Language of document : ECLI:EU:C:2023:693

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

21. September 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex der Union – Art. 60 Abs. 2 – Ursprungserwerb von Waren – Delegierte Verordnung 2015/2446 – Art. 32 – Waren, an deren Herstellung mehr als ein Land oder Gebiet beteiligt ist – Anhang 22-01 – Primärregel für Waren der Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems – Begriff ‚Hohlprofil‘ – ‚Rohrluppen‘ aus Stahl der Unterposition 7304 49 des Harmonisierten Systems, die durch Warmumformung hergestellt werden und aus denen durch Kaltumformung Stahlrohre der Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems hergestellt werden können – Gültigkeit der Primärregel“

In der Rechtssache C‑210/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 18. März 2022, in dem Verfahren

Stappert Deutschland GmbH

gegen

Hauptzollamt Hannover

erlässt


DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Zehnten Kammer D. Gratsias in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Neunten Kammer sowie der Richter S. Rodin (Berichterstatter) und der Richterin O. Spineanu–Matei,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: K. Hötzel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. März 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Stappert Deutschland GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt K. H. Felderhoff, Rechtsanwältin K. Harden und Steuerberater H.‑M. Wolffgang,

–        des Hauptzollamts Hannover, vertreten durch T. Röper,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von B. Coene und Z.‑Z. De Decker als Sachverständige,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann, F. Moro und M. Salyková als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Primärregel für Waren der Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems zur Bezeichnung und Codierung der Waren (im Folgenden: HS) in Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union (ABl. 2015, L 343, S. 1) in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2018/1063 der Kommission vom 16. Mai 2018 (ABl. 2018, L 192, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Primärregel), soweit sie ein spezifisches Kriterium für „Hohlprofile der Unterposition 7304 49“ (im Folgenden: Hohlprofile-Kriterium) enthält, und die Gültigkeit dieser Regel.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Stappert Deutschland GmbH (im Folgenden: Stappert) und dem Hauptzollamt Hannover (Deutschland, im Folgenden: Zollamt) über den Ursprungserwerb von Hohlerzeugnissen der Unterposition 7304 41 HS, gerade und von gleichmäßiger Wanddicke.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Das HS wurde mit dem am 14. Juni 1983 in Brüssel geschlossenen Internationalen Übereinkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (United Nations Treaty Series, Bd. 1503, S. 4, Nr. 25910 [1988]) im Rahmen der Weltzollorganisation (WZO) eingeführt und mit dem dazugehörigen Änderungsprotokoll vom 24. Juni 1986 durch den Beschluss 87/369/EWG des Rates vom 7. April 1987 (ABl. 1987, L 198, S. 1) im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genehmigt. Die Erläuterungen zum HS werden in der WZO nach den Bestimmungen dieses Übereinkommens ausgearbeitet.

4        Kapitel 72 HS trägt die Überschrift „Eisen und Stahl“.

5        In den Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 72, die sinngemäß für Waren des Kapitels 73 HS gelten, heißt es im Abschnitt „Allgemeines“:

„…

IV.      Herstellung von Fertigerzeugnissen

Das Halbzeug und mitunter auch Rohblöcke (Ingots) werden zu Fertigerzeugnissen weiterverarbeitet.

Bei den Fertigerzeugnissen wird im Allgemeinen zwischen Flacherzeugnissen (Breitflachstahl, Breitband, Bleche, Bandstahl) und Langerzeugnissen (Walzdraht, Stabstahl, Profile, Draht) unterschieden.

Die Herstellung der Fertigerzeugnisse erfolgt entweder durch Warmumformung der Rohblöcke oder des Halbzeugs (Warmwalzen, Schmieden, Warmziehen) oder durch Kaltumformung von warmhergestellten Fertigerzeugnissen (Kaltwalzen, Kaltfließpressen, Drahtziehen, Stabziehen), die anschließend gegebenenfalls kaltfertiggestellt werden (z. B. durch Schleifen, Drehen oder Kalibrieren kaltfertiggestellter Stabstahl).

B)      Kaltumformung

Zur Unterscheidung zwischen kalthergestellten Erzeugnissen und warmgewalzten, warmgezogenen oder warmstranggepressten Erzeugnissen können folgende Merkmale herangezogen werden:

–        die Oberfläche der kalthergestellten Erzeugnisse hat ein besseres Aussehen als die der warmhergestellten und ist immer ohne Zunderschicht;

–        die Abmessungstoleranzen sind bei kalthergestellten Erzeugnissen geringer;

–        kaltgewalzt werden vor allem dünne Flacherzeugnisse;

–        die mikroskopische Untersuchung zeigt bei kalthergestellten Erzeugnissen eine deutliche Verformung der Körnung und ihre Anordnung in Bearbeitungsrichtung. Warmhergestellte Erzeugnisse dagegen haben aufgrund der Rekristallisation eine fast regelmäßige Körnung.“

6        Im Abschnitt „Allgemeines“ der Erläuterungen zum HS heißt es zu dessen Kapitel 73:

„…

Im Sinne dieses Kapitels gelten als:

1)      Rohre

Konzentrische Hohlerzeugnisse, mit über die gesamte Länge gleichbleibendem, nur einen einzigen geschlossenen Hohlraum aufweisenden Querschnitt derselben inneren und äußeren Form. Rohre aus Stahl haben grundsätzlich einen kreisförmigen, ovalen, quadratischen oder rechteckigen Querschnitt, können aber auch die Form eines gleichseitigen Dreiecks oder eines regelmäßig konvexen Vielecks aufweisen. Als Rohre gelten ebenfalls Erzeugnisse mit anderem als kreisförmigen Querschnitt mit über die ganze Länge abgerundeten Kanten sowie Rohre mit gestauchten Enden. Sie können poliert, überzogen, gebogen (einschließlich Rohrschlangen), mit Gewinde versehen (auch mit Muffen), gelocht, eingezogen, aufgeweitet, konisch oder mit Flanschen, Schellen oder Ringen versehen sein.

