspruchs auf Zugang zu den gesamten Akten in Einklang gebracht werden.

Wird insoweit Zugang zu der nichtvertraulichen Fassung eines Schriftstücks gewährt, das Teil der Akten der Kommission ist, in denen fast alle Seiten weiß und mit der Bemerkung „Geschäftsgeheimnisse“ abgedeckt sind, ohne dass eine aufschlussreichere nichtvertrauliche Fassung oder auch nur eine Zusammenfassung zur Verfügung gestellt wird, kann dies einer Nichtoffenlegung dieses Schriftstücks gleichkommen.

(vgl. Randnrn. 145, 152-153)

3.      Die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 17 kann das Verbot umfassen, bestimmte Tätigkeiten oder Praktiken fortzuführen oder Sachverhalte fortdauern zu lassen, deren Rechtswidrigkeit festgestellt worden ist, aber auch das Verbot, sich künftig ähnlich zu verhalten. Derartige den Unternehmen auferlegte Verpflichtungen dürfen jedoch nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des angestrebten Ziels angemessen und erforderlich ist. Im Übrigen muss die Wahrnehmung der Befugnis der Kommission, Anordnungen zu erlassen, der Natur der festgestellten Zuwiderhandlung angepasst sein.

Ist ein Unternehmen, das an wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen beteiligt war, zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung der Kommission, mit der diese Verhaltensweisen geahndet werden, auf dem betreffenden Markt nicht mehr tätig oder wurden diese Verhaltensweisen vor dem Erlass der Entscheidung aufgegeben, bedeutet dies nicht, dass die Kommission die ihr durch Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 17 verliehenen Befugnisse überschreitet, indem sie diesem Unternehmen aufgibt, künftig von allen Maßnahmen oder wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen abzusehen, da eine solche Anordnung naturgemäß vorbeugenden Charakter hat und nicht davon abhängt, in welcher Situation sich das betroffene Unternehmen zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung befindet.

(vgl. Randnrn. 198-200)

4.      Auch wenn die Überschreitung eines angemessenen Zeitraums unter bestimmten Umständen die Nichtigerklärung einer Entscheidung rechtfertigen kann, mit der eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln festgestellt wird, gilt nicht das Gleiche, wenn die Höhe der in dieser Entscheidung festgesetzten Geldbußen angefochten wird, da sich die Befugnis der Kommission zur Festsetzung von Geldbußen nach der Verordnung Nr. 2988/74 über die Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung im Wettbewerbsrecht richtet, die hierfür eine Verjährungsfrist vorsieht. Durch diese Verordnung ist nämlich eine vollständige Regelung eingeführt worden, die im Einzelnen die Fristen festgelegt hat, innerhalb deren die Kommission ohne Verstoß gegen das grundlegende Gebot der Rechtssicherheit Geldbußen gegen Unternehmen festsetzen kann, gegen die Verfahren nach den Wettbewerbsvorschriften der Gemeinschaft anhängig sind. Nach ihrem Art. 2 Abs. 3 tritt die Verjährung – vorbehaltlich eines etwaigen Ruhens – jedenfalls nach zehn Jahren ein, wenn sie gemäß Art. 2 Abs. 1 der Verordnung unterbrochen wurde, so dass die Kommission die Entscheidung über die Festsetzung von Geldbußen nicht unbegrenzt hinauszögern kann, ohne Gefahr zu laufen, dass Verjährung eintritt. Angesichts dieser Regelung ist für Überlegungen im Zusammenhang mit der Verpflichtung der Kommission, ihre Befugnis zur Verhängung von Geldbußen innerhalb eines angemessenen Zeitraums auszuüben, kein Raum.

(vgl. Randnrn. 220, 223-224)

5.      Eine Entscheidung der Kommission, mit der wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft Geldbußen gegen mehrere Unternehmen verhängt werden, ist hinsichtlich der Zuordnung der verfahrensbeteiligten Unternehmen zu verschiedenen Kategorien für die Zwecke der Bestimmung des Ausgangsbetrags der Geldbuße dann hinreichend begründet, wenn die Kommission erklärt, sie habe die Weltmarktanteile zugrunde gelegt, die anhand der Angaben zu den weltweit erzielten Umsätzen mit dem betreffenden Erzeugnis ermittelt wurden, und zwar selbst dann, wenn sie aus Gründen der Vertraulichkeit nicht diese Umsätze, sondern lediglich Marktanteilsspannen nennt, sofern diese Angaben hinreichend nachvollziehbar sind.

