Language of document : ECLI:EU:C:2018:282

Rechtssache C34/17

Eamonn Donnellan

gegen

The Revenue Commissioners

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland)]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen – Richtlinie 2010/24/EU – Art. 14 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Möglichkeit für die ersuchte Behörde, die Amtshilfe bei der Beitreibung abzulehnen, weil die Entscheidung, auf der die Forderung beruht, nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 26. April 2018

1.        Rechtsangleichung – Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuerforderungen – Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – Tragweite – Einschränkungen – Enge Auslegung

(Richtlinie 2010/24 des Rates)

2.        Rechtsangleichung – Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuerforderungen – Beitreibungs- oder Sicherungsmaßnahmen – Streitigkeiten – Befugnis der ersuchten Behörde – Befugnis, die Amtshilfe bei der Beitreibung abzulehnen – Voraussetzungen

(Richtlinie 2010/24 des Rates, Art. 14 Abs. 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art 47)

3.        Rechtsangleichung – Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuerforderungen – Beitreibungs- oder Sicherungsmaßnahmen – Streitigkeiten – Ersuchen um Beitreibung einer Forderung, die auf einer in einem anderen Mitgliedstaat verhängten Geldbuße beruht – Ablehnung der Vollstreckung dieses Ersuchens durch die ersuchte Behörde, weil die Entscheidung, auf der die Forderung beruht, nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde – Zulässigkeit

(Richtlinie 2010/24 des Rates, Art. 14 Abs. 1 und 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

1.      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Dieser Grundsatz verlangt, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 191 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Obwohl die Richtlinie 2010/24 zum Bereich des Binnenmarkts und nicht zum Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gehört, beruht auch sie auf dem vorstehend erwähnten Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Die Durchführung der mit dieser Richtlinie eingeführten Amtshilferegelung hängt nämlich davon ab, dass zwischen den betreffenden nationalen Behörden ein solches Vertrauen besteht.

Darüber hinaus sind nach ständiger Rechtsprechung die Beschränkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens eng auszulegen (vgl. u. a. Urteile vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 29, vom 16. Juli 2015, Diageo Brands, C‑681/13, EU:C:2015:471, Rn. 41, vom 25. Mai 2016, Meroni, C‑559/14, EU:C:2016:349, Rn. 38, und vom 23. Januar 2018, Piotrowski, C‑367/16, EU:C:2018:27, Rn. 48).

(vgl. Rn. 40, 41, 50)

2.      Die Richtlinie 2010/24 verleiht den Instanzen des ersuchten Mitgliedstaats keineswegs eine Befugnis zur Überprüfung der Handlungen des ersuchenden Mitgliedstaats, sondern beschränkt in ihrem Art. 14 Abs. 2 die Prüfungsbefugnis dieser Instanzen ausdrücklich auf die Handlungen des ersuchten Mitgliedstaats.

Die von den Mitgliedstaaten gemäß der mit der Richtlinie 2010/24 geschaffenen Amtshilferegelung getroffenen Maßnahmen müssen zwar mit den Grundrechten der Union, zu denen das in Art. 47 der Charta genannte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gehört, im Einklang stehen, doch ergibt sich daraus nicht, dass die Handlungen des ersuchenden Mitgliedstaats sowohl vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats als auch vor denen des ersuchten Mitgliedstaats anfechtbar sein müssen.. Vielmehr trägt die Amtshilferegelung, die sich namentlich auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stützt, dazu bei, die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für Streitigkeiten zuständig ist, zu erhöhen und damit das forum shopping zu vermeiden (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2011, N.S.u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 79).

Folglich kann der Rechtsbehelf, den der Betroffene im ersuchten Mitgliedstaat gegen das von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats zur Beitreibung der im ersuchenden Mitgliedstaat entstandenen Forderung an ihn gerichtete Zahlungsersuchen einlegt, nicht zu einer Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Forderung führen.

