Language of document : ECLI:EU:C:2021:881

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

28. Oktober 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43/EWG – Art. 12 Abs. 1 – Strenges Schutzsystem für Tierarten – Anhang IV Buchst. a – Cricetus cricetus (Feldhamster) – Ruhe- und Fortpflanzungsstätten – Beschädigung oder Vernichtung“

In der Rechtssache C-357/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 10. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2020, in dem Verfahren

IE

gegen

Magistrat der Stadt Wien

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und L. Dvořáková als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hermes und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7, im Folgenden: Habitatrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IE, einem Dienstnehmer eines Bauträgers, und dem Magistrat der Stadt Wien (Österreich) über das Straferkenntnis des Letzteren, mit dem gegen IE eine Geldstrafe und im Nichteinbringungsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt wurde, weil er im Rahmen eines Bauprojekts die Ruhe- bzw. Fortpflanzungsstätten der Art Cricetus cricetus (Feldhamster), die zu den in Anhang IV Buchst. a der Habitatrichtlinie aufgenommenen geschützten Tierarten zählt, beschädigt bzw. vernichtet haben soll. Dieser Rechtsstreit war bereits Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens, über das der Gerichtshof mit Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien (Feldhamster) (C‑477/19, EU:C:2020:517), entschieden hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 2 der Habitatrichtlinie sieht vor:

„(1) Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der [AEU‑]Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von … Interesse [für die Europäische Union] zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

4        Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:

a)      alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;

b)      jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

c)      jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur;

d)      jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.“

5        Zu den „streng zu schützenden“ Tierarten „von Interesse [für die Union]“, die in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie aufgelistet sind, zählt u. a. der Cricetus cricetus (Feldhamster).

 Österreichisches Recht

6        Das Wiener Naturschutzgesetz vom 31. August 1998 (LGBl. für Wien Nr. 45/1998) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: WNSchG) setzt die Habitatrichtlinie für das Land Wien (Österreich) in nationales Recht um.

7        § 10 Abs. 3 Z 4 WNSchG übernimmt den Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie. Er sieht ein Verbot der Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten streng geschützter Tiere vor.

8        Die Sanktionen für Verstöße gegen § 10 Abs. 3 Z 4 WNSchG sind in § 49 Abs. 1 Z 5 WNSchG festgelegt. Nach letzterer Bestimmung ist mit einer Geldstrafe bis zu 21 000 Euro, im Nichteinbringungsfall mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu vier Wochen, im Wiederholungsfall mit einer Geldstrafe bis zu 35 000 Euro, im Nichteinbringungsfall mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu sechs Wochen, zu bestrafen, wer entgegen § 10 Abs. 3 Z 4 WNSchG Fortpflanzungs- oder Ruhestätten streng geschützter Tiere beschädigt oder vernichtet.

9        Gemäß § 22 Abs. 5 WNSchG kann die zuständige Behörde einzelne Eingriffe bewilligen, wenn die geplante Maßnahme einzeln und auch im Zusammenwirken mit anderen bei der zuständigen Behörde beantragten Maßnahmen keine wesentliche Beeinträchtigung des Schutzzwecks darstellt.

10      In der Anlage zur Wiener Naturschutzverordnung ist der Cricetus cricetus (Feldhamster) als streng geschützte Tierart definiert.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11      Ein Bauträger, der Dienstgeber von IE, entfaltete Bautätigkeiten auf einem Grundstück, auf dem sich der Cricetus cricetus (Feldhamster) angesiedelt hatte. Die Eigentümerin des Grundstücks, der dieser Umstand bekannt war, setzte den Bauträger davon in Kenntnis, der vor Beginn der Bauarbeiten einen ökologischen Bausachverständigen bestellte. Dieser kartierte daher die Eingänge der Baue des Cricetus cricetus (Feldhamster) und ermittelte in einem bestimmten Bereich, ob die Baue bewohnt waren.