2)      Hohlprofile

Hohlerzeugnisse, die der vorstehenden Begriffsbestimmung nicht entsprechen, hauptsächlich solche, deren äußere und innere Querschnitte nicht dieselbe Form aufweisen.

Die Erläuterungen zu Kapitel 72 Abschnitt ‚Allgemeines‘ gelten sinngemäß auch für dieses Kapitel.“

7        In den Erläuterungen zu Position 7304 HS heißt es:

„Rohre und Hohlprofile dieser Position können durch folgende Verfahren hergestellt werden:

B)      Warmstrangpressen eines Rundstahls in einer Presse, unter Verwendung von Glas (Ungine-Séjournet-Verfahren) oder eines anderen Schmiermittels. Dieses Verfahren umfasst die folgenden Arbeitsgänge: Lochen, gegebenenfalls Aufweiten und Ziehen.

Den beschriebenen Vorgängen folgen verschiedene Fertigbearbeitungen:

–        beim Warmfertigbearbeiten wird der Rohling nach dem Wiedererwärmen einem Maßwalzwerk zugeführt, gegebenenfalls gestreckt und anschließend gerichtet;

–        beim Kaltfertigbearbeiten auf einem Dorn, durch Ziehen auf der Ziehbank oder durch Walzen auf dem Pilgerschritt-Walzwerk (Mannesmann- oder Megaval-Verfahren). Diese Verfahren ermöglichen, aus warmgewalzten oder warmstranggepressten Rohrluppen Rohre mit geringerem Durchmesser und geringerer Wanddicke zu erhalten als dies bei den Warmverformungsverfahren möglich ist (beim Transval-Verfahren können Rohre mit geringerer Wanddicke direkt hergestellt werden) oder Rohre mit engeren Toleranzen hinsichtlich Durchmesser oder Wanddicke herzustellen. Die Kaltbearbeitungsverfahren umfassen auch Ziehschleifen und Rollenglätten, um polierte Oberflächen zu erhalten (Rohre mit geringer Rauigkeit), die z. B. für pneumatische Hebeböcke und Hydraulikzylinder benötigt werden.

Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Rohren einerseits und Hohlprofilen andererseits wird auf die Erläuterungen zu diesem Kapitel Abschnitt ‚Allgemeines‘ verwiesen.

…“

 Unionsrecht

 Zollkodex

8        Art. 33 („Entscheidungen über verbindliche Auskünfte“) Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, und Berichtigung ABl. 2016, L 267, S. 2, im Folgenden: Zollkodex) sieht vor:

„Die Zollbehörden treffen auf Antrag Entscheidungen über verbindliche Zolltarifauskünfte (vZTA-Entscheidungen) und Entscheidungen über verbindliche Ursprungsauskünfte (vUA-Entscheidungen).

…“

9        Art. 60 („Ursprungserwerb“) Abs. 2 des Zollkodex sieht vor:

„Waren, an deren Herstellung mehr als ein Land oder Gebiet beteiligt ist, gelten als Ursprungswaren des Landes oder Gebiets, in dem sie der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt.“

10      Art. 62 („Befugnisübertragung“) des Zollkodex bestimmt:

„Die Kommission wird ermächtigt, delegierte Rechtsakte gemäß Artikel 284 zu erlassen, in denen die Regeln festgelegt werden, nach denen Waren, deren Bestimmung des nichtpräferenziellen Ursprungs für die Anwendung der in Artikel 59 genannten Unionsmaßnahmen erforderlich ist, gemäß Artikel 60 als in einem einzigen Land oder Gebiet vollständig gewonnen oder hergestellt oder als in einem Land oder Gebiet der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt, unterzogen angesehen werden.“

11      Art. 284 („Ausübung der Befugnisübertragung“) des Zollkodex regelt die Modalitäten dieser Ausübung.

 Delegierte Verordnung 2015/2446

12      In Ausübung ihrer Befugnisse aus Art. 62 des Zollkodex hat die Kommission die Delegierte Verordnung 2015/2446 erlassen.

