Language of document : ECLI:EU:C:2023:458

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

8. Juni 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 8 Abs. 4 – Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung – Verfahren in Abwesenheit – Wiederaufnahmeverfahren – Unterrichtung der in Abwesenheit verurteilten Person über ihr Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens“

In den verbundenen Rechtssachen C‑430/22 und C‑468/22

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidungen vom 28. Juni 2022 und vom 13. Juli 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2022 bzw. am 14. Juli 2022, in den Strafverfahren gegen

VB (C‑430/22),

VB (C‑468/22),

Beteiligte:

Spetsializirana prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Sechsten Kammer und des Richters T. von Danwitz,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 8 Abs. 4 Satz 2 und Art. 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Strafverfahren in Abwesenheit gegen VB wegen des Handels mit Betäubungsmitteln und wegen Waffenbesitzes in einer kriminellen Vereinigung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 9 und 39 der Richtlinie 2016/343 lauten:

„(9)      Mit dieser Richtlinie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.

(39)      Wenn ein Mitgliedstaat die Möglichkeit vorsieht, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchzuführen, aber die Voraussetzungen für eine Verurteilung in Abwesenheit eines bestimmten Verdächtigen oder einer bestimmten beschuldigten Person nicht erfüllt waren, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden konnte, etwa weil die Person geflohen oder entkommen ist, sollte es dennoch möglich sein, eine solche Entscheidung in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu erlassen und diese Entscheidung zu vollstrecken. In einem solchen Fall sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person, wenn er bzw. sie von der Entscheidung Kenntnis erlangt, insbesondere wenn er bzw. sie festgenommen wird, auch über die Möglichkeit informiert wird, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen. Diese Informationen sollten in Schriftform bereitgestellt werden. Die Informationen können auch mündlich erteilt werden, soweit die Tatsache, dass die Informationen erteilt wurden, im Einklang mit dem im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren für Aufzeichnungen festgehalten wurde.“

4        Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) dieser Richtlinie bestimmt:

(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

(2)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern

a)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder

b)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.

(3)      Eine Entscheidung, die im Einklang mit Absatz 2 getroffen wurde, kann gegen die betreffende Person vollstreckt werden.

(4)      Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einem solchen Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden.

(5)      Dieser Artikel gilt unbeschadet nationaler Vorschriften, die vorsehen, dass der Richter oder das zuständige Gericht einen Verdächtigen oder eine beschuldigte Person zeitweise von der Verhandlung ausschließen kann, wenn dies für die Sicherstellung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Strafverfahrens erforderlich ist, vorausgesetzt, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden.

(6)      Dieser Artikel gilt unbeschadet der nationalen Vorschriften, die vorsehen, dass das Verfahren oder bestimmte Verfahrensabschnitte schriftlich durchgeführt werden, vorausgesetzt, dass das Recht auf ein faires Verfahren gewahrt bleibt.“

5        Art. 9 („Recht auf eine neue Verhandlung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. In diesem Zusammenhang stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht haben, anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

 Bulgarisches Recht

6        Art. 423 Abs. 1 bis 4 des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) sieht vor:

„(1)      Innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnisnahme von dem rechtskräftigen Strafurteil … kann die in Abwesenheit verurteilte Person unter Berufung auf ihre Abwesenheit vom Strafverfahren die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragen.

(2)      Der Antrag hat keine die Vollstreckung des Strafurteils aufschiebende Wirkung, es sei denn, das Gericht bestimmt etwas anderes.

(3)      Das Verfahren zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens wird eingestellt, wenn die in Abwesenheit verurteilte Person zur mündlichen Verhandlung ohne triftigen Grund nicht erscheint.

