Language of document : ECLI:EU:C:2024:391

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 8. Mai 2024(1)

Rechtssachen C717/22 und C372/23

SISTEM LUX OOD

und

VU

gegen

Teritorialna direktsia Mitnitsa Burgas

(Vorabentscheidungsersuchen des Rayonen sad Svilengrad [Rayongericht Svilengrad, Bulgarien] und des Administrativen sad Haskovo [Verwaltungsgericht Haskovo, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion und freier Warenverkehr – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollrechtliche Zuwiderhandlung – Verwaltungsrechtliche Sanktionen – Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen – Nationale Vorschrift, die die Einziehung des Gegenstands der zollrechtlichen Zuwiderhandlung vorsieht – Einem Dritten gehörende Gegenstände“






1.        Im Rahmen dieser zwei Vorabentscheidungsersuchen legen zwei bulgarische Gerichte dem Gerichtshof ihre Fragen zur Auslegung der Regelung über Zuwiderhandlungen und Sanktionen vor, die in der Verordnung (EU) Nr. 952/2013(2) enthalten ist.

2.        Im Wesentlichen wollen diese Gerichte mit ihren Fragen wissen, a) ob Vorsatz ein zwingendes Tatbestandsmerkmal der Zuwiderhandlung darstellt, die in der unterlassenen Übermittlung der in Art. 15 des Zollkodex vorgesehenen Informationen an die Zollbehörden besteht, und b) ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die unter Umständen wie denen der Ausgangsrechtsstreitigkeiten als Sanktion für die Nichterfüllung der zollrechtlichen Pflichten die Einziehung der Waren vorsieht.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Rahmenbeschluss 2005/212/JI(3)

3.        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) vierter Gedankenstrich definiert die „‚Einziehung‘ [als] eine Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht im Anschluss an ein eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes Verfahren angeordnet wurde und die zur endgültigen Einziehung von Vermögensgegenständen führt“(4).

2.      Zollkodex

4.        Der 38. Erwägungsgrund lautet:

„Es ist angebracht, dem guten Glauben des Beteiligten in den Fällen, in denen eine Zollschuld auf einer Nichteinhaltung zollrechtlicher Vorschriften beruht, Rechnung zu tragen und die Folgen fahrlässigen Verhaltens des Zollschuldners auf ein Mindestmaß abzumildern.“

5.        Der 45. Erwägungsgrund sieht vor:

„Es ist angebracht, dass die Vorschriften über die Zerstörung oder sonstige Verwertung von Waren durch die Zollbehörden auf Unionsebene festgelegt werden, da für die bisher einzelstaatliche Rechtsvorschriften erforderlich waren.“

6.        Art. 15 („Übermittlung von Informationen an die Zollbehörden“) bestimmt:

„(1)      Auf Verlangen der Zollbehörden und innerhalb der gesetzten Frist übermitteln die unmittelbar oder mittelbar an der Erfüllung von Zollformalitäten oder an Zollkontrollen beteiligten Personen den Zollbehörden in geeigneter Form alle erforderlichen Unterlagen und Informationen und gewähren ihnen die erforderliche Unterstützung, damit diese Formalitäten oder Kontrollen abgewickelt werden können.

(2)      Der Beteiligte ist mit Abgabe einer Zollanmeldung, einer Anmeldung zur vorübergehenden Verwahrung, einer summarischen Eingangsanmeldung, einer summarischen Ausgangsanmeldung, einer Wiederausfuhranmeldung oder einer Wiederausfuhrmitteilung einer Person an die Zollbehörden, oder mit Stellung eines Antrags auf eine Bewilligung oder eine sonstige Entscheidung für alle folgenden Umstände verantwortlich:

a)      für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen in der Anmeldung, der Mitteilung oder dem Antrag,

b)      für die Echtheit, die Richtigkeit und die Gültigkeit jeder der Anmeldung, der Mitteilung oder dem Antrag beigefügten Unterlage,

c)      gegebenenfalls für die Erfüllung aller Pflichten im Zusammenhang mit der Überführung der Waren in das betreffende Zollverfahren oder aus der Durchführung der bewilligten Vorgänge.

Unterabsatz 1 gilt auch für die Bereitstellung von Informationen in anderer von den Zollbehörden verlangter oder ihnen übermittelter Form.

Erfolgt die Abgabe der Zollanmeldung oder der Mitteilung, die Antragstellung oder die Übermittlung der Informationen durch einen Zollvertreter des Beteiligten gemäß Artikel 18, so gelten die Pflichten nach Unterabsatz 1 des vorliegenden Absatzes auch für den Zollvertreter.“

7.        In Art. 42 („Anwendung von Sanktionen“) heißt es:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat sieht Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

(2)      Werden verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt, so können sie unter anderem in einer oder beiden folgenden Formen erfolgen:

a)      als eine von den Zollbehörden auferlegte finanzielle Belastung, gegebenenfalls auch an Stelle oder zur Abwendung einer strafrechtlichen Sanktion,

b)      als Widerruf, Aussetzung oder Änderung einer dem Beteiligten erteilten Bewilligung.

