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Rechtssache T401/21

KN

gegen

Europäisches Parlament

 Urteil des Gerichts (Achte erweiterte Kammer) vom 30. November 2022

„Institutionelles Recht – Mitglied des EWSA – Entlastungsverfahren für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Haushaltsjahr 2019 – Entschließung des Parlaments, in der der Kläger als Mobbing-Täter bezeichnet wird – Nichtigkeitsklage – Nicht anfechtbare Handlung – Unzulässigkeit – Schadensersatzklage – Schutz personenbezogener Daten – Unschuldsvermutung – Verschwiegenheitspflicht – Grundsatz der guten Verwaltung – Verhältnismäßigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht“

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen – Entschließung des Europäischen Parlaments, in der ein Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) als Täter von als Mobbing einzustufenden Verhaltensweisen bezeichnet wird – Entschließung mit Bemerkungen, die fester Bestandteil des Beschlusses über die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA sind – Nichteinbeziehung – Anfechtbarkeit dieser Entschließung im Wege einer Klage aus außervertraglicher Haftung der Union – Zulässigkeitsvoraussetzungen

(