12      Bevor die Bauarbeiten in Angriff genommen wurden, ließ der Bauträger die Grasnarbe abtragen, den Bauplatz frei machen und in unmittelbarer Nähe der Eingänge der Baue des Cricetus cricetus (Feldhamster) eine Baustraße und einen Parkplatz anlegen (im Folgenden: schädigende Maßnahmen). Insbesondere die Grasnarbenabtragung sollte den auf den Bautätigkeitsflächen siedelnden Cricetus cricetus (Feldhamster) dazu bewegen, auf die Flächen umzuziehen, die eigens geschützt und für diese Tierart reserviert waren. Eine vorherige Genehmigung der schädigenden Maßnahmen wurde jedoch bei der zuständigen Behörde nicht beantragt und folglich vor Beginn der Bauarbeiten nicht erteilt. Zudem wurden mindestens zwei Hamsterbaueingänge zerstört.

13      Der Magistrat der Stadt Wien ging daher davon aus, dass IE als Dienstnehmer des Bauträgers für die Beschädigung oder Vernichtung der Ruhe- oder Fortpflanzungsstätten des Cricetus cricetus (Feldhamster) verantwortlich sei, und verhängte gegen ihn nach § 10 Abs. 3 Z 4 WNSchG eine Geldstrafe, die im Nichteinbringungsfall in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden kann.

14      IE reichte Beschwerde beim Verwaltungsgericht Wien (Österreich) ein, mit der er die Verhängung dieser Geldstrafe u. a. mit der Begründung anfocht, dass zum einen die betreffenden Baue vom Cricetus cricetus (Feldhamster) zum Zeitpunkt der Durchführung der schädigenden Maßnahmen nicht genutzt worden seien und dass zum anderen diese Maßnahmen nicht zu einer Beschädigung oder Vernichtung der Ruhe- oder Fortpflanzungsstätten dieser Tierart geführt hätten.

15      Daraufhin legte dieses Gericht dem Gerichtshof mit einem ersten Vorabentscheidungsersuchen vom 12. Juni 2019 eine Reihe von Fragen zur Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie vor, um Klarheit darüber zu erhalten, was die Begriffe „Ruhestätte“, „Fortpflanzungsstätte“, „Beschädigung“ und „Vernichtung“ im Sinne dieser Bestimmung umfassen. Mit Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien (Feldhamster) (C‑477/19, EU:C:2020:517), hat der Gerichtshof auf die erste dieser Fragen geantwortet, dass diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass unter dem Begriff „Ruhestätten“ auch Ruhestätten zu verstehen sind, die nicht mehr vom Cricetus cricetus (Feldhamster) beansprucht werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Art an diese Ruhestätten zurückkehrt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts war. Die übrigen Fragen hat der Gerichtshof mit diesem Urteil für unzulässig erklärt, weil das vorlegende Gericht den sachlichen und den nationalen rechtlichen Rahmen im Vorabentscheidungsersuchen unzulänglich bestimmt und nicht genau erläutert hatte, weshalb es die erbetene Auslegung des Unionsrechts für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits benötige.

16      Vor diesem Hintergrund befasst dieses Gericht den Gerichtshof mit einem neuen Vorabentscheidungsersuchen, das eine detailliertere Darstellung des Sachverhalts enthält und klarstellt, dass die „Beschädigung einer Ruhestätte“, die „Vernichtung einer Ruhestätte“, die „Beschädigung einer Fortpflanzungsstätte“ und die „Vernichtung einer Fortpflanzungsstätte“ nach der nationalen Regelung vier eigenständige Delikte darstellen, die gesondert zu bestrafen sind. Daher hält das vorlegende Gericht es zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits für erforderlich, sowohl den räumlichen als auch den zeitlichen Geltungsbereich des Begriffs „Fortpflanzungsstätte“ sowie die Kriterien für die Unterscheidung zwischen der „Beschädigung“ und der „Vernichtung“ einer Fortpflanzungs- und/oder Ruhestätte zu bestimmen.