…“

8.        Art. 79 („Entstehen der Zollschuld bei Verstößen“) Abs. 1 sieht vor:

„Für einfuhrabgabenpflichtige Waren entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn Folgendes nicht erfüllt ist:

a)      eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung oder auf die Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung dieser Waren in diesem Gebiet,

b)      eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf die Endverwendung von Waren innerhalb des Zollgebiets der Union,

c)      eine Voraussetzung für die Überführung von Nicht-Unionswaren in ein Zollverfahren oder für die Gewährung der vollständigen oder teilweisen Befreiung von den Einfuhrabgaben aufgrund der Endverwendung der Waren.“

9.        Art. 158 („Zollanmeldung von Waren und zollamtliche Überwachung von Unionswaren“) bestimmt:

„(1)      Für alle Waren, die in ein Zollverfahren – mit Ausnahme des Freizonenverfahrens – übergeführt werden sollen, ist eine Zollanmeldung zu dem jeweiligen Verfahren erforderlich.

(2)      In bestimmten Fällen, jedoch nicht in den Fällen nach Artikel 6 Absatz 3, kann eine Zollanmeldung unter Verwendung anderer Mittel als der elektronischen Datenverarbeitung abgegeben werden.

(3)      Zur Ausfuhr, zum internen Unionsversand oder zur passiven Veredelung angemeldete Unionswaren unterliegen ab der Annahme der in Absatz 1 genannten Zollanmeldung bis zum Zeitpunkt ihres Verbringens aus dem Zollgebiet der Union, ihrer Aufgabe zugunsten der Staatskasse, ihrer Zerstörung oder der Ungültigerklärung der Zollanmeldung der zollamtlichen Überwachung.“

10.      In Art. 198 („Von den Zollbehörden zu treffende Maßnahmen“) ist bestimmt:

„(1)      Die Zollbehörden treffen die erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Einziehung und Veräußerung oder Zerstörung, um die Waren zu verwerten:

a)      wenn eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union nicht erfüllt wurde oder die Waren der zollamtlichen Überwachung vorenthalten wurden,

…“

11.      Art. 233 („Pflichten des Inhabers des Unionsversandverfahrens und des Beförderers und Warenempfängers hinsichtlich der im Unionsversand beförderten Waren“) Abs. 3 lautet:

„Ein Beförderer oder Warenempfänger, der die Waren annimmt und weiß, dass sie im Unionsversandverfahren befördert werden, ist ebenfalls verpflichtet, sie innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Einhaltung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen.“

B.      Nationales Recht. Zakon za mitnitsite (Zollgesetz)

12.      Nach Art. 231 werden Entscheidungen über eine verwaltungsrechtliche Sanktion vom Direktor der Zollagentur oder von den von diesem benannten Bediensteten erlassen.

13.      In Art. 233 ist bestimmt:

„(1)      Wer Waren ohne Wissen oder Genehmigung der Zollbehörden über die Staatsgrenze mitführt oder befördert oder dies versucht, wird, sofern die begangene Handlung keine Straftat darstellt, wegen Zollschmuggels mit einer Geldstrafe von 100 bis 200 % des Zollwertes der Waren oder – im Fall der Ausfuhr – des Wertes der Waren bestraft.

(6)      Waren, die Gegenstand des Schmuggels sind, unterliegen ungeachtet der Eigentumsverhältnisse der Einziehung; falls sie nicht vorhanden sind oder veräußert wurden, wird gegen [den Täter] eine Geldstrafe verhängt, deren Höhe dem Zollwert der Waren oder – im Fall der Ausfuhr – dem Wert der Waren entspricht.

…“

II.    Sachverhalte, Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

14.      Am 28. Mai 2021 meldete sich der serbische Staatsangehörige VU, der als Fahrer eines mit Aluminiumprofilen beladenen Sattelschleppers von der Türkei nach Serbien unterwegs war, an einer bulgarischen Zollkontrollstelle.

15.      Bei der Überprüfung der Zolldokumente und dem Wiegen des Fahrzeugs wurde festgestellt, dass offensichtlich mehr Waren geladen waren, als in diesen Dokumenten angegeben waren.

16.      Bei der Durchführung der entsprechenden Inspektion wurde ermittelt, dass sich im Laderaum des Fahrzeugs 13 Paletten mit Aluminiumprofilen befanden. Gemäß den Unterlagen entsprachen fünf dieser Paletten vollständig der Ladung eines bestimmten versendenden Unternehmens. Die auf den restlichen acht Paletten befindlichen Profile, die von einem anderen Unternehmen versendet wurden, waren nicht angemeldet worden.

17.      Diese Sachverhalte waren die Grundlage von zwei Vorabentscheidungsverfahren, in deren Rahmen jedes der befassten Gerichte beschloss, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten.

A.      Rechtssache C717/22

18.      Am 28. Mai 2021 leitete die Teritorialna direktsia „Juzhna morska“ (Gebietsdirektion „Juzhna morska“) gegen den Fahrer des Sattelschleppers wegen des Verstoßes gegen Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes ein Verwaltungsstrafverfahren ein. Die nicht angemeldeten Aluminiumplatten sowie der Sattelschlepper wurden beschlagnahmt.