(4)      Ist eine in Abwesenheit verurteilte Person in Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils in Haft und nimmt das Gericht das Strafverfahren wieder auf, so befindet es in seiner Entscheidung über die freiheitsentziehende Maßnahme.“

7        Art. 425 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 NPK bestimmt:

„(1)      Wenn der Antrag auf Wiederaufnahme begründet ist, kann das Gericht:

1.      die Verurteilung, die Entscheidung, den Beschluss oder die Anordnung aufheben und die Sache zu erneuter Prüfung zurückverweisen und dabei angeben, in welchem Stadium die erneute Prüfung der Sache beginnen muss;

(2)      In den Fällen des Art. 423 Abs. 1 wird das Verfahren wiederaufgenommen und die Sache in das Stadium zurückversetzt, in dem das Verfahren in Abwesenheit begonnen hat.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8        Die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) leitete Strafverfahren gegen VB ein, dem vorgeworfen wird, zusammen mit mehreren anderen Personen an einer kriminellen Vereinigung zum Zweck des Anbaus und der Verbreitung von Betäubungsmitteln sowie des Waffenbesitzes – Tätigkeiten, bei denen es sich um Straftaten handelt, die mit einer Freiheitsstrafe bedroht sind – beteiligt gewesen zu sein.

9        Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfahren wurden in Abwesenheit von VB durchgeführt. Im Rahmen dieser Strafverfahren konnte VB nicht offiziell über die ihm zur Last gelegten Anklagepunkte informiert werden. Außerdem war es nicht möglich, ihn über die Anklageerhebung oder gar Tag und Ort der mündlichen Verhandlung sowie die Folgen seines Nichterscheinens zu unterrichten.

10      Die zuständigen nationalen Behörden konnten VB nämlich nicht auffinden, da dieser in der Phase des Ermittlungsverfahrens der Strafverfahren unmittelbar vor dem Polizeieinsatz zur Festnahme der Verdächtigen floh. VB wurde – u. a. mit Europäischem Haftbefehl – für „gesucht“ erklärt, konnte jedoch nicht aufgefunden werden.

11      Während des Ermittlungs- und des Gerichtsverfahrens der Strafverfahren wurde VB nacheinander von drei verschiedenen Pflichtverteidigern vertreten, von denen keiner ihn je gesehen oder Kontakt mit ihm oder zu seinen Verwandten hatte.

12      Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfahren sind noch anhängig und die Beweiserhebung ist nahezu abgeschlossen. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist es wahrscheinlich, dass VB am Ende dieser Strafverfahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird.

13      Das vorlegende Gericht weist u. a. darauf hin, dass gemäß Art. 423 Abs. 1 NPK die in Abwesenheit verurteilte Person innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnisnahme von ihrer Verurteilung die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen könne. Das bulgarische Recht sehe jedoch nicht vor, dass diese Person im Voraus darüber informiert werde, dass sie eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen könne. Insbesondere bestehe nach bulgarischem Recht keine Verpflichtung, in dem in Abwesenheit der beschuldigten Person ergangenen Urteil oder in einer anderen an diese Person gerichteten Verfahrenshandlung die Möglichkeit einer Beantragung der Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwähnen.

14      Außerdem sehe das bulgarische Recht für den Fall einer Verurteilung in Abwesenheit grundsätzlich kein vorher festgelegtes Recht auf Eröffnung einer neuen Verhandlung vor. Insbesondere habe das die Rechtssache prüfende und in Abwesenheit der angeklagten Person in der Sache urteilende Gericht keine rechtliche Befugnis, zu entscheiden, ob diese Person aufgrund ihrer Abwesenheit ein Recht auf eine neue Verhandlung habe. Dies gelte insofern, als die Befugnis, das Bestehen eines solchen Rechts festzustellen, im bulgarischen Recht dem Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) übertragen worden sei, der gemäß Art. 423 Abs. 1 NPK mit einem Ersuchen auf Eröffnung einer neuen Verhandlung befasst werden und dann beurteilen müsse, ob die Gründe für die Eröffnung einer neuen Verhandlung wegen Abwesenheit der beschuldigten Person vorliegen.

15      Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die in Abwesenheit verurteilte Person nach bulgarischem Recht persönlich erscheinen müsse, damit über den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens in der Sache entschieden werden könne, während Art. 9 der Richtlinie 2016/343 ein solches Erfordernis nicht vorsehe. Dieses Erfordernis schränke die Wirksamkeit des in Art. 9 der Richtlinie vorgesehenen Rechts jedoch erheblich ein, da diese Person der Gefahr ausgesetzt sei, zur Vollstreckung der in ihrer Abwesenheit ausgesprochenen Verurteilung festgenommen zu werden, wenn sie vor Gericht erscheine.