13      Im 20. Erwägungsgrund dieser Delegierten Verordnung heißt es:

„Mit dem Beschluss 94/800/EG des Rates [vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986-1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. 1994, L 336, S. 1)] wurde das der am 15. April 1994 in Marrakesch unterzeichneten Schlussakte beigefügte Übereinkommen über Ursprungsregeln (WTO-GATT 1994) genehmigt. Das Übereinkommen über Ursprungsregeln besagt, dass sich besondere Vorschriften für die Bestimmung des Ursprungs bestimmter Produktgruppen in erster Linie nach dem Land zu richten haben, in dem der Produktionsvorgang zu einer Änderung der zolltariflichen Einreihung geführt hat. Nur wenn das Land der letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung anhand dieses Kriteriums nicht ermittelt werden kann, können andere Kriterien herangezogen werden, z. B. das Kriterium des Mehrwerts oder die Bestimmung eines speziellen Verarbeitungsvorgangs. Da die Union Vertragspartei dieses Übereinkommens ist, sollten zollrechtliche Bestimmungen vorgesehen werden, die den in diesem Übereinkommen für die Bestimmung des Landes der letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung festgelegten Grundsätzen entsprechen.“

14      Art. 32 („Waren, an deren Herstellung mehr als ein Land oder Gebiet beteiligt ist [Artikel 60 Absatz 2 des Zollkodex]“) der Delegierten Verordnung bestimmt:

„In Anhang 22-01 aufgeführte Waren gelten als Waren, die ihrer letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung, die zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt, in dem Land oder Gebiet unterzogen wurden, in dem die in diesem Anhang aufgeführten Regeln erfüllt sind oder … das durch diese Regeln ermittelt wird.“

15      Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung ist mit „Einleitende Anmerkungen und Liste der wesentlichen Be- oder Verarbeitungsprozesse, aus denen sich ein nichtpräferenzieller Ursprung ergibt“ überschrieben. Dieser Anhang enthält einen Abschnitt mit der Überschrift „Einleitende Anmerkungen“, in dessen Nrn. 2 und 3 es wie folgt heißt:

„2.      Anwendung der Regeln in diesem Anhang

2.1.      Die in diesem Anhang aufgeführten Regeln sind auf die Waren auf Grundlage ihrer Einreihung in das [HS] sowie weiterer Kriterien, die gegebenenfalls speziell für die Zwecke dieses Anhangs zusätzlich zu den Positionen oder Unterpositionen des HS vorgegeben werden, anzuwenden. Eine Position oder Unterposition des [HS], die aufgrund solcher Kriterien weiter untergliedert wurde, wird in diesem Anhang als ‚Teilposition‘ oder ‚Teilunterposition‘ bezeichnet. …

Die Einreihung von Waren in Positionen und Unterpositionen des [HS] erfolgt nach Maßgabe der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung des HS und der jeweiligen Anmerkungen zu den Abschnitten, Kapiteln und Unterpositionen des HS. Diese Vorschriften und Anmerkungen sind Teil der Kombinierten Nomenklatur, die in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates [vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1)] [KN], enthalten ist. Für die Bestimmung einer korrekten Teilposition oder Unterposition für bestimmte Waren dieses Anhangs sind die Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung des HS und die jeweiligen Anmerkungen zu den Abschnitten, Kapiteln und Unterpositionen des HS sinngemäß anzuwenden, soweit in diesem Anhang nichts anderes bestimmt ist.

3.      Glossar

Die Primärregeln auf Untergliederungsebene können, wenn sie auf einer Änderung der zolltariflichen Einreihung basieren, durch folgende Kürzel wiedergegeben werden:

CTH: Wechsel zu der betreffenden Position von jeder anderen Position

…“

16      Kapitel 73 des Anhangs ist mit „Waren aus Eisen oder Stahl“ überschrieben. Es enthält u. a. eine „Restregel zum Kapitel“ mit folgendem Wortlaut:

„Kann das Ursprungsland nicht durch Anwendung der Primärregeln bestimmt werden, so ist das Ursprungsland der Ware das Land, in dem der – gemessen am Wert – größere Teil dieser Vormaterialien seinen Ursprung hat.“

17      Kapitel 73 des Anhangs enthält eine Tabelle mit den Primärregeln, die bei der Bestimmung des Ursprungslands oder des Ursprungsgebiets der dort aufgeführten und nach ihrer Position oder Unterposition im HS bezeichneten Waren anzuwenden sind, u. a. die Primärregel für kaltgezogene oder kaltgewalzte Rohre aus nicht rostendem Stahl mit kreisförmigem Querschnitt der HS-Unterposition 7304 41. In der Tabelle heißt es:


„HS-Code 2017

Warenbezeichnung

Primärregeln



7304

Rohre und Hohlprofile, nahtlos, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl.

Wie für die Unterpositionen angegeben




-

andere, mit kreisförmigem Querschnitt, aus nicht rostendem Stahl


-

andere, mit kreisförmigem Querschnitt, aus nicht rostendem Stahl


7304 41

- – kaltgezogen oder kaltgewalzt

CTH; oder Wechsel von Hohlprofilen der Unterposition 7304 49

7304 49

- – andere

CTH“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Am 20. Januar 2016 beantragte Stappert – eine Stahlhandelsgesellschaft – beim Zollamt eine vUA-Entscheidung gemäß Art. 33 der Verordnung Nr. 952/2013, um nahtlose Rohre aus nicht rostendem Stahl der Unterposition 7304 41 HS (im Folgenden: betreffende Rohre) aus Südkorea einzuführen. Die Rohre werden wie folgt hergestellt: In China werden in einem ersten Schritt massive Rohblöcke durch das Warmumformungsverfahren des Strangpressens (Warmumformung) hergestellt. Das so hergestellte Halbzeug (im Folgenden: Rohrluppen) gehört zur Unterposition 7304 49 HS. In einem zweiten Schritt werden die Rohrluppen nach Südkorea gebracht, wo sie kaltgewalzt und zu Rohren gezogen werden. Nach Ansicht von Stappert ist gemäß Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex Südkorea als Ursprungsland der betreffenden Rohre anzugeben. Dies hätte zur Folge, dass auf die Einfuhren dieser Rohre kein Antidumpingzoll erhoben werden müsste, was nicht der Fall wäre, wenn China das Ursprungsland wäre.