19.      Das Verwaltungsstrafverfahren wurde ausgesetzt, da wegen dieser Sachverhalte ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war.

20.      Nach der abschließenden Feststellung, dass keine Straftat vorlag, und der Wiederaufnahme des Verwaltungsstrafverfahrens kam die Verwaltungsbehörde zu dem Schluss, dass das Verhalten des Fahrers (d. h. der Transport der Aluminiumplatten ohne Wissen und Genehmigung der Zollbehörde über die nationale Grenze) den Tatbestand der Zuwiderhandlung nach Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes erfüllt habe.

21.      Infolgedessen wurde von der Verwaltungsbehörde

–      gegen den Fahrer als Verwaltungsstrafe eine Geldbuße in Höhe von 73 140,06 bulgarischen Leva (BGN) (rund 37 400 Euro), was einem Wert von 100 % des Zollwerts der Ware entsprach, verhängt und

–      gemäß Art. 233 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes die Einziehung der Aluminiumplatten und die Rückgabe des Sattelschleppers an dessen Eigentümer, einem an dem Sachverhalt nicht beteiligten Dritten, angeordnet.

22.      Das Unternehmen Sistem Lux, die Eigentümerin der eingezogenen Waren, hat diese Entscheidung beim Rayonen sad Svilengrad (Rayongericht Svilengrad, Bulgarien) angefochten, woraufhin dieses Gericht beschlossen hat, dem Gerichtshof drei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, von denen ich die zwei ersten Fragen wiedergebe:

1.      Ist Art. 42 Abs. 2 des Zollkodex, der abschließend die Arten von Verwaltungssanktionen nennt, die bei Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften verhängt werden können, in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die des Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes unzulässig ist, die als zusätzliche Verwaltungssanktion die Einziehung (Entziehung des Eigentums zugunsten des Staates) des Gegenstands der Zuwiderhandlung vorsieht? Ist die Einziehung des Gegenstands der Zuwiderhandlung in den Fällen zulässig, in denen der eingezogene Vermögensgegenstand einer anderen Person als dem Zuwiderhandelnden gehört?

2.      Ist Art. 42 Abs. 1 des Zollgesetzes in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die des Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes, die neben der Sanktion „Geldbuße“ als zusätzliche Sanktion die Einziehung (Entziehung des Eigentums zugunsten des Staates) des Gegenstands der Zuwiderhandlung vorsieht, in folgenden Fällen als unverhältnismäßiger sanktionierender Eingriff in das Eigentumsrecht, der außer Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel steht, unzulässig ist: allgemein in den Fällen, in denen der eingezogene Vermögensgegenstand, der Gegenstand der Zuwiderhandlung war, dem Zuwiderhandelnden gehört, und in den Fällen, in denen er einem Dritten gehört, der nicht der Zuwiderhandelnde ist, und insbesondere in den Fällen, in denen der Täter die Zuwiderhandlung nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig begangen hat?

B.      Rechtssache C372/23

23.      VU, der Beförderer, auf den in der Rechtssache C‑717/22 Bezug genommen wird, focht beim Rayonen sad Svilengrad (Rayongericht Svilengrad) sowohl die verhängte Geldbuße als auch die Einziehung der Waren an. Seine Klage wurde mit Urteil vom 17. Januar 2022 abgewiesen.

24.      Gegen das erstinstanzliche Urteil hat VU beim Administrativen sad Haskovo (Verwaltungsgericht Haskovo, Bulgarien) Rechtsmittel eingelegt, das beschlossen hat, dem Gerichtshof fünf Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, von denen ich die ersten vier wiedergebe:

1.      Ist Art. 15 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes in Verbindung mit Art. 7 des Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungsstrafen) entgegensteht, die in Fällen einer wegen Sorgfaltswidrigkeit begangenen zollrechtlichen Zuwiderhandlung durch Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Form der Anmeldung von über die Staatsgrenze beförderten Waren die Verhängung einer Sanktion für nicht vorsätzlich begangenen Schmuggel vorsieht? Ist eine nationale Regelung zulässig, die es in solchen Fällen erlaubt, die Zuwiderhandlung als fahrlässig begangenen Zollschmuggel einzustufen, oder ist Vorsatz ein zwingendes Tatbestandsmerkmal des Zollschmuggels?

2.      Ist Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes in Verbindung mit Art. 7 des Gesetzes über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungsstrafen entgegensteht, wonach eine unter den Begriff „Zollschmuggel“ fallende, erstmalige Zuwiderhandlung unabhängig davon, ob sie vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde, mit einer Sanktion gleicher Art und Höhe, nämlich einer „Geldbuße“ in Höhe von 100 % bis 200 % des Zollwerts des Gegenstands der Zuwiderhandlung, geahndet werden kann?

3.      Ist Art. 42 Abs. 2 des Zollkodex dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes entgegensteht, die als zusätzliche Verwaltungssanktion die Einziehung (Entziehung des Eigentums zugunsten des Staates) der Waren oder Sachen vorsieht, die Gegenstand der Zuwiderhandlung waren und deren Besitz nicht verboten ist? Ist die Einziehung des Gegenstands der Zuwiderhandlung in den Fällen zulässig, in denen der eingezogene Vermögensgegenstand einer anderen Person als dem Zuwiderhandelnden gehört?