17      Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich der durch Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie gewährte Schutz lediglich auf die konkrete Baulichkeit des Baus des Cricetus cricetus (Feldhamster) oder auch auf das Umfeld des Baus erstreckt. Außerdem muss dem vorlegenden Gericht zufolge angesichts der Diskrepanzen zwischen dem Gutachten des von IE beauftragten Privatsachverständigen und jenem der Sachverständigen des Magistrats der Stadt Wien geklärt werden, ob es für die Einstufung als Fortpflanzungsstätte in zeitlicher Hinsicht nur auf die Dauer der konkreten aktiven Bewohnung des Baus durch den Cricetus cricetus (Feldhamster) und die Zeit bis zur Eigenständigkeit der Jungtiere oder auch auf die Dauer der Trächtigkeit und der denkmöglichen Aufzucht ankommt.

18      Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Was ist unter dem Begriff „Fortpflanzungsstätte“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie zu verstehen, und wie ist eine „Fortpflanzungsstätte“ räumlich von anderen Orten abzugrenzen?

2.      Nach welchen Determinanten ist zu ermitteln, ob und bejahendenfalls für welchen Zeitraum das Vorliegen einer Fortpflanzungsstätte zeitlich begrenzt ist?

3.      Nach welchen Kriterien ist zu ermitteln, ob durch eine bestimmte Handlung oder Unterlassung eine Beschädigung bzw. Vernichtung einer Fortpflanzungsstätte erfolgt ist?

4.      Nach welchen Kriterien ist zu ermitteln, ob eine „Ruhestätte“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie beschädigt oder vernichtet worden ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

19      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Fortpflanzungsstätte“ im Sinne dieser Bestimmung nur die Baue des Cricetus cricetus (Feldhamster) umfasst, oder ob er sich auch auf das Umfeld der Eingänge der Baue dieser geschützten Tierart erstreckt.

20      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien [Feldhamster], C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bereits nach dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie die notwendigen Maßnahmen zu treffen haben, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a dieser Richtlinie genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen, das jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten verbietet.

22      Anhand des Wortlauts dieser Bestimmung als solchen lässt sich jedoch nicht feststellen, ob sich der Schutz, den sie den Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart gewährt, auch auf das Umfeld der Fortpflanzungsstätten erstreckt.

23      Was zweitens den Regelungszusammenhang von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie betrifft, enthält diese Richtlinie zwar keine Definition des Begriffs „Fortpflanzungsstätte“, doch hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das Verbot nach dieser Bestimmung nicht unmittelbar die Tierarten betrifft, sondern wichtige Teile ihres Lebensraums schützen soll (vgl. Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien [Feldhamster], C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 28).

24      Daraus folgt, dass der durch Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie gewährte strenge Schutz gewährleisten soll, dass wichtige Teile des Lebensraums der geschützten Tierarten so erhalten werden, dass diese Arten die u. a. für die Fortpflanzung erforderlichen Bedingungen vorfinden können (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien [Feldhamster], C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 29).

25      Die von der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens befürwortete Auslegung des in Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie enthaltenen Begriffs „Fortpflanzungsstätte“ dahin, dass er nur die Baue des Cricetus cricetus (Feldhamster) umfasst, kann aber dazu führen, dass Gebiete, die für die Fortpflanzung und die Geburt der Jungtiere dieser geschützten Tierart erforderlich sind, von diesem Schutz ausgenommen werden, da sie sich im Umfeld dieser Baue befinden können. Bei einer solchen Auslegung wäre nicht gewährleistet, dass wichtige Teile des Lebensraums dieser Tierart so erhalten werden, dass diese die u. a. für die Fortpflanzung erforderlichen Bedingungen vorfinden kann.

26      In dem Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der Habitatrichtlinie (endgültige Fassung, Februar 2007) führt die Kommission aus, dass zum einen Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie so verstanden werden sollte, dass er darauf abzielt, die ökologische Funktionalität von Fortpflanzungsstätten zu sichern, und zum anderen die Fortpflanzungsstätten folgende Bereiche umfassen können: Bereiche, die für die Balz, für die Paarung, für den Nestbau oder für die Wahl des Ortes der Eiablage oder der Niederkunft erforderlich sind, sowie den Ort der Eientwicklung und des Schlüpfens und das Nest oder den Ort der Niederkunft, wenn es bzw. er für die Nachwuchspflege benötigt wird.