Dagegen kann, wie der Gerichtshof bereits dargelegt hat, nicht ausgeschlossen werden, dass die ersuchte Behörde ausnahmsweise beschließen kann, der ersuchenden Behörde keine Amtshilfe zu leisten. So kann die Vollstreckung des Ersuchens um Beitreibung der Forderung u. a. dann abgelehnt werden, wenn sie die öffentliche Ordnung des Mitgliedstaats der ersuchten Behörde beeinträchtigen könnte (vgl., in Bezug auf Art. 12 der Richtlinie 76/308, dem Art. 14 der Richtlinie 2010/24 im Wesentlichen entspricht, Urteil vom 14. Januar 2010, Kyrian, C‑233/08, EU:C:2010:11, Rn. 42).

49      Es ist allerdings Sache des Gerichtshofs, über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren die Behörden eines Mitgliedstaats dadurch, dass sie sich auf innerstaatliche Begriffe wie die ihre öffentliche Ordnung betreffenden stützen, einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen einer durch den Unionsgesetzgeber geschaffenen Kooperationsregelung ihre Amtshilfe verweigern können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. April 2009, Apostolides, C‑420/07, EU:C:2009:271, Rn. 56 und 57, sowie vom 25. Mai 2016, Meroni, C‑559/14, EU:C:2016:349, Rn. 39 und 40).

(vgl. Rn. 44-47, 49)

3.      Art. 14 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2010/24/EU des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er eine Behörde eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, die Vollstreckung eines Ersuchens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, das die Beitreibung einer Forderung betrifft, die auf einer in einem anderen Mitgliedstaat verhängten Geldbuße beruht, mit der Begründung abzulehnen, dass die Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, dem Betroffenen nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde, bevor bei der Behörde das Beitreibungsersuchen in Anwendung der Richtlinie gestellt wurde.

Wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, erfüllt aber ein Sachverhalt, bei dem die ersuchende Behörde die Beitreibung einer Forderung beantragt, die auf einer dem Betroffenen nicht zugestellten Entscheidung beruht, nicht die in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2010/24 genannte Anforderung an ein Beitreibungsersuchen. Da nach dieser Vorschrift kein Beitreibungsersuchen im Sinne der Richtlinie gestellt werden kann, solange die Forderung und/oder der Titel für ihre Vollstreckung im ersuchenden Mitgliedstaat angefochten werden, kann ein solches Ersuchen auch dann nicht gestellt werden, wenn der Betroffene gar keine Kenntnis von der Forderung erlangt hat, da die Kenntnis von ihr eine notwendige Vorbedingung dafür darstellt, dass gegen sie vorgegangen werden kann.

Diese Auslegung wird überdies durch Art. 47 der Charta und durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der Übermittlung und Zustellung gerichtlicher Schriftstücke bestätigt. Aus dieser Rechtsprechung geht insbesondere hervor, dass zur Wahrung der in Art. 47 vorgesehenen Rechte nicht nur dafür Sorge zu tragen ist, dass der Adressat eines Schriftstücks das fragliche Schriftstück tatsächlich erhält, sondern auch dafür, dass er in die Lage versetzt wird, die Bedeutung und den Umfang der im Ausland gegen ihn erhobenen Klage tatsächlich und vollständig in einer Weise zu erfahren und zu verstehen, die es ihm ermöglicht, seine Rechte im ersuchenden Mitgliedstaat wirksam geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2015, Alpha Bank Cyprus, C‑519/13, EU:C:2015:603, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Erwägungen sind auch im Kontext der Richtlinie 2010/24 relevant. Daraus folgt, dass in einem Ausnahmefall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem eine Behörde eines Mitgliedstaats eine Behörde eines anderen Mitgliedstaats um Beitreibung einer Forderung ersucht, die auf einer Geldbuße beruht, von der der Betroffene keine Kenntnis hatte, die ersuchte Behörde zur Verweigerung der Amtshilfe bei der Beitreibung berechtigt sein kann. Die in der Richtlinie 2010/24 vorgesehene Amtshilfe ist, wie ihr Titel und mehrere Erwägungsgründe zeigen, als „gegenseitig“ einzustufen, was namentlich voraussetzt, dass es Sache der ersuchenden Behörde ist, vor der Stellung eines Beitreibungsersuchens die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die ersuchte Behörde wirksam und im Einklang mit den tragenden Grundsätzen des Unionsrechts Amtshilfe leisten kann.

(vgl. Rn. 57, 58, 61, 62 und Tenor)