4.      Ist Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex in Verbindung mit Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die des Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes, die neben der Sanktion „Geldbuße“ als zusätzliche Sanktion die Einziehung (Entziehung des Eigentums zugunsten des Staates) der Waren oder Sachen, die Gegenstand der Zuwiderhandlung waren und deren Besitz nicht verboten ist, vorsieht, in folgenden Fällen als unverhältnismäßiger sanktionierender Eingriff in das Eigentumsrecht, der außer Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel steht, unzulässig ist: allgemein in den Fällen, in denen der eingezogene Vermögensgegenstand, der Gegenstand der Zuwiderhandlung war, dem Zuwiderhandelnden gehört, und in den Fällen, in denen er einem Dritten gehört, der nicht der Zuwiderhandelnde ist, und insbesondere, wenn der Zuwiderhandelnde die Zuwiderhandlung nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig begangen hat?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

25.      Das der Rechtssache C‑717/22 zugrunde liegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 23. November 2022 beim Gerichtshof eingegangen.

26.      Sistem Lux, die Teritorialna direktsia Mitnitsa Burgas (Gebietsdirektion Zollamt Burgas, Bulgarien), die bulgarische, die italienische und die lettische Regierung sowie die Europäische Kommission haben in diesem Verfahren Erklärungen abgegeben.

27.      Das der Rechtssache C‑372/23 zugrunde liegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 13. Juni 2023 beim Gerichtshof eingegangen.

28.      Die Teritorialna direktsia Mitnitsa Burgas (Gebietsdirektion Zollamt Burgas, Bulgarien), die belgische, die bulgarische, die spanische und die italienische Regierung sowie die Kommission haben in diesem zweiten Verfahren Erklärungen abgegeben.

29.      Die beiden Rechtssachen sind aufgrund ihres Zusammenhangs zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

30.      Der Gerichtshof hat die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nicht für erforderlich erachtet und darum ersucht, dass sich die Schlussanträge auf die zwei ersten Fragen in der Rechtssache C‑717/22 – diese Fragen entsprechen im Wesentlichen der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑372/23 – und auf die zwei ersten Fragen in der Rechtssache C‑372/23 konzentrieren.

IV.    Würdigung

31.      Die zwei ersten Fragen in der Rechtssache C‑717/22 betreffen die unionsrechtliche Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift, die für den besonderen Fall der zollrechtlichen Zuwiderhandlung eine Einziehung der betroffenen Ware vorsieht.

32.      Die zwei ersten Fragen in der Rechtssache C‑372/23 betreffen die unionsrechtliche Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift, die für Zuwiderhandlungen des Zollschmuggels die Verhängung einer bestimmten Sanktion vorsieht.

33.      Ich werde zunächst die Vorlagefragen betreffend die Hauptsanktion (Rechtssache C‑372/23) würdigen und mich danach mit den Vorlagefragen in Bezug auf die Einziehung (Rechtssachen C‑717/22 und C‑372/23) befassen.

34.      Dabei werde ich nicht die Auswirkung der Art. 17 Abs. 1 und 49 Abs. 3 der Charta prüfen, da die vorlegenden Gerichte keine Gründe anführen, weshalb sie konkret um eine Auslegung dieser Vorschriften ersuchen.

A.      Ahndung der Verletzung der Pflicht zur Übermittlung von Zollinformationen (erste und zweite Vorlagefrage in der Rechtssache C372/23)

35.      Das vorlegende Gericht stellt die Frage, ob eine nationale Vorschrift, die für eine fahrlässig begangene zollrechtliche Zuwiderhandlung eine Sanktion vorsieht, die als nicht vorsätzlich begangener Schmuggel eingestuft wird, mit dem Unionsrecht (insbesondere mit Art. 15 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex) vereinbar ist.

36.      Konkret will dieses Gericht wissen,

–      ob Vorsatz ein zwingendes Tatbestandsmerkmal der Zuwiderhandlung des Zollschmuggels ist (erste Frage) und

–      ob Zollschmuggel mit einer Sanktion „gleicher Art und Höhe“ geahndet werden kann, unabhängig davon, ob diese Zuwiderhandlung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde (zweite Frage).

37.      Ich möchte darauf hinweisen, dass gegen VU wegen einer Verletzung von Art. 233 Abs. 1 des Zollgesetzes eine Sanktion verhängt wurde. Diese Vorschrift regelt in Bulgarien die Beförderung von Waren über die Staatsgrenze ohne Wissen oder Genehmigung der Zollbehörden. Sie erfasst die Nichterfüllung der Verpflichtung zur Übermittlung der in Art. 15 des Zollkodex vorgesehenen Informationen an die Zollbehörden(5). Eine Verletzung dieser Pflicht liegt vor, wenn die übermittelte Information unrichtig ist, weil sie nicht dem tatsächlichen Inhalt der Warenladung entspricht.