27      Somit ergibt sich aus dem Regelungszusammenhang von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie, dass der Begriff „Fortpflanzungsstätte“ dahin zu verstehen ist, dass er alle Gebiete umfasst, die erforderlich sind, damit sich die betreffende Tierart erfolgreich fortpflanzen kann, einschließlich des Umfelds der Fortpflanzungsstätte. Diese Auslegung wird auch durch die Ziele dieser Richtlinie bestätigt.

28      Drittens ist nämlich entsprechend den Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 18 seines Urteils vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien (Feldhamster) (C‑477/19, EU:C:2020:517), darauf hinzuweisen, dass die Habitatrichtlinie nach ihrem Art. 2 Abs. 1 „zum Ziel [hat], zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten … beizutragen“. Außerdem zielen die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen gemäß Art. 2 Abs. 2 und 3 der Richtlinie darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von Interesse für die Union zu bewahren oder wiederherzustellen, und tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.

29      Im Übrigen soll mit der Habitatrichtlinie u. a. durch die in ihrem Art. 12 Abs. 1 vorgesehenen Verbote ein strenger Schutz der Tierarten derart gewährleistet werden, dass das in dieser Bestimmung vorgesehene Schutzsystem es ermöglichen muss, eine Beeinträchtigung des Lebensraums der geschützten Tierarten tatsächlich zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien [Feldhamster], C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Daher muss der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie vorgesehene Schutz der Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart gewährleisten, dass die Fortpflanzungsstätten zur Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands dieser Tierart beitragen, indem dieser Schutz den Fortbestand der ökologischen Funktionalität der Fortpflanzungsstätten sicherstellt.

31      Mit diesem Ziel wäre es aber nicht vereinbar, das Umfeld der Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart vom Schutz auszunehmen, sofern sich dieses Umfeld als erforderlich erweisen kann, um dieser Tierart eine erfolgreiche Fortpflanzung zu ermöglichen.

32      Im vorliegenden Fall steht fest, dass die schädigenden Maßnahmen darin bestanden, im Umfeld der Eingänge der Baue des Cricetus cricetus (Feldhamster) die Grasnarbe abzutragen, den Bauplatz frei zu machen und in unmittelbarer Nähe der Eingänge der Baue eine Baustraße und einen Parkplatz anzulegen.

33      Unter diesen Umständen und wie sich sowohl aus dem Regelungszusammenhang von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie als auch aus den mit ihm verfolgten Zielen ergibt, würde der nach dieser Bestimmung vorgeschriebene Schutz einer Fortpflanzungsstätte einer geschützten Tierart seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn im Umfeld dieser Fortpflanzungsstätte menschliche Aktivitäten bezweckten oder bewirkten, dass diese Tierart die betreffende Fortpflanzungsstätte nicht mehr aufsucht, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

34      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Fortpflanzungsstätte“ auch deren Umfeld umfasst, sofern sich dieses Umfeld als erforderlich erweist, um den in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie genannten geschützten Tierarten, wie dem Cricetus cricetus (Feldhamster), eine erfolgreiche Fortpflanzung zu ermöglichen.

 Zur zweiten Frage

35      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der durch diese Bestimmung gewährte Schutz der Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart zeitlich begrenzt ist.

36      Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht hervor, dass das vorlegende Gericht insbesondere wissen möchte, ob dieser Schutz nur für die Dauer der konkreten aktiven Bewohnung der Baue durch den Cricetus cricetus (Feldhamster) und die Zeit bis zur Eigenständigkeit der Jungtiere oder auch für die gesamte Dauer der Trächtigkeit und der denkmöglichen Aufzucht gilt.