16      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es bei der Prüfung einer Rechtssache in Abwesenheit der beschuldigten Person unter Umständen, bei denen die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 offensichtlich nicht erfüllt sind, bei einer Verurteilung in Abwesenheit zum Zweck der gemäß Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie erforderlichen Unterrichtung der verurteilten Person über das Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen, diese Möglichkeit förmlich im Urteil erwähnen muss.

17      Das vorlegende Gericht führt insoweit weiter aus, dass sich bei einer Bejahung dieser Frage durch den Gerichtshof die Frage nach dem Inhalt der einer in Abwesenheit verurteilten Person zu erteilenden Information stelle.

18      Zum einen sei zu bestimmen, ob diese Person darüber unterrichtet werden müsse, dass sie bei entsprechendem Antrag ein Recht auf eine neue Verhandlung habe, und die einzige von dem diesen Antrag prüfenden Gericht vorgenommene Beurteilung die Art der Wiederaufnahme des Verfahrens betreffe, oder ob diese Person darüber unterrichtet werden müsse, dass sie eine neue Verhandlung verlangen könne und das prüfende Gericht die Begründetheit ihres Antrags beurteilen werde. Zum anderen müsse festgestellt werden, ob diese Person auch darüber zu unterrichten sei, dass sie persönlich vor dem mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens befassten Gericht erscheinen müsse, was voraussetze, dass eine solche Verpflichtung mit Art. 9 der Richtlinie 2016/343 vereinbar sei.

19      Vor diesem Hintergrund hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑430/22 folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass er das nationale Gericht, das den Angeklagten in Abwesenheit verurteilt, ohne dass die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 vorliegen, verpflichtet, auf das Recht des Angeklagten auf Wiederaufnahme des Verfahrens, das diesem gemäß Art. 9 der Richtlinie zusteht, ausdrücklich hinzuweisen, damit der Angeklagte zu einem späteren Zeitpunkt, insbesondere bei seiner Festnahme zum Zweck der Strafvollstreckung, über dieses Recht unterrichtet werden kann? Die Frage stellt sich im Hinblick darauf, dass das nationale Recht keine Unterrichtung der in Abwesenheit verurteilten Person über ihr Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens bei ihrer Festnahme zum Zweck der Strafvollstreckung vorsieht; es sieht auch keine Mitwirkung eines Gerichts bei der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung der Strafe vor.

2.      Ist Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2016/343, und insbesondere die Wendung „auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden“, dahin auszulegen, dass es sich um eine Unterrichtung über ein offiziell anerkanntes Recht auf Wiederaufnahme handelt, oder handelt es sich um eine Unterrichtung über das Recht, eine derartige Wiederaufnahme zu beantragen, wobei die Begründetheit des Antrags anschließend noch zu prüfen ist?

20      In der Rechtssache C‑468/22 hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) ebenfalls beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist mit Art. 9 der Richtlinie 2016/343 und dem Grundsatz der Effektivität eine nationale Vorschrift wie Art. 423 Abs. 3 NPK vereinbar, die eine Person, die einen Antrag auf eine neue Verhandlung stellt, weil sie abwesend war und keiner der Fälle von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie vorlag, verpflichtet, persönlich vor dem Gericht zu erscheinen, um diesen Antrag in der Sache prüfen zu lassen?

 Zum Verfahren vor dem Gerichtshof

21      Mit Schreiben vom 5. August 2022 hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mitgeteilt, dass infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst worden sei und dass bestimmte bei diesem Gericht anhängige Strafsachen, einschließlich der Ausgangsverfahren, ab diesem Zeitpunkt an ihn verwiesen worden seien.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C430/22

22      Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑430/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 ein nationales Gericht, wenn die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht erfüllt sind, verpflichtet, bei einer Verurteilung in Abwesenheit im Urteil ausdrücklich auf das Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen, hinzuweisen, damit die verurteilte Person später, insbesondere bei ihrer Festnahme zur Strafvollstreckung, über dieses Recht unterrichtet werden kann.