19      Mit Entscheidung vom 16. Juni 2017 stellte das Zollamt fest, dass die Rohre denselben nicht präferenziellen Ursprung hätten wie die Rohrluppen, d. h. China. Nach der Primärregel sei der Ursprung der Rohre nämlich anhand des Herstellungslandes der Rohrluppen zu bestimmen.

20      Stappert legte gegen diese Entscheidung Einspruch ein und machte geltend, dass der letzte wesentliche, wirtschaftlich gerechtfertigte Verarbeitungsschritt für den Ursprungserwerb maßgeblich sein müsse. Im vorliegenden Fall erfolge dieser letzte Schritt jedoch in Südkorea.

21      Mit Entscheidung vom 23. November 2018 wies das Zollamt den Einspruch zurück. Zum einen finde in Südkorea kein Wechsel der Tarifposition statt. Zum anderen könnten die in China hergestellten Rohrluppen entgegen dem Vorbringen von Stappert nicht als „Hohlprofile“ der Unterposition 7304 49 HS im Sinne des Kriteriums für Hohlprofile angesehen werden, die anschließend in Südkorea kalt umgeformt würden. Der Begriff „Hohlprofile“ müsse im Sinne der Erläuterungen zu Kapitel 73 HS ausgelegt werden; daraus folge, dass die Rohrluppen keine „Hohlprofile“, sondern „Rohre“ seien.

22      Stappert erhob beim vorlegenden Gericht, dem Finanzgericht Hamburg (Deutschland), Klage auf Erteilung einer vUA-Entscheidung, mit der festgestellt wird, dass Südkorea das Ursprungsland der betreffenden Rohre ist, und, hilfsweise, auf Feststellung, dass die Weigerung des Zollamts, diesen Ursprung festzustellen, rechtswidrig war.

23      In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht zunächst, ob der Begriff „Hohlprofile“ im Sinne der Primärregel Waren wie Rohrluppen umfasst.

24      Erstens könne die Tragweite dieses Begriffs nicht aus der Entstehungsgeschichte der Primärregel abgeleitet werden, insbesondere nicht durch Bezugnahme auf Dokumente, die anlässlich der Verhandlungen erstellt worden seien, die im Rahmen des im 20. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung 2015/2446 genannten Arbeitsprogramms für das Übereinkommen über Ursprungsregeln stattgefunden hätten, in denen nicht erläutert werde, was unter „Hohlprofilen“ der Unterposition 7304 49 HS zu verstehen sei.

25      Zweitens sei die Auslegung vorzuziehen, die ursprungsrechtlichen Wertungskriterien besser gerecht werde, und eine tarifrechtliche Auslegung dürfe den in Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex vorgesehenen Kriterien nicht zuwiderlaufen.

26      Drittens verwiesen die einleitenden Anmerkungen zu Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446 nicht auf die Erläuterungen zum HS.

27      Viertens sei das in der Primärregel vorgesehene Herstellungsverfahren dasjenige, das insbesondere in den Erläuterungen zu Position 7304 HS beschrieben sei, woraus abgeleitet werden könne, dass warmgewalzte oder warmstranggepresste Rohre als Zwischenprodukte verwendet würden und daher „Hohlprofile“ im Sinne des genannten Kriteriums darstellten.

28      Fünftens gebe es keine einheitliche Taxonomie für die Beschreibung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorgänge.

29      Sechstens wäre, wenn der Begriff „Hohlprofil“ gemäß den Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 73 auszulegen wäre, der Ursprungserwerb allein von der Form des Vormaterials abhängig, was als eine willkürliche Anwendung von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex erscheine.

30      Außerdem ergebe sich aus dem 33. Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung (EU) 2017/2093 der Kommission vom 15. November 2017 zur Einstellung der Untersuchung betreffend die mutmaßliche Umgehung der mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1331/2011 des Rates eingeführten Antidumpingmaßnahmen gegenüber den Einfuhren bestimmter nahtloser Rohre aus rostfreiem Stahl mit Ursprung in der Volksrepublik China durch aus Indien versandte Einfuhren, ob als Ursprungserzeugnisse Indiens angemeldet oder nicht, und zur Einstellung der mit der Durchführungsverordnung (EU) 2017/272 der Kommission eingeführten zollamtlichen Erfassung dieser Einfuhren (ABl. 2017, L 299, S. 1), dass ein Rohr durch die Kaltumformung wesentlich be- und verarbeitet werde und sich seine wesentlichen Merkmale hierdurch unumkehrbar veränderten, so dass damit seine Abmessungen und seine materiellen, mechanischen und metallurgischen Eigenschaften geändert würden, wie aus dem Abschnitt „Allgemeines“ der Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 72 hervorgehe, die für Kapitel 73 HS relevant seien.