(vgl. Randnrn. 258-259, 261, 263-265)

6.      Bei der Bemessung einer Geldbuße wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft verfügt die Kommission über ein Ermessen. Nach Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 wird die Höhe der Geldbuße aufgrund der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung festgesetzt. Zudem ist dieser Betrag das Ergebnis einer Reihe von zahlenmäßigen Bewertungen, die die Kommission entsprechend den Leitlinien vornimmt. Für die Festlegung dieses Betrags sind u. a. verschiedene Umstände maßgeblich, die mit dem individuellen Verhalten des fraglichen Unternehmens zusammenhängen, etwa dem Vorliegen von erschwerenden oder mildernden Umständen.

Aus diesem rechtlichen Rahmen lässt sich nicht ableiten, dass die Kommission sicherstellen müsste, dass die solchermaßen errechnete Geldbuße im Verhältnis zum gesamten Marktvolumen des betreffenden Erzeugnisses im Europäischen Wirtschaftsraum in einem bestimmten Jahr der Zuwiderhandlung steht.

(vgl. Randnr. 342)

7.      Die drei Aspekte, die nach den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 Abs. 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, bei der Ermittlung der Schwere eines Verstoßes zu berücksichtigen sind, nämlich seine Art und die konkreten Auswirkungen auf den Markt, sofern diese messbar sind, sowie der Umfang des betreffenden räumlichen Marktes, haben im Rahmen der Gesamtprüfung nicht das gleiche Gewicht. Die Art der Zuwiderhandlung spielt insbesondere bei der Einstufung der Zuwiderhandlungen als „besonders schwer“ eine entscheidende Rolle. Insoweit ergibt sich aus der Beschreibung der besonders schwerwiegenden Zuwiderhandlungen in diesen Leitlinien, dass Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen, die insbesondere auf die Festlegung von Preisen oder die Zuteilung von Absatzkontingenten gerichtet sind, allein schon aufgrund ihrer Natur als „besonders schwerwiegend“ eingestuft werden können, ohne dass diese Verhaltensweisen durch besondere Auswirkungen gekennzeichnet zu sein brauchen.

(vgl. Randnrn. 343, 345)

8.      Eine von der Kommission an mehrere Unternehmen wegen Teilnahme an einem rechtswidrigen Kartell gerichtete Sanktionsentscheidung stellt, obgleich in Form nur einer Entscheidung abgefasst, ein Bündel von Einzelentscheidungen dar, mit denen gegenüber jedem der Unternehmen, die Adressaten der Entscheidung sind, festgestellt wird, welche Zuwiderhandlung oder Zuwiderhandlungen es begangen hat, und eine Geldbuße festgesetzt wird. Daher kann die Kommission die Situation der verschiedenen verfahrensbeteiligten Unternehmen auch dann jeweils einzeln prüfen und sie in Kategorien einteilen, um den individuellen Beitrag jedes Unternehmens zum Erfolg des Kartells zu ermitteln, wenn mehrere Unternehmen im Kartell eine stets abgestimmte Verhaltensweise gezeigt haben.

(vgl. Randnrn. 308, 360, 365)

9.      Bei der Bemessung einer Geldbuße wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln kann die Kommission nach den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 Abs. 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, auf den Ausgangsbetrag einen Erhöhungsfaktor anwenden, um der Größe und den Gesamtressourcen des Unternehmens Rechnung zu tragen.

Zum einen verlangt nämlich die Notwendigkeit, eine hinreichende abschreckende Wirkung sicherzustellen, dass die Geldbuße angepasst wird, um der gewünschten Auswirkung auf das Unternehmen, gegen das sie verhängt wird, Rechnung zu tragen, damit sie in Einklang mit den Anforderungen, die sich aus der Notwendigkeit, ihre Wirksamkeit zu gewährleisten, und der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergeben, insbesondere im Hinblick auf die Finanzkraft des betreffenden Unternehmens weder zu niedrig noch zu hoch ausfällt. Die Kommission kann berücksichtigen, dass das betroffene Unternehmen aufgrund seines im Verhältnis zu den übrigen Kartellmitgliedern höheren Gesamtumsatzes die zur Zahlung seiner Geldbuße erforderlichen Mittel leichter würde aufbringen können, was im Hinblick auf eine hinreichende abschreckende Wirkung der Geldbuße die Anwendung eines Multiplikators rechtfertigt. Um unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit das Abschreckungsziel ordnungsgemäß zu erreichen, müssen die finanziellen Ressourcen dieses Unternehmens zu dem Zeitpunkt bewertet werden, zu dem die Geldbuße verhängt wird. Insoweit ist aus denselben Gründen darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 die Obergrenze der Geldbuße von 10 % des Umsatzes des betroffenen Unternehmens anhand des Umsatzes im Geschäftsjahr vor dem Erlass der Entscheidung ermittelt wird.

