Language of document : ECLI:EU:T:2016:508

Rechtssache T‑348/14

Oleksandr Viktorovych Yanukovych

gegen

Rat der Europäischen Union

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers – Begründungspflicht – Rechtsgrundlage – Verteidigungsrechte – Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz – Ermessensmissbrauch – Nichtbeachtung der Kriterien für die Aufnahme in die Liste – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Eigentumsrecht“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 15. September 2016

1.      Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Umfang der Kontrolle – Beweis für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme – Pflicht der zuständigen Unionsbehörde, im Streitfall die Stichhaltigkeit der gegen die betroffenen Personen oder Organisationen angeführten Begründung zu nachzuweisen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Beschluss 2014/119/GASP des Rates; Verordnung Nr. 208/2014 des Rates)

2.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Beschluss über das Einfrieren von Geldern – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit – Umfang – Vorschrift mit allgemeiner Geltung im Zusammenhang mit einer einzelfallbezogene restriktiven Maßnahme – Einbeziehung über eine Rechtswidrigkeitseinrede

(Art. 29 EUV; Art. 275 Abs. 2 AEUV und 277 AEUV; Beschluss 2014/119/GASP des Rates, Art. 1 Abs. 1 in der durch den Beschluss 2015/143/GASP geänderten Fassung)

3.      Gerichtliches Verfahren – Rechtsakte, die im Laufe des Verfahrens die angefochtenen Rechtsakte aufheben und ersetzen – Im Laufe des Verfahrens gestellter Antrag auf Anpassung der auf Nichtigerklärung gerichteten Anträge – Keine unmittelbare und individuelle Betroffenheit – Unzulässigkeit

(Verordnung Nr. 208/2014 des Rates in der durch die Verordnung 2015/138 geänderten Fassung)

4.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Beschluss über das Einfrieren von Geldern – Verteidigungsrechte – Mitteilung der zur Last gelegten Umstände – Folgebeschluss, mit dem der Name des Klägers in der Liste der von diesen Maßnahmen betroffenen Personen belassen wurde – Stützung dieses Beschlusses auf neue Gesichtspunkte, die im ursprünglichen Beschluss nicht aufgeführt waren – Verletzung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a und Art. 47; Beschluss 2014/119/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse 2015/143/GASP und 2015/364/GASP geänderten Fassung; Verordnung Nr. 208/2014 des Rates in der durch die Verordnungen 2015/138 und 2015/357 geänderten Fassung)

5.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren der Gelder von Personen, die an der Veruntreuung öffentlicher Gelder beteiligt waren – Beschluss, der in einem Kontext ergeht, der dem Betroffenen bekannt ist und der es ihm ermöglicht, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen – Zulässigkeit einer summarischen Begründung – Grenzen – Begründung, die nicht aus einer allgemeinen und stereotypen Formulierung bestehen darf

(Art. 296 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. c; Beschluss 2014/119/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse 2015/143/GASP und 2015/364/GASP geänderten Fassung; Verordnung Nr. 208/2014 des Rates in der durch die Verordnungen 2015/138 und 2015/357 geänderten Fassung)

6.      Recht der Europäischen Union – Werte und Ziele der Union – Werte – Achtung der Rechtsstaatlichkeit – Rechtsstaatlichkeit – Begriff

(Art. 2 EUV und 49 EUV)

7.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren der Gelder von Personen, die an der Veruntreuung öffentlicher Gelder des ukrainischen Staates beteiligt waren – Veruntreuung öffentlicher Gelder – Begriff – Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte, die geeignet sind, die institutionellen und rechtlichen Grundlagen der Ukraine und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land zu beeinträchtigen – Auslegung im Einklang mit den Zielen des EU-Vertrags

(Beschluss 2014/119/GASP des Rates, Art. 1 Abs. 1 Buchst. a in der durch den Beschluss 2015/143/GASP geänderten Fassung)

8.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Ermessensmissbrauch – Begriff

9.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren der Gelder von Personen, die an der Veruntreuung öffentlicher Gelder beteiligt waren – Einschränkung des Eigentumsrechts – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 17; Beschluss 2014/119/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse 2015/143/GASP und 2015/364/GASP geänderten Fassung; Verordnung Nr. 208/2014 des Rates in der durch die Verordnungen 2015/138 und 2015/357 geänderten Fassung)

1.      Der Rat verfügt zwar in Bezug auf die allgemeinen Kriterien, die beim Erlass restriktiver Maßnahmen anzuwenden sind, über ein weites Ermessen. Die durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle erfordert jedoch, dass der Unionsrichter bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Begründung der Entscheidung, den Namen einer bestimmten Person in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen aufzunehmen oder darin zu belassen, sich vergewissert, dass diese Entscheidung, die eine individuelle Betroffenheit dieser Person begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der der Begründung dieser Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen voraus, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht nur auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe, sondern auch auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um die betreffende Entscheidung zu stützen – hinreichend genau und konkret belegt sind.