38.      Auch wenn die Vorlageentscheidung darüber keine Feststellungen enthält, ist doch offensichtlich davon auszugehen, dass die aus der Türkei kommenden beförderten Waren nach Serbien geliefert werden sollten, so dass Bulgarien nur ein Transitland war. In diesem Fall wäre Art. 158 des Zollkodex die vorrangig anwendbare unionsrechtliche Vorschrift.

39.      Dieser Artikel sieht vor, dass für alle Waren, die in ein Zollverfahren – mit Ausnahme des Freizonenverfahrens – übergeführt werden sollen, eine entsprechende Zollanmeldung erforderlich ist (Abs. 1) und dass diese Waren ab der Annahme dieser Anmeldung bis zum Zeitpunkt ihres Verbringens aus dem Zollgebiet der Union, ihrer Aufgabe zugunsten der Staatskasse, ihrer Zerstörung oder der Ungültigerklärung der Zollanmeldung der zollamtlichen Überwachung unterliegen (Abs. 3).

40.      Nach Art. 233 Abs. 3 des Zollkodex ist der Beförderer von Transitwaren verpflichtet, diese Waren innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Einhaltung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen(6).

41.      Die Nichterfüllung der Pflichten zur zuverlässigen Anmeldung der Waren, die VU im Versandverfahren beförderte, stellte nach der Ansicht des vorlegenden Gerichts, die in diesem Verfahren weder von irgendeiner Seite bestritten wird noch einer Prüfung zu unterziehen ist, einen Verstoß gegen Art. 15 des Zollkodex durch diese Person dar(7).

42.      Gemäß Art. 15 Abs. 1 des Zollkodex übermitteln die unmittelbar oder mittelbar an der Erfüllung von Zollformalitäten oder an Zollkontrollen beteiligten Personen den Zollbehörden in geeigneter Form alle erforderlichen Unterlagen und Informationen und gewähren ihnen die erforderliche Unterstützung, damit diese Formalitäten oder Kontrollen abgewickelt werden können.

43.      Nach Art. 15 Abs. 2 des Zollkodex ist jeder Beteiligte mit Abgabe einer Zollanmeldung an die Zollbehörden für deren Richtigkeit und Vollständigkeit sowie für die Echtheit, die Richtigkeit und die Gültigkeit der beigefügten Unterlagen verantwortlich.

44.      Gemäß Art. 42 des Zollkodex sieht jeder Mitgliedstaat Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vor, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen.

45.      Streng genommen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um die Prüfung, ob die auferlegte Sanktion im Hinblick auf die Vorsätzlichkeit der Zuwiderhandlung mit Art. 15 des Zollkodex und im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Sanktion  als solcher mit Art. 42 Abs. 1 dieses Kodex vereinbar ist.

46.      Bei der Beantwortung der ersten dieser Fragen ist zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof festgestellt hat:

–      Die Nichtbeachtung der Verpflichtung aus Art. 15 Abs. 1 des Zollkodex stellt eine „Zuwiderhandlung gegen die zollrechtlichen Vorschriften“ im Sinne von Art. 42 Abs. 1 dieses Kodex dar.

–      „Dieser Begriff [die Nichterfüllung der zollrechtlichen Vorschriften] bezieht sich nämlich nicht nur auf betrügerische Handlungen, sondern umfasst jede Nichtbeachtung des Zollrechts der Union, unabhängig davon, ob es vorsätzlich oder fahrlässig nicht beachtet wurde oder ob der betreffende Wirtschaftsteilnehmer nicht schuldhaft gehandelt hat“(8).

47.      Wie die Kommission ausgeführt hat, gilt das Gleiche insbesondere auch für die Nichterfüllung der von Art. 158 des Zollkodex vorgesehenen Verpflichtung, nämlich die Abgabe einer dem jeweiligen Verfahren entsprechenden Zollanmeldung.

48.      Folglich stellt Vorsatz kein zwingendes Tatbestandsmerkmal des Zollschmuggels dar. Bei einem fahrlässigen Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1 des Zollkodex müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 42 des Zollkodex eine Sanktion verhängen.

49.      Die Sanktion muss jedenfalls in Bezug auf das vorliegende Verfahren gemäß Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex verhältnismäßig sein.

50.      Was das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑372/23 wissen will, betrifft weniger die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, sondern vielmehr – erneut – die Relevanz der Vorsätzlichkeit bei der Anpassung der Sanktion.

51.      Das vorlegende Gericht befasst sich nämlich nochmals mit der Vorsätzlichkeit, und zwar jetzt im Hinblick auf Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex, d. h. unter dem Blickwinkel der Sanktion und nicht mehr unter dem der Definition des Tatbestandmerkmals der Zuwiderhandlung.

52.      Das zugrunde liegende Problem bleibt aber dasselbe, nämlich die Frage, ob mit dem Zollkodex eine nationale Vorschrift vereinbar ist, die ein fahrlässiges Verhalten als zollrechtliche Zuwiderhandlung einstuft (erste Frage) und dafür eine Sanktion vorsieht, die zwischen fahrlässigem und vorsätzlichem Verhalten nicht unterscheidet (zweite Frage).