Zum anderen kann die Kommission den juristischen und wirtschaftlichen Ressourcen der Unternehmen Rechnung tragen, mittels deren sie besser erkennen können, in welchem Maß ihre Vorgehensweise einen Verstoß darstellt. Dadurch sollen Großunternehmen stärker bestraft werden, da unterstellt wird, dass sie über ausreichende Kenntnisse und strukturelle Mittel verfügen, um die Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens zu erkennen und dessen etwaige Vorteile einzuschätzen. Aus dieser Sicht muss sich aber der Umsatz, auf dessen Grundlage die Kommission die Größe der fraglichen Unternehmen und damit ihre Fähigkeit bestimmt, den Charakter und die Folgen ihres Verhaltens zu ermitteln, auf ihre Situation zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung beziehen.

Ein Erhöhungsfaktor von 100 % des Ausgangsbetrags der Geldbuße, mit dem der Größe und den Gesamtressourcen des betroffenen Unternehmens Rechnung getragen wird, übersteigt nicht die in Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und in den Leitlinien festgelegten Grenzen.

(vgl. Randnrn. 374, 379, 382, 387)

10.    Zwar ist in Nr. 1 B Abs. 3 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 Abs. 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, in Bezug auf Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln von langer Dauer von der „Drohung eines spürbaren Aufschlags“ auf den Ausgangsbetrag der Geldbuße die Rede, doch lässt die Verwendung dieser Worte nicht den Schluss zu, dass eine Erhöhung um mehr als 100 % bei einer Dauer des Verstoßes von über zehn Jahren gegen die in diesen Leitlinien vorgesehene Berechnungsmethode verstößt oder über die dort oder in Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 festgelegten Grenzen hinausgeht. Nr. 1 B Abs. 1 dritter Gedankenstrich der Leitlinien sieht nämlich für Verstöße von langer Dauer keine automatische Erhöhung um 10 % pro Jahr vor, sondern lässt der Kommission insoweit einen Ermessensspielraum, so dass sie eine solche Erhöhung festsetzen kann, ohne gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verstoßen.

(vgl. Randnrn. 395-396)

11.    Selbst wenn man unterstellt, dass bestimmte Arten von Kartellen wie Preis- und Absatzmengenkartelle ihrem Wesen nach auf Dauer angelegt sind, ist nach Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 stets zu unterscheiden zwischen ihrer tatsächlichen Wirkungsdauer und ihrer Schwere, wie sie sich aus ihrem Wesen ergibt. Somit wird mit dem Zuschlag für die Dauer der Zuwiderhandlung die Schwere der Zuwiderhandlung nicht ein zweites Mal berücksichtigt.

(vgl. Randnrn. 397-398)

12.    Im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens auf dem Gebiet des Wettbewerbs wahrt die Kommission die Verteidigungsrechte eines Unternehmens nicht, wenn sie ihm gegenüber einen erschwerenden Umstand auf der Grundlage tatsächlicher Gesichtspunkte berücksichtigt, die, auch wenn sie in verschiedenen Randnummern ihrer Mitteilung der Beschwerdepunkte genannt waren, insgesamt gesehen hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Einstufung nicht hinreichend präzise waren, so dass erst im Stadium der Entscheidung diese Gesichtspunkte in einem einzigen Abschnitt zusammengeführt wurden und der Vorwurf klar erkennbar wurde.

(vgl. Randnrn. 424, 431, 433)

13.    Nach den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 Abs. 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, ist eine Wiederholungstäterschaft desselben Unternehmens gegeben, wenn ein „erneuter, gleichartiger Verstoß“ vorliegt. Unter diesen Umständen kann die Kommission, sobald ein Unternehmen eine gleichartige Zuwiderhandlung begeht, einen erschwerenden Umstand auch dann berücksichtigen, wenn ein anderer Wirtschaftssektor betroffen ist.