31      Siebtens habe eine Auslegung des Begriffs „Hohlprofil“ auf der Grundlage der Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 73 in technischer Hinsicht keine Bedeutung in der Praxis. Die Kaltumformung eines Hohlprofils im Sinne der Definition in diesen Erläuterungen sei nämlich – selbst wenn sie technisch möglich wäre – mit prohibitiven Kosten verbunden, so dass das gebräuchlichste Verfahren zur Herstellung von Rohren die Kaltverarbeitung von warmgefertigten Rohren sei.

32      Achtens könnten nicht alle Waren der Unterposition 7304 49 HS verarbeitet werden. Rohrluppen seien aber Waren, die ohne weitere Verarbeitung nicht verwendet werden könnten. Insoweit zeige der Umstand, dass das Vormaterial, aus dem die Rohre der Unterposition 7304 41 HS hergestellt würden, nicht auf die Erfüllung einer Industrienorm für warmgefertigte nahtlose Rohre getestet worden sei, dass es zwangsläufig Gegenstand einer weiteren Verarbeitung sein müsse.

33      Sodann fragt sich das vorlegende Gericht für den Fall, dass der Ursprung der betreffenden Rohre nicht nach dem Hohlprofile-Kriterium bestimmt werden sollte oder dass sich die Beantwortung der ersten Frage als unmöglich erweist, ob dieses Kriterium wegen fehlender Begründung, wegen fehlender Bestimmtheit oder wegen seiner Unvereinbarkeit mit Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex ungültig ist.

34      Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht für den Fall, dass die Primärregel für ungültig erklärt werden sollte, soweit sie sich auf das Hohlprofile-Kriterium bezieht, welche Regel des Unionsrechts dann anzuwenden wäre, um den Ursprung der betreffenden Rohre zu bestimmen.

35      Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Hamburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Erfasst der Begriff „Hohlprofile“ im Sinne der Primärregel, die den Ursprungserwerb vom „Wechsel von Hohlprofilen der Unterposition 7304 49“ abhängig macht, eine warmgefertigte Ware der Unterposition 7304 49 HS, gerade und von gleichmäßiger Wanddicke, die die Anforderungen einer technischen Norm für nahtlose warmgefertigte Edelstahlrohre nicht erfüllt und aus der durch Kaltverarbeitung Rohre mit anderem Querschnitt und anderer Wanddicke hergestellt werden?

2.      Falls die erste Frage zu verneinen oder nicht zu beantworten ist: Verstößt das Hohlprofile-Kriterium gegen Art. 60 Abs. 2 und Art. 284 des Zollkodex sowie Art. 290 AEUV, weil

a)      ihm die Begründung fehlt,

b)      es zu unbestimmt ist oder

c)      Bearbeitungsvorgänge von der Ursprungsbegründung ausgeschlossen werden, die nach Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex ursprungsbegründend wären?

3.      Falls die zweite Vorlagefrage bejaht wird: Bestimmt sich der Ursprungserwerb von Waren der Unterposition 7304 41 HS im Ausgangsrechtsstreit nach der Primärregel „CTH“, der Restregel in Kapitel 73 des Anhangs 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446 oder nach Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

36      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Primärregel dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Hohlprofil“ im Sinne dieser Regel eine warmverformte „Rohrluppe“, gerade und von gleichmäßiger Wanddicke, die die Anforderungen einer technischen Norm für nahtlose warmgefertigte Rohre aus nicht rostendem Stahl nicht erfüllt und aus der durch Kaltverarbeitung Rohre mit anderem Querschnitt und anderer Wanddicke hergestellt werden, die unter die Unterposition 7304 41 HS fallen, erfasst.

37      Nach der Primärregel gelten Rohre und Hohlprofile der Unterposition 7304 41 HS als Ursprungswaren des Landes, in dem sie durch Kaltziehen oder Kaltwalzen (Kaltumformung) hergestellt worden sind, wenn sie entweder aus Waren, die unter eine andere Position des HS fallen, oder aus „Hohlprofilen der Unterposition 7304 49“ des HS hergestellt worden sind.

38      Aus Nr. 2.1 der einleitenden Anmerkungen zu Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446 geht zum einen hervor, dass die in diesem Anhang aufgeführten Regeln auf die Waren auf der Grundlage ihrer Einreihung in das HS sowie weiterer Kriterien, die gegebenenfalls speziell für die Zwecke dieses Anhangs zusätzlich zu den Positionen oder Unterpositionen des HS vorgegeben werden, anzuwenden sind, und zum anderen, dass für die Bestimmung einer korrekten Teilposition oder Unterposition für bestimmte Waren dieses Anhangs die Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung des HS und die jeweiligen Anmerkungen zu den Abschnitten, Kapiteln und Unterpositionen des HS sinngemäß anzuwenden sind, soweit in diesem Anhang 22-01 nichts anderes bestimmt ist.

39      Zudem liefern die Erläuterungen zum HS als solche wertvolle Hinweise für die Auslegung der Positionen und Unterpositionen des HS (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2020, Hydro Energo, C‑340/19, EU:C:2020:488, Rn. 36).

40      Gemäß dem Abschnitt „Allgemeines“ der Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 73, auf den in der Erläuterung zu Position 7304 HS ausdrücklich Bezug genommen wird, handelt es sich bei konzentrischen Hohlerzeugnissen mit über die gesamte Länge gleichbleibendem, nur einen einzigen geschlossenen Hohlraum aufweisenden Querschnitt derselben inneren und äußeren Form um „Rohre“ im Sinne des Kapitels 73 HS, während es sich bei Hohlerzeugnissen, die der vorstehenden Begriffsbestimmung nicht entsprechen, hauptsächlich solche, deren äußere und innere Querschnitte nicht dieselbe Form aufweisen, um „Hohlprofile“ handelt.