53.      Es geht daher nicht darum, ob die im Ausgangsverfahren streitige Sanktion in Bezug auf ihre konkrete Höhe oder andere Umstände verhältnismäßig war, sondern darum, ob sie in Bezug auf die Vorsätzlichkeit oder Fahrlässigkeit der Zuwiderhandlung verhältnismäßig war.

54.      Tatsächlich ist für das vorlegende Gericht von Bedeutung, ob die Handlungen „unabhängig davon, ob sie vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde[n], mit einer Sanktion gleicher Art und Höhe … geahndet werden [können]“. Für dieses Gericht ist das tatsächlich „unverhältnismäßige“ Merkmal die fehlende Unterscheidung zwischen einer vorsätzlichen und einer fahrlässigen Zuwiderhandlung.

55.      Der – nur am Rande – vorgenommene Verweis auf die Verhältnismäßigkeit der verhängten Sanktion sollte nicht davon ablenken, worum es tatsächlich geht. Denn das, was in Wirklichkeit mit den Fragen geklärt werden soll, ist, wie bereits ausgeführt, die Frage, ob die in einem Zollschmuggel bestehende Zuwiderhandlung nur dann geahndet werden kann, wenn ein vorsätzliches Verhalten zugrunde liegt, und wenn ja, unter welchen Bedingungen diese Ahnung erfolgen muss.

56.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen die nach den nationalen Rechtsvorschriften zulässigen Sanktionen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist und im Verhältnis zu diesen Zielen nicht unangemessen sein(9).

57.      Deshalb „müssen die Zollbehörden … sowohl bei der rechtlichen Einordnung der möglicherweise begangenen Zuwiderhandlung als auch gegebenenfalls bei der Festlegung der zu verhängenden Sanktionen für die Nichteinhaltung zollrechtlicher Vorschriften alle maßgeblichen Umstände, eventuell einschließlich des guten Glaubens des Anmelders, berücksichtigen, um zu gewährleisten, dass diese Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind“(10).

58.      Die Relevanz der Gutgläubigkeit bei der Gewichtung des Umfangs der Sanktionen bedeutet aber nicht, dass diese Sanktionen nur bei vorsätzlichen Zuwiderhandlungen zulässig sind. Wie bereits ausgeführt, umfasst der Begriff „Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften“ im Sinne von Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex jede Zuwiderhandlung gegen diese Vorschrift, unabhängig davon, ob sie vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde.

59.      Im Ergebnis vertrete ich die Ansicht, dass auf die zweite Vorlagefrage in der Rechtssache C‑372/23 in derselben Weise zu antworten ist wie auf erste: Da Vorsatz kein zwingendes Tatbestandsmerkmal des Zollschmuggels ist und die bloße Zuwiderhandlung gegen Art. 15 Abs. 1 des Zollkodex ausreicht, um das Verhalten als sanktionswürdig im Sinne von Art. 42 dieses Kodex einzustufen, schließt das Unionsrecht die Ahndung nicht vorsätzlicher Zuwiderhandlungen nicht aus.

60.      Der Gerichtshof hat diese Auslegung von Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex mit der Feststellung bestätigt, dass in Fällen einer Übermittlung einer unrichtigen Information in einer Zollanmeldung die Verhängung einer Geldbuße ungeachtet des guten Glaubens des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers möglich ist(11).

61.      Diese Lösung steht dem nicht entgegen, dass bei der Bestimmung der angemessenen Sanktion im Rahmen der vom nationalen Gesetzgeber festgelegten Bandbreite alle relevanten Umstände (einschließlich – falls vorliegend – der Gutgläubigkeit des Zuwiderhandelnden) zu berücksichtigen sind, wobei in diesem Rahmen die Sanktionsfolge nach oben oder nach unten angepasst werden kann(12).

B.      Einziehung in Fällen der Verletzung der Pflicht zur Unterrichtung der Zollbehörden (erste und zweite Vorlagefrage in der Rechtssache C717/22, die mit der dritten und vierten Vorlagefrage in der Rechtssache C372/23 zusammenfallen)

62.      Mit diesen Fragen wollen die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen,

–      ob in einem Fall von „Zollschmuggel“ als zusätzliche Verwaltungssanktion eine Einziehung möglich ist.

–      Falls dem so ist, kann ein Gegenstand, der einer anderen Person als dem Zuwiderhandelnden gehört, eingezogen werden, insbesondere dann, wenn die letztgenannte Person nicht vorsätzlich gehandelt hat.

63.      Art. 42 Abs. 2 des Zollkodex enthält keine abschließende Aufzählung der „Formen“ (Modalitäten), die für die von den Mitgliedstaaten festgelegten verwaltungsrechtlichen Sanktionen vorgesehen werden können. Das folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift, in der bei der beispielhaften Auflistung dieser Formen der Ausdruck inter alia(13) oder ähnliche Ausdrücke gebraucht werden.

64.      Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass „die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen“. Selbstverständlich sind die Mitgliedstaaten „verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze … zu beachten“(14).

65.      Vor diesem Hintergrund sehe ich keinen Grund, weshalb nicht in Fällen wie jenem, der vorliegend im Streit steht, d. h. bei einer Zuwiderhandlung gegen Art. 15 Abs. 1 des Zollkodex, nicht als zusätzliche Verwaltungssanktion die Einziehung vorgesehen werden kann(15).