Die Kommission kann insoweit die Wiederholungstäterschaft eines Unternehmens nicht unter Bezugnahme auf eine frühere Entscheidung, mit der ein gleichartiger Verstoß dieses Unternehmens geahndet wurde, feststellen, wenn diese Entscheidung vor dem Erlass der Entscheidung, in der die Wiederholungstäterschaft festgestellt wurde, vom Gemeinschaftsrichter für nichtig erklärt worden war. Nach Art. 231 EG ist nämlich die angefochtene Handlung, wenn die Nichtigkeitsklage begründet ist, vom Richter für nichtig zu erklären.

Dagegen kann sie sich auf eine frühere Entscheidung, mit der ein gleichartiger Verstoß dieses Unternehmens geahndet wurde, gegen die aber eine Nichtigkeitsklage beim Gemeinschaftsrichter anhängig ist, dann stützen, wenn nicht einmal die Aussetzung ihres Vollzugs beantragt worden ist. Nach Art. 256 Abs. 1 EG ist eine solche Entscheidung nämlich ungeachtet einer gegen sie erhobenen Nichtigkeitsklage ein vollstreckbarer Titel, da sie eine Zahlung auferlegt und nicht gegenüber Staaten gilt, denn nach Art. 242 EG hat eine Klage beim Gemeinschaftsrichter keine aufschiebende Wirkung.

Hat sich die Kommission für die Feststellung der Wiederholungstäterschaft auf mehrere frühere Entscheidungen gestützt, in denen das betreffende Unternehmen mit einer Sanktion belegt wurde und von denen eine vor dem Erlass der Entscheidung, in der die Wiederholungstäterschaft festgestellt wurde, für nichtig erklärt worden war, so stellt der Fehler, der der Kommission unterlaufen ist, weder die Einstufung als Wiederholungsfall, die in den übrigen früheren Entscheidungen eine hinreichende Stütze findet, noch den angewandten Erhöhungssatz in Frage; dies gilt zumindest dann, wenn nichts darauf hindeutet, dass die Feststellung der Kommission, dass der Wiederholungsfall aus mehreren Vortatbeständen resultiere, zu einer höheren Anhebung der Geldbuße wegen erschwerender Umstände geführt hat, als dies der Fall gewesen wäre, wenn nur eine frühere Tat herangezogen worden wäre.

(vgl. Randnrn. 465-466, 468-470, 474)

14.    Hat die Zusammenarbeit von einem Kartellverfahren betroffener Unternehmen mit der Kommission vor dem Erlass der Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen von 2002 begonnen und haben diese Unternehmen die frühere Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen von 1996 für sich in Anspruch genommen, so ist nur die letztgenannte Bestimmung anwendbar, und zwar selbst dann, wenn sich die Kommission erst nach dem Erlass der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 abschließend insbesondere zu der Frage geäußert hat, welchem Unternehmen gegebenenfalls die Geldbuße erlassen werden könne. In einem solchen Fall trifft nämlich zwar zu, dass die Kooperationsbeiträge nach dem Erlass der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 ihre Wirkung entfaltet haben, doch gilt die künftige Vorschrift für die künftigen Auswirkungen des Sachverhalts, der unter der Geltung der alten Vorschrift entstanden ist, nur dann unmittelbar, wenn Übergangsvorschriften fehlen. Randnr. 28 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 sieht aber eindeutig deren Anwendbarkeit ab dem 14. Februar 2002 in allen Fällen vor, in denen noch kein Unternehmen die Mitteilung von 1996 für sich in Anspruch genommen hat.

Dieses Ergebnis kann auch nicht durch die Berufung auf das Günstigkeitsprinzip in Frage gestellt werden. Ohne dass nämlich ermittelt zu werden braucht, ob dieses Prinzip auf Mitteilungen der Kommission über Zusammenarbeit angewandt werden könnte, lässt sich die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 nicht generell als günstiger einstufen als die Mitteilung über Zusammenarbeit von 1996, die in mehreren Punkten sowohl auf der Ebene der materiell-rechtlichen als auch auf der Ebene der verfahrensrechtlichen Vorschriften geändert wurde, wobei einige Änderungen für die verfahrensbeteiligten Unternehmen günstiger sind, andere hingegen nicht.