41      Hingegen wird der Begriff „Rohrluppe“ im in der vorstehenden Randnummer genannten Abschnitt „Allgemeines“ nicht erwähnt. Daraus folgt, dass für die Anwendung der Primärregel als „Rohrluppen“ eingestufte Waren entweder „Rohre“ oder „Hohlprofile“ im Sinne von Kapitel 73 HS sind.

42      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die betreffenden Rohre, deren Einfuhr Stappert beabsichtigt, aus Rohrluppen hergestellt wurden, die unter den in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Begriff „Rohre“ im Sinne der Erläuterungen zu Kapitel 73 HS fallen, insbesondere soweit sie als gerade und von gleichmäßiger Wanddicke beschrieben werden.

43      Als solche können diese Rohrluppen daher nicht unter den Begriff „Hohlprofil“ fallen, weder im Sinne von Kapitel 73 HS noch im Sinne der Primärregel.

44      Insoweit ist klarzustellen, dass aus den in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Definitionen der Begriffe „Hohlprofil“ und „Rohr“ in keiner Weise hervorgeht, dass die davon erfassten Erzeugnisse den Anforderungen einer technischen Norm entsprechen müssten, damit sie unter diese Begriffe fallen können.

45      Außerdem bedeutet insbesondere der Umstand, dass die Erläuterung zu Position 7304 HS ein Verfahren der Herstellung von Rohren durch Kaltfertigbearbeitung warmgewalzter oder warmstranggepresster Rohrluppen beschreibt, ohne die Herstellung von Rohren aus Hohlprofilen zu erwähnen, nicht zwangsläufig, dass diese Herstellung nicht möglich ist, da die Erläuterung im Übrigen klarstellt, dass Rohre und Hohlprofile der Position 7304 HS durch unterschiedliche Verfahren hergestellt werden können.

46      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass eine Auslegung des in der Primärregel enthaltenen Begriffs „Hohlprofil“ in einem mit den Angaben in den Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 73 übereinstimmenden Sinne die Gültigkeit dieser Regel insbesondere im Hinblick auf Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex in Frage stellen könnte.

47      Zwar ist nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ein Unionsrechtsakt so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, UBS Europe u. a., C‑358/16, EU:C:2018:715, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Eine Auslegung der in den Primärregeln enthaltenen Begriffe, die von ihrer Tragweite im Sinne des HS abweicht, würde jedoch die innere Kohärenz der Delegierten Verordnung 2015/2446 beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juni 2021, Tschechische Republik/Kommission, C‑862/19 P, EU:C:2021:493, Rn. 52).

49      Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Primärregel dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Hohlprofil“ im Sinne dieser Regel eine warmverformte „Rohrluppe“, gerade und von gleichmäßiger Wanddicke, die die Anforderungen einer technischen Norm für nahtlose warmgefertigte Rohre aus nicht rostendem Stahl nicht erfüllt und aus der durch Kaltverarbeitung Rohre mit anderem Querschnitt und anderer Wanddicke hergestellt werden, die unter die Unterposition 7304 41 HS fallen, nicht erfasst.

 Zur zweiten Frage

50      Die zweite Frage betrifft die Gültigkeit des Kriteriums für Hohlprofile aufgrund des Ausschlusses des Ursprungserwerbs von Waren der Unterposition 7304 41 HS, die kalt aus Rohren der Unterposition 7304 49 HS hergestellt werden. Dieses Kriterium stellt jedoch nur eins der beiden alternativen Kriterien der Primärregel dar, die beide einen solchen Ursprungserwerb dieser Waren ausschließen.

51      Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage den Gerichtshof im Wesentlichen ersucht, sich zur Gültigkeit der Primärregel im Hinblick auf Art. 290 AEUV, den Grundsatz der Rechtssicherheit und Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex zu äußern.

52      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 62 des Zollkodex die Kommission ermächtigt wird, delegierte Rechtsakte zu erlassen, in denen die Regeln festgelegt werden, nach denen Waren gemäß Art. 60 des Zollkodex als in einem Land oder Gebiet der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses geführt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt, unterzogen angesehen werden. Mit diesen Rechtsakten soll genauer bestimmt werden, wie die in Art. 60 des Zollkodex genannten abstrakten Kriterien in konkreten Situationen auszulegen und anzuwenden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2021, Renesola UK, C‑209/20, EU:C:2021:400, Rn. 33).

53      Die Ausübung dieser Befugnis der Kommission unterliegt jedoch, wie sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, bestimmten Anforderungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2021, Renesola UK, C‑209/20, EU:C:2021:400, Rn. 34). Die mit einer delegierten Verordnung verfolgten Ziele müssen geeignet sein, ihren Erlass zu rechtfertigen, die Verordnung muss dem für einen solchen Rechtsakt vorgeschriebenen Begründungserfordernis genügen, und die Beurteilungen der Kommission zur Bestimmung des Ursprungslands der Waren, auf die diese Verordnung anwendbar ist, dürfen in Anbetracht von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex nicht mit einem Rechtsfehler oder mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2021, Renesola UK, C‑209/20, EU:C:2021:400, Rn. 40 und 42).