Insoweit handelt es sich bei der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens nach der nationalen Strafprozessordnung um einen Umstand, dem der Rat Rechnung tragen kann, um die Begehung der Handlungen, die den Erlass restriktiver Maßnahmen auf der Ebene der Union rechtfertigen, festzustellen und zu beurteilen, ob der Erlass dieser Maßnahmen notwendig war, um die Wirkungen des Vorgehens der nationalen Behörden zu garantieren. Der Erlass restriktiver Maßnahmen fällt jedoch in die Zuständigkeit des Rates, der unter Berücksichtigung der Ziele der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eigenständig über die Notwendigkeit und die Zweckmäßigkeit des Erlasses derartiger Maßnahmen entscheidet, und dies unabhängig von einem dahin gehenden Antrag der Behörden des betreffenden Drittlandes und von jeder anderen von diesen auf nationaler Ebene erlassenen Bestimmung, sofern er sich auf eine gesicherte tatsächliche Grundlage stützt.

Ferner ist es im Streitfall Sache der zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person angeführten Begründung nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person, den Negativbeweis der fehlenden Stichhaltigkeit dieser Begründung zu erbringen.

(vgl. Rn. 41, 49, 107, 147, 148)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 57, 59)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 61, 62)

4.      Das Recht auf Achtung der Verteidigungsrechte – das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt ist, die nach dem EU-Vertrag den Verträgen rechtlich gleichwertig ist – umfasst den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Akteneinsicht, während der in Art. 47 der Charta verankerte Anspruch auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verlangt, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann. Folglich muss der Rat beim Erlass eines Beschlusses, durch den die Aufnahme einer Person, einer Organisation oder einer Einrichtung in die Liste der Personen, Organisationen oder Einrichtungen, gegen die restriktive Maßnahmen erlassen werden, beibehalten wird, das Recht dieser Person, Organisation oder Einrichtung auf vorherige Anhörung beachten, wenn er sich ihr gegenüber in dem Beschluss über die Beibehaltung der Aufnahme in die Liste auf neue Tatsachen stützt, d. h. auf Tatsachen, die im ursprünglichen Beschluss über die Aufnahme nicht genannt waren.

Wenn der Kläger jedoch Zugang zu den Informationen und Beweisen hatte, die den Rat dazu veranlassten, die restriktiven Maßnahmen gegen ihn aufrechtzuerhalten, und rechtzeitig dazu Stellung nehmen konnte, kann nicht auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz geschlossen werden.

(vgl. Rn. 68, 69, 72, 74)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 78-84)

6.      Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit ist, wie sich aus Art. 2 EUV und aus den Präambeln des EU-Vertrags und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergibt, einer der grundlegenden Werte, auf denen die Union beruht. Sie ist zudem nach Art. 49 EUV eine Voraussetzung für den Beitritt zur Union. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit findet sich im Übrigen auch in der Präambel der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Menschenrechtskonvention.

In der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie den Arbeiten der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht, einer Einrichtung des Europarats, findet sich eine nicht erschöpfende Aufzählung der Grundsätze und Normen, die die Rechtsstaatlichkeit ausmachen. Dazu gehören die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Verbots der Willkür der Exekutive; unabhängige und unparteiische Gerichte, eine wirksame gerichtliche Kontrolle einschließlich der Wahrung der Grundrechte sowie die Gleichheit vor dem Gesetz. Ferner wird in bestimmten Rechtsakten im Zusammenhang mit dem auswärtigen Handeln der Union, wie der Verordnung Nr. 1638/2006 zur Festlegung allgemeiner Bestimmungen zur Schaffung eines Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments, u. a. die Bekämpfung der Korruption als ein der Rechtsstaatlichkeit innewohnender Grundsatz genannt.

(vgl. Rn. 98, 99)

7.      Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass bestimmte Handlungen, die die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte betreffen, geeignet sind, die Rechtsstaatlichkeit zu beeinträchtigen; es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass jede in einem Drittland begangene Veruntreuung öffentlicher Vermögenswerte ein Eingreifen der Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit dem Ziel einer Stärkung und Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land rechtfertigt. Eine Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte kann ein Eingreifen der Union im Rahmen dieser Politik mit dem Ziel der Stärkung und Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land nur dann rechtfertigen, wenn die streitigen Handlungen geeignet sind, die institutionellen und rechtlichen Grundlagen des betreffenden Landes zu beeinträchtigen.

(vgl. Rn. 100-102)

8.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 123)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 164-169)