37      Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien (Feldhamster) (C‑477/19, EU:C:2020:517), den Geltungsbereich des Begriffs „Ruhestätte“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie zu klären hatte. Er ist nach einer grammatikalischen, systematischen und teleologischen Auslegung dieser Bestimmung zu dem Ergebnis gekommen, dass der zeitliche Geltungsbereich dieses Begriffs weit zu verstehen ist, so dass der Schutz der Ruhestätten der betreffenden Tierart auch Ruhestätten umfasst, die von dieser Tierart nicht mehr beansprucht werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Tierart an diese Ruhestätten zurückkehrt.

38      In Anbetracht der oben in den Rn. 24, 29 und 30 dargelegten Erwägungen zu dem nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie gewährten strengen Schutz ist ein solches weites Verständnis auch in Bezug auf den zeitlichen Geltungsbereich des Schutzes der Fortpflanzungsstätten im Sinne dieser Bestimmung zu bejahen.

39      Damit der nach dieser Bestimmung gewährte strenge Schutz gewährleistet ist, müssen die Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart folglich so lange Schutz genießen, wie dies für eine erfolgreiche Fortpflanzung dieser Tierart erforderlich ist, so dass sich dieser Schutz auch auf Fortpflanzungsstätten erstreckt, die nicht mehr genutzt werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Tierart an diese Stätten zurückkehrt, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

40      Diese Schlussfolgerung wird im Übrigen durch den oben in Rn. 26 genannten Leitfaden gestützt, in dem die Kommission ausführt, dass die Fortpflanzungsstätten für den Lebenszyklus einer geschützten Tierart von entscheidender Bedeutung sind und sehr wichtige, zur Sicherung ihres Überlebens erforderliche Bestandteile ihres Gesamthabitats darstellen, so dass die Fortpflanzungsstätten auch dann zu schützen sind, wenn sie nicht besetzt sind, aber die betreffende Tierart mit großer Wahrscheinlichkeit an diese Stätten zurückkehren wird.

41      Daher ist davon auszugehen, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sich der in dieser Bestimmung vorgesehene Schutz der Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart auf die Dauer der konkreten aktiven Bewohnung oder die Dauer der Trächtigkeit und der denkmöglichen Aufzucht dieser Tierart beschränkt.

42      Im Hinblick auf die Umsetzung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Schutzsystems wird das vorlegende Gericht daher zur Sicherung der ökologischen Funktionalität der Fortpflanzungsstätten des Cricetus cricetus (Feldhamster) insbesondere zu prüfen haben, ob eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese geschützte Tierart außerhalb der in der vorstehenden Randnummer genannten Zeiträume an diese Stätten zurückkehrt, um sich dort fortzupflanzen.

43      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart so lange Schutz genießen müssen, wie dies für eine erfolgreiche Fortpflanzung dieser Tierart erforderlich ist, so dass sich dieser Schutz auch auf Fortpflanzungsstätten erstreckt, die nicht mehr genutzt werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Tierart an diese Stätten zurückkehrt.

 Zur dritten und zur vierten Frage

44      Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, wie die Begriffe „Beschädigung“ und „Vernichtung“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie auszulegen sind.

45      Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob die schädigenden Maßnahmen eine „Beschädigung“ oder „Vernichtung“ einer Fortpflanzungs- und/oder Ruhestätte im Sinne dieser Bestimmung darstellen.

46      Hierzu ist festzustellen, dass die Habitatrichtlinie keine Definition dieser Begriffe enthält, die daher entsprechend dem Sinn der sie bildenden Worte nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen sind, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Zusammenhang sie verwendet werden und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehören (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2020, Staatssecretaris van Financiën [Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Aphrodisiaka], C‑331/19, EU:C:2020:786, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Was zunächst den Sinn der Begriffe „Beschädigung“ oder „Vernichtung“ nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich diese Begriffe auf die Verschlechterung, einschließlich des schrittweisen Rückgangs, bzw. auf die zum Verschwinden führende Handlung beziehen.