54      Der Ursprung der betreffenden Waren ist nämlich jedenfalls anhand des entscheidenden Kriteriums der „letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung“ der Waren zu bestimmen. Dieser Ausdruck ist so zu verstehen, dass er auf den Schritt des Herstellungsverfahrens verweist, in dem diese Waren ihre künftige Verwendung sowie besondere Eigenschaften und eine spezifische Beschaffenheit erlangen, die sie vorher nicht hatten und die nicht dazu bestimmt sind, später erhebliche qualitative Änderungen zu erfahren (Urteil vom 20. Mai 2021, Renesola UK, C‑209/20, EU:C:2021:400, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Die gerichtliche Prüfung der Begründetheit einer Bestimmung eines Rechtsakts wie Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446 kann sich auf die Frage erstrecken, ob der Kommission unabhängig von einem Rechtsfehler unter Berücksichtigung der Umstände der betreffenden konkreten Situation bei der Durchführung von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex ein offensichtlicher Beurteilungsfehler unterlaufen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2021, Renesola UK, C‑209/20, EU:C:2021:400, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Daraus folgt, dass die Kommission zwar bei der Anwendung der allgemeinen Kriterien von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex auf besondere Be- und Verarbeitungen über einen Beurteilungsspielraum verfügt; sie darf jedoch ohne objektive Rechtfertigung nicht völlig verschiedene Lösungen für gleichartige Be- oder Verarbeitungsvorgänge vorsehen (vgl. entsprechend Urteil vom 23. März 1983, Cousin u. a., 162/82, EU:C:1983:93, Rn. 21).

57      In Bezug auf das in der Primärregel vorgesehene Kriterium des Wechsels der Tarifposition hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es nicht genügt, die Kriterien für die Bestimmung des Warenursprungs der tariflichen Einordnung der verarbeiteten Waren zu entnehmen, da der gemeinsame Zolltarif für eigene Zwecke und nicht für die Bestimmung des Warenursprungs geschaffen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2010, Hoesch Metals and Alloys, C‑373/08, EU:C:2010:68, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Obwohl der durch die Verarbeitung einer Ware herbeigeführte Wechsel ihrer Tarifposition für ihre wesentliche Be- oder Verarbeitung spricht, kann auch ohne einen solchen Positionswechsel eine wesentliche Be- oder Verarbeitung gegeben sein. Das Kriterium des Wechsels der Tarifposition erfasst die meisten Sachverhalte, ermöglicht jedoch nicht, alle Sachverhalte festzustellen, in denen eine wesentliche Be- oder Verarbeitung der Ware vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2010, Hoesch Metals and Alloys, C‑373/08, EU:C:2010:68, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      So sieht die Primärregel, um den Ursprung von Waren der Unterposition 7304 41 HS zuzuerkennen, neben dem Kriterium des Wechsels der Tarifposition das Kriterium des Wechsels von Hohlprofilen der Unterposition 7304 49 HS vor, mit dem das erste Kriterium vervollständigt und berichtigt werden soll (vgl. entsprechend Urteil vom 23. März 1983, Cousin u. a., 162/82, EU:C:1983:93, Rn. 17).

60      In Übereinstimmung mit dem vorlegenden Gericht ist jedoch festzustellen, dass das Hohlprofile-Kriterium eine Ungleichbehandlung begründet. Nach diesem Kriterium bestimmt nämlich die Kaltumformung eines Erzeugnisses der Unterposition 7304 49 HS, dessen äußere und innere Querschnitte nicht dieselbe Form aufweisen und das somit ein „Hohlprofil“ im Sinne der Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 73 darstellt, in ein Erzeugnis mit den gleichen Formen, dessen Eigenschaften aber aufgrund dieser Formgebung unterschiedlich sind und das somit auch ein „Hohlprofil“ im Sinne dieser Erläuterungen darstellt, den Ursprung des Enderzeugnisses, so dass dieses als Ergebnis einer „wesentlichen Be- oder Verarbeitung“ im Sinne von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex gilt. Hingegen bestimmt die Kaltumformung eines ebenfalls zu Unterposition 7304 49 HS gehörenden Erzeugnisses, das ein konzentrisches Hohlerzeugnis mit einem Querschnitt derselben inneren und äußeren Form ist und somit ein „Rohr“ im Sinne der Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 73 darstellt, in ein Erzeugnis mit denselben Formen, dessen Eigenschaften aber aufgrund dieser Formgebung auch unterschiedlich sind und das somit ein anderes „Rohr“ im Sinne dieser Erläuterungen darstellt, nicht den Ursprung des Enderzeugnisses. Nach dem Hohlprofile-Kriterium gilt somit nur das letztgenannte Erzeugnis nicht als das Ergebnis einer wesentlichen Verarbeitung im Sinne von Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex.

61      Da die Kommission keine überzeugende Rechtfertigung zur objektiven Erklärung der unterschiedlichen Behandlung von Rohren auf der einen und Hohlprofilen auf der anderen Seite, die alle zur Unterposition 7304 41 HS gehören und aus Erzeugnissen der Unterposition 7304 49 HS hergestellt wurden, angeführt hat, erscheint es widersprüchlich und diskriminierend, dass nach der Primärregel die Kaltumformung den Ursprung von Hohlprofilen unter Rückgriff auf ein alternatives Kriterium bestimmen kann, während die gleiche Art der Umformung, wird sie bei Rohren angewandt, deren Ursprung nur unter Rückgriff auf ein einziges, erheblich strengeres Kriterium bestimmen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 23. März 1983, Cousin u. a., 162/82, EU:C:1983:93, Rn. 17).