66.      Im Zollkodex selbst (Art. 198) werden die nationalen Behörden dazu verpflichtet, die zur Verwertung der Waren erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen nicht erfüllt wurde. Unter diesen Maßnahmen werden ausdrücklich auch die Einziehung und die Veräußerung oder die Zerstörung der fraglichen Waren erwähnt.

67.      Somit ist in Fällen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, die Einziehung beschlagnahmter Waren entweder als Verwaltungssanktion (Art. 42 des Zollkodex) oder als erforderliche Maßnahme bei einer Nichterfüllung einer zollrechtlichen Verpflichtung (Art. 198 dieses Kodex) unionsrechtlich zulässig(16).

68.      Über die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Einziehung konkret erfolgen kann, lässt sich streiten, aber mit Sicherheit nicht darüber, ob es sich um eine als solche mit Unionsrecht vereinbare Maßnahme handelt.

69.      Zur Frage der Einziehung von Gegenständen, die einem gutgläubigen Dritten gehören, der nicht der Zuwiderhandelnde ist, hat der Gerichtshof bereits eindeutig Stellung genommen: „In Anbetracht des erheblichen Eingriffs in die Rechte des Einzelnen, der sich aus der Einziehung von Vermögensgegenständen, nämlich der endgültigen Entziehung des Eigentumsrechts an diesen Vermögensgegenständen, ergibt, stellt eine solche Einziehung gegenüber einem gutgläubigen Dritten, der nicht wusste und nicht wissen konnte, dass sein Vermögensgegenstand für die Begehung einer Straftat verwendet wurde, im Hinblick auf den verfolgten Zweck einen unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff dar, der dessen Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antastet“(17).

70.      Den von den vorlegenden Gerichten bereitgestellten Informationen lässt sich nicht mit Gewissheit entnehmen, ob die beschlagnahmten Waren entsprechend dem von mir gerade wiedergegebenen Wortlaut tatsächlich einem Dritten gehörten, der in gutem Glauben handelte.

71.      Offenbar weist alles darauf hin, dass diese Waren nicht im Eigentum von VU (d. h. dem sanktionierten Beförderer) stehen, auch wenn nicht feststeht, ob dessen Berechtigung zur Anfechtung der ihn betreffenden Einziehung in Frage gestellt wurde. Es ist wohl davon auszugehen, dass sie im Eigentum von Sistem Lux standen, der Klägerin in dem dem Vorabentscheidungsersuchen C‑717/22 zugrunde liegenden Rechtsstreit.

72.      Nach den Ausführungen der Zollbehörden(18) und denen der bulgarischen Regierung(19) soll jedoch Sistem Lux die Hauptverpflichtete des Versandverfahrens sein, dem die beschlagnahmten Waren unterworfen wurden. Wenn dies tatsächlich der Fall wäre, was von den vorlegenden Gerichten zu klären ist, könnte Sistem Lux streng genommen nicht als „Dritter“ eingestuft werden.

73.      Die in der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑717/22 wiedergegebenen Erklärungen der Zollbehörde(20) zeigen, dass die Verwaltungsentscheidung der Einziehung aufgrund des Umstands erfolgte, dass Sistem Lux ihre zollrechtlichen Verpflichtungen im Hinblick auf die beschlagnahmen Waren nicht erfüllt hatte. Sollte das vorlegende Gericht dieser These folgen, könnte diese Nichterfüllung gemäß Art. 198 des Zollkodex den Erlass der Einziehungsmaßnahme zur Folge haben.

74.      Im Ergebnis ist festzustellen, dass Sistem Lux selbst dann, wenn sie den konkreten Verstoß, der VU angelastet wurde, nicht begangen hätte, dennoch gegen eine ihr selbst obliegende Verpflichtung verstoßen hätte, was eine Einziehung rechtfertigen könnte.

V.      Ergebnis

75.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Rayonen sad Svilengrad (Rayongericht Svilengrad, Bulgarien) und dem Administrativen sad Haskovo (Verwaltungsgericht Haskovo, Bulgarien) zu antworten:

Art. 15 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union in Verbindung mit Art. 42 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung

ist dahin auszulegen, dass

1.      Vorsatz kein zwingendes Tatbestandsmerkmal der Zuwiderhandlung des Zollschmuggels darstellt und dass

2.      eine nationale Vorschrift die Einziehung der Waren als zusätzliche Sanktion vorsehen kann, die gegen die Personen verhängt wird, die durch Nichterfüllung von in zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung begangen haben.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1). Im Folgenden: Zollkodex.


3      Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. 2005, L 68, S. 49).


4      Gemäß Art. 14 der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union (ABl. 2014, L 127, S. 39) wird diese Definition durch Folgende ersetzt: „eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen“.