48      Was sodann den Regelungszusammenhang von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie betrifft, geht aus dem oben in Rn. 26 genannten Leitfaden der Kommission hervor, dass „Beschädigung“ als die materielle Verschlechterung eines Habitats oder einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte definiert werden kann, die im Gegensatz zur Vernichtung schleichend erfolgen und zur graduellen Verschlechterung der ökologischen Funktionalität der betreffenden Stätte führen kann, so dass die Beschädigung nicht unmittelbar zum Verlust der Funktionalität einer Stätte führen muss, sondern sie qualitativ oder quantitativ beeinträchtigen wird und auf diese Weise nach einiger Zeit zu ihrem vollständigen Verlust führen kann.

49      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass das in dieser Bestimmung enthaltene Verbot von Handlungen, die zu einer Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten führen, anders als die Verbote der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie genannten Handlungen nicht auf absichtliche Handlungen beschränkt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien [Feldhamster], C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Was schließlich das mit der Habitatrichtlinie verfolgte Ziel betrifft, so ist es – wie oben in Rn. 29 ausgeführt worden ist – darauf gerichtet, u. a. durch die in Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vorgesehenen Verbote einen strengen Schutz der Tierarten zu gewährleisten.

51      In Anbetracht dieses strengen Schutzsystems ist festzustellen, dass der Grad der Beeinträchtigung der ökologischen Funktionalität der Fortpflanzungs- oder Ruhestätte unabhängig davon, ob sie absichtlich erfolgt oder nicht, das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung zwischen einer Handlung, die zu einer Verschlechterung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätte führt, und einer Handlung, die zu ihrer Vernichtung führt, darstellt.

52      Insbesondere muss sichergestellt werden, dass die Fortpflanzungs- und Ruhestätten einer geschützten Tierart nicht durch menschliche Aktivitäten beschädigt oder vernichtet werden, so dass sie weiterhin die Bedingungen bieten, die erforderlich sind, damit diese Tierart ungestört ruhen und sich erfolgreich fortpflanzen kann. Bei einer solchen Beurteilung sind die ökologischen Bedürfnisse der Tierart, zu der das fragliche Individuum gehört, sowie die Situation der betroffenen Individuen dieser Tierart, die die Fortpflanzungs- oder Ruhestätte nutzen, zu berücksichtigen.

53      Im vorliegenden Fall wird das vorlegende Gericht für die Zwecke der Anwendung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie zu prüfen haben, ob die schädigenden Maßnahmen geeignet waren, die ökologische Funktionalität der betroffenen Habitate schrittweise zu verringern oder vollständig zu beseitigen.

54      Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Begriffe „Beschädigung“ und „Vernichtung“ im Sinne dieser Bestimmung dahin auszulegen sind, dass sie die schrittweise Verringerung der ökologischen Funktionalität einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte einer geschützten Tierart bzw. den vollständigen Verlust dieser Funktionalität bezeichnen, wobei es keine Rolle spielt, ob derartige Beeinträchtigungen absichtlich erfolgen.

 Kosten

55      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Fortpflanzungsstätte“ auch deren Umfeld umfasst, sofern sich dieses Umfeld als erforderlich erweist, um den in Anhang IV Buchst. a dieser Richtlinie genannten geschützten Tierarten, wie dem Cricetus cricetus (Feldhamster), eine erfolgreiche Fortpflanzung zu ermöglichen.

2.      Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43 ist dahin auszulegen, dass die Fortpflanzungsstätten einer geschützten Tierart so lange Schutz genießen müssen, wie dies für eine erfolgreiche Fortpflanzung dieser Tierart erforderlich ist, so dass sich dieser Schutz auch auf Fortpflanzungsstätten erstreckt, die nicht mehr genutzt werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Tierart an diese Stätten zurückkehrt.

3.      Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie ist dahin auszulegen, dass die Begriffe „Beschädigung“ und „Vernichtung“ im Sinne dieser Bestimmung dahin auszulegen sind, dass sie die schrittweise Verringerung der ökologischen Funktionalität einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte einer geschützten Tierart bzw. den vollständigen Verlust dieser Funktionalität bezeichnen, wobei es keine Rolle spielt, ob derartige Beeinträchtigungen absichtlich erfolgen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.