62      Diese Schlussfolgerung wird durch die Feststellung im 33. Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung 2017/2093 bestätigt, wonach Rohre durch ihre Kaltumformung wesentlich be- und verarbeitet werden. Diese Feststellung beruht nämlich auf der Beobachtung, dass die Kaltumformung irreversible Änderungen in Bezug auf die materiellen, mechanischen und metallurgischen Eigenschaften von Rohren mit sich bringt. Solche Änderungen können aber den Warenursprung bestimmen, wie sich aus der in Rn. 54 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt.

63      Zudem beruht die gegenteilige Behauptung der Kommission im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens, wonach eine Kaltumformung die metallurgischen Eigenschaften von Rohren nicht verändere, auf keiner objektiv nachprüfbaren Grundlage und wird jedenfalls durch die Ausführungen in Nr. IV Buchst. B Abs. 2 des Abschnitts „Allgemeines“ der Erläuterungen zum HS zu dessen Kapitel 72 widerlegt.

64      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass, soweit die Primärregel es ausschließt, dass der Wechsel der Tarifposition, der sich aus der Verarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 49 HS zu kaltgezogenen oder kaltgewalzten Rohren und Hohlprofilen, nahtlos, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl der Unterposition 7304 41 HS, ergibt, Letzteren die Eigenschaft von Erzeugnissen mit Ursprung in dem Land verleiht, in dem dieser Wechsel stattgefunden hat, sie nicht mit Art. 60 Abs. 2 des Zollkodex vereinbar ist, so dass die Kommission mit dem Erlass dieser Regel einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat.

65      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Primärregel ungültig ist, soweit sie es ausschließt, dass bestimmte Tätigkeiten einem Erzeugnis die Eigenschaft eines Erzeugnisses mit Ursprung in dem Land, in dem diese Tätigkeiten stattgefunden haben, verleihen, obwohl entsprechende Tätigkeiten den Ursprungserwerb für ähnliche Erzeugnisse bestimmen (vgl. entsprechend Urteil vom 23. März 1983, Cousin u. a., 162/82, EU:C:1983:93, Rn. 20 und 21).

66      Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Primärregel ungültig ist, soweit sie es ausschließt, dass der Wechsel der Tarifposition, der sich aus der Verarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 49 HS zu kaltgezogenen oder kaltgewalzten Rohren und Hohlprofilen, nahtlos, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl der Unterposition 7304 41 HS, ergibt, Letzteren die Eigenschaft von Erzeugnissen mit Ursprung in dem Land verleiht, in dem dieser Wechsel stattgefunden hat.

 Zur dritten Frage

67      Die dritte Frage beruht auf der Prämisse, dass die Primärregel zumindest in Bezug auf das Kriterium des Wechsels von Hohlprofilen der Unterposition 7304 49 ungültig ist. Aus der Antwort auf die zweite Frage ergibt sich aber, dass dieses Kriterium der Primärregel nur ungültig ist, soweit es den Wechsel von Rohren der Unterposition 7304 49 HS von der Bestimmung des Ursprungs eines Enderzeugnisses der Unterposition 7304 41 HS ausnimmt, was bedeutet, dass die Primärregel auch für einen solchen Wechsel gilt. Daher ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

68      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Primärregel für Waren der Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems zur Bezeichnung und Codierung der Waren in Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2018/1063 der Kommission vom 16. Mai 2018 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

der Begriff „Hohlprofil“ im Sinne dieser Regel eine warmverformte „Rohrluppe“, gerade und von gleichmäßiger Wanddicke, die die Anforderungen einer technischen Norm für nahtlose warmgefertigte Rohre aus nicht rostendem Stahl nicht erfüllt und aus der durch Kaltverarbeitung Rohre mit anderem Querschnitt und anderer Wanddicke hergestellt werden, die unter die Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems zur Bezeichnung und Codierung der Waren fallen, nicht erfasst.

2.      Die Primärregel für Waren der Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems zur Bezeichnung und Codierung der Waren in Anhang 22-01 der Delegierten Verordnung 2015/2446 in der durch die Delegierte Verordnung 2018/1063 geänderten Fassung ist ungültig, soweit sie es ausschließt, dass der Wechsel der Tarifposition, der sich aus der Verarbeitung von Rohren der Unterposition 7304 49 des Harmonisierten Systems zu kaltgezogenen oder kaltgewalzten Rohren und Hohlprofilen, nahtlos, aus Eisen (ausgenommen Gusseisen) oder Stahl der Unterposition 7304 41 des Harmonisierten Systems, ergibt, Letzteren die Eigenschaft von Erzeugnissen mit Ursprung in dem Land verleiht, in dem dieser Wechsel stattgefunden hat.

Gratsias

Rodin      

Spineanu-Matei

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. September 2023.

Der Kanzler

 

Für den Kammerpräsidenten

A. Calot Escobar

 

D. Gratsias


*      Verfahrenssprache: Deutsch.