5      Die Behörden stellten fest, dass VU Waren von gewerblicher Art und Menge ohne Wissen und Genehmigung der Zollbehörden über die Staatsgrenze befördert und nach Bulgarien eingeführt und dadurch den Tatbestand der verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung „Zollschmuggel“ verwirklicht habe, da er zuvor nicht der Pflicht zur schriftlichen Anmeldung der beförderten Waren nachgekommen sei. Die Verwaltungsbehörde vertrat die Ansicht, dass die mündliche Mitteilung durch VU, wonach die von ihm beförderten Waren ein bestimmtes ungefähres Gewicht hätten, nicht den Voraussetzungen des Begriffs „Anmeldung“ entsprochen hätte, die eine erschöpfende, genaue und eindeutige Angabe der beförderten Artikel und der Menge jedes Artikels in einer schriftlichen Zollanmeldung erfordere. Die Behörde kam zu dem Schluss, dass das geahndete Verhalten fahrlässig gewesen sei: Nach nationalem Recht sei bei der Begehung einer Zuwiderhandlung die Fahrlässigkeit als Schuldform nicht ausgeschlossen.


6      Die Verpflichtung, die Waren „unverändert“ zu gestellen, bedeutet auch, dass diese so, wie sie in der entsprechenden Anmeldung aufgeführt sind, und damit in der dort angegebenen Menge zu gestellen sind.


7      Der Fahrer ist die Person, die an der Zollstelle den Behörden die Unterlagen vorlegt und diesen gegenüber die Angaben macht, die bezüglich der von ihm beförderten Waren relevant sind.


8      Urteil vom 23. November 2023, J. P. Mali (C‑653/22, EU:C:2023:912, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hervorhebung nur hier.


9      Vgl. u. a. Urteil vom 4. März 2020, Schenker (C‑655/18, EU:C:2020:157, Rn. 43).


10      Urteil vom 8. Juni 2023, Zes Zollner Electronic (C‑640/21, EU:C:2023:457, Rn. 62).


11      Urteil vom 23. November 2023, J. P. Mali (C‑653/22, EU:C:2023:912), Tenor: „Art. 42 Abs. 1 [des Zollkodex] … [steht] einer nationalen Regelung, die im Fall eines durch die Übermittlung unrichtiger Informationen in einer Zollanmeldung für in die Europäische Union eingeführte Waren entstandenen Zollfehlbetrags eine Geldbuße vorsieht, die grundsätzlich 50 % dieses Zollfehlbetrags entspricht und ungeachtet des guten Glaubens des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers und der von ihm getroffenen Vorkehrungen angewandt wird, nicht [entgegen], sofern dieser Satz von 50 % deutlich niedriger ist als der Satz, der für den Fall der Bösgläubigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers vorgesehen ist, und im Übrigen in bestimmten in dieser Regelung genannten Fällen … erheblich verringert wird.“


12      In dieser Rechtssache ist offensichtlich davon auszugehen, dass VU das Mindestmaß der Sanktion auferlegt wurde. Dieser Umstand führt nicht zur Unzulässigkeit der Frage, wie die spanische Regierung ausführt, da die Frage des vorlegenden Gerichts über diese Feststellung hinausgeht.


13      Das ist der in der spanischen und englischen Fassung verwendete lateinische Ausdruck. In der französischen Fassung wird der Begriff „notamment“, in der portugiesischen Fassung das Adverb „nomeadamente“ und in der deutschen und italienischen Fassung der Ausdruck „unter anderem“ bzw. „tra l’altro“ verwendet.


14      Urteil vom 4. März 2020, Schenker (C‑655/18, EU:C:2020:157, Rn. 42).


15      Die Einziehung, auf die der Rahmenbeschluss 2005/212 Bezug nimmt, kommt in Situationen wie jenen, die in der vorliegenden Rechtssache in Streit stehen, in denen die begangene Handlung keine Straftat darstellt, in materieller Hinsicht nicht zur Anwendung. Vgl. Urteil vom 9. März 2023, Otdel „Mitnichesko razsledvane i razuznavane“ (C‑752/21, EU:C:2023:179, Rn. 42 bis 48 und Tenor).


16      Die vorlegenden Gerichte gehen davon aus, dass in dieser Rechtssache die Einziehung als zusätzliche Sanktion angeordnet wurde, weshalb ihre Fragen auf eine Auslegung von Art. 42 des Zollkodex in Verbindung mit Art. 233 Abs. 6 des Zollgesetzes ausgerichtet sind, in dem es um die Sanktionsfolge geht. Wie ich nachstehend darlegen werde, sind die praktischen Auswirkungen in diesem Fall im Wesentlichen keine anderen als in dem Fall, in dem lediglich Art. 198 des Zollkodex zur Anwendung kommt. Jedenfalls ersuchen die vorlegenden Gerichte nicht um eine Auslegung von Art. 198 des Zollkodex.


17      Urteil vom 14. Januar 2021, Okrazhna prokuratura – Haskovo und Apelativna prokuratura – Plovdiv (C‑393/19, EU:C:2021:8, Rn. 55).


18      Rn. 48 der Erklärungen der Gebietsdirektion Zollamt Burgas.


19      Rn. 48 der Erklärungen der bulgarischen Regierung.


20      Rn. 7.3 der Vorlageentscheidung, in der die Auffassung der Gebietsdirektion Zollamt Burgas wiedergegeben ist.