23      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Auffassung des vorlegenden Gerichts die Umstände der Ausgangsverfahren klar dafür sprechen, dass Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 anzuwenden ist, da die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht erfüllt sind.

24      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, sowie gegebenenfalls ihre Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers, C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere sind auch die Erwägungsgründe des betreffenden Unionsrechtsakts zu berücksichtigen, da diese den Willen des Gesetzgebers erhellen und wichtige Auslegungselemente sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 32).

25      Was den Wortlaut von Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 angeht, so heißt es in dieser Vorschrift, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil die verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, vorsehen können, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann.

26      Wie Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie klarstellt, ist es in diesem Fall wichtig, dass dem Betroffenen sowohl das Recht auf eine neue Verhandlung als auch die Möglichkeit, die in seiner Abwesenheit ergangene Entscheidung anzufechten, zu dem Zeitpunkt zur Kenntnis gebracht werden, zu dem er über diese Entscheidung unterrichtet wird.

27      Wie die Europäische Kommission zutreffend ausführt, bestimmt diese Vorschrift jedoch nicht die genauen Modalitäten für diese Unterrichtung des Betroffenen, sondern sie sieht lediglich vor, dass diese Unterrichtung zu erfolgen hat, wenn der Betroffene – insbesondere bei seiner Festnahme, da die Festnahme für gewöhnlich dem Auffinden der gesuchten Person folgt – über die in seiner Abwesenheit ergangene Entscheidung informiert wird.

28      Dies wird auch durch den 39. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 bestätigt, wonach diese Informationen in Schriftform bereitgestellt werden sollten, aber auch mündlich erteilt werden können, soweit die Tatsache, dass diese Informationen erteilt wurden, im Einklang mit dem im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren für Aufzeichnungen festgehalten wurde.

29      Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343 nur zum Ziel hat, gemeinsame Mindestvorschriften festzulegen, und daher keine abschließende Harmonisierung des Strafverfahrens vornimmt. Jedoch dürfen die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten nicht das Ziel dieser Richtlinie beeinträchtigen, das darin besteht, ein faires Verfahren zu gewährleisten und es dem Betroffenen zu ermöglichen, im Sinne von Art. 8 oder Art. 9 der Richtlinie in seiner Verhandlung anwesend zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 43).

30      Folglich verpflichtet die Richtlinie 2016/343 das Gericht, das in Abwesenheit des nicht aufzufindenden Betroffenen entscheidet, nicht dazu, in die Entscheidung die Informationen betreffend das Recht auf eine neue Verhandlung und die Möglichkeit der Anfechtung dieser Entscheidung aufzunehmen. Die Wahl der Modalitäten, wie diese Informationen den Betroffenen zur Verfügung zu stellen sind, bleibt nämlich den Mitgliedstaaten überlassen, solange sie dem Betroffenen zu dem Zeitpunkt zur Kenntnis gebracht werden, zu dem er über die fragliche Entscheidung unterrichtet wird.

31      Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage in der Rechtssache C‑430/22 zu antworten, dass Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht, wenn die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht erfüllt sind, nicht verpflichtet, bei einer Verurteilung in Abwesenheit im Urteil ausdrücklich auf das Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen, hinzuweisen.

 Zur zweiten Vorlagefrage in der Rechtssache C430/22 und zur Vorlagefrage in der Rechtssache C468/22

32      Da der Gerichtshof die erste Vorlagefrage in der Rechtssache C‑430/22 verneint hat, brauchen die zweiten Frage in dieser Rechtssache und die Vorlagefrage in der Rechtssache C‑468/22 nicht beantwortet zu werden, weil sich – wie in Rn. 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt – nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nur bei einer Bejahung der ersten Vorlagefrage die Frage nach dem – in Rn. 18 des vorliegenden Urteils erörterten – Inhalt der einer in Abwesenheit verurteilten Person zu erteilenden Informationen stellt.

 Kosten

33      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht erfüllt sind, nicht verpflichtet ist, bei einer Verurteilung in Abwesenheit im Urteil ausdrücklich auf das Recht, eine neue Verhandlung zu verlangen, hinzuweisen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.