Schließlich ist auch eine entsprechende Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 abzulehnen, da sich dieser Sachverhalt von den Fällen unterscheidet, in denen die Mitteilung über Zusammenarbeit von 1996 entsprechend auf Sachverhalte angewandt werden konnte, die vor dem Erlass dieser Mitteilung ihren Ausgang genommen hatten, aber keiner anderen rechtlichen Regelung unterworfen waren.

(vgl. Randnrn. 507-511)

15.    Der vollständige Verzicht auf eine Geldbuße oder deren Herabsetzung in Anwendung von Abschnitt B der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen von 1996 setzt u. a. voraus, dass das betreffende Unternehmen als erstes Angaben gemacht hat, die für den Beweis des Bestehens des Kartells von entscheidender Bedeutung sind. Dabei müssen diese Angaben zwar nicht unbedingt als solche für den Beweis des Bestehens des Kartells ausreichen, doch müssen sie hierfür von entscheidender Bedeutung sein. Es darf sich daher nicht nur um eine Orientierungshilfe für die von der Kommission durchzuführenden Untersuchungen handeln, sondern es müssen Angaben sein, die unmittelbar als Hauptbeweisgrundlage für eine Entscheidung herangezogen werden können, mit der die Zuwiderhandlung festgestellt wird. Diese Angaben können auch mündlich gemacht werden.

Die Kommission verfügt über einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage, ob die fragliche Zusammenarbeit für die Erfüllung ihrer Aufgabe, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung festzustellen und diese abzustellen, „von entscheidender Bedeutung“ war, wobei nur eine offensichtliche Überschreitung dieses Spielraums vom Gemeinschaftsrichter beanstandet werden kann.

Die Kommission begeht keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler, wenn sie feststellt, dass ein Unternehmen, das bei einer Zusammenkunft die Tätigkeit und Funktionsweise eines Kartells im Einzelnen beschrieben und sich dabei auf Unterlagen gestützt hat, die für den Beweis des Bestehens des Kartells entscheidend waren, das erste Unternehmen im Sinne von Abschnitt B der Mitteilung über Zusammenarbeit von 1996 gewesen sei, während ein anderes Unternehmen bei einer früheren Zusammenkunft eine weniger detaillierte Darstellung des Kartells geliefert hatte, die dessen Gegenstand und Funktionsweise nicht zutreffend wiedergab und auf keinerlei Unterlagen gestützt war.

(vgl. Randnrn. 552-555, 568-569)

16.    Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem hängt von der dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts ab. Dieser Grundsatz verbietet es somit, dieselbe Person mehr als einmal wegen desselben rechtswidrigen Verhaltens zum Schutz desselben Rechtsguts mit einer Sanktion zu belegen.

Auf dem Gebiet der Sanktionen wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln gilt dieser Grundsatz nicht für Sachverhalte, in denen die Rechtsordnungen und die Wettbewerbsbehörden von Drittstaaten im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeiten eine Rolle gespielt haben.

Im Fall eines weltweiten Kartells, gegen das Sanktionen sowohl von den Wettbewerbsbehörden eines Drittstaats als auch von der Kommission verhängt werden, kann dieser Grundsatz daher selbst dann keine Anwendung finden, wenn der vor den Erstgenannten wie vor der Kommission in Rede stehende Sachverhalt auf denselben Komplex von Vereinbarungen zurückgeht, da sich die geschützten rechtlichen Interessen unterscheiden. Das Tätigwerden der Kommission dient nämlich dem Schutz des freien Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Markts, der nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG ein grundlegendes Ziel der Gemeinschaft darstellt, während in dem Fall, in dem sich das von den Behörden eines Drittstaats eingeleitete Verfahren auf Durchführungshandlungen oder Auswirkungen einer Kartellabsprache außerhalb dieses Landes erstreckte, insbesondere auf solche im Europäischen Wirtschaftsraum, dies offensichtlich in die geografische Zuständigkeit der Kommission eingriffe.

Aus den gleichen Gründen kann Billigkeitserwägungen, die darauf gerichtet sind, von der festgesetzten Geldbuße die von den Behörden des Drittstaats verhängte Sanktion in Abzug zu bringen, nicht gefolgt werden.

(vgl. Randnrn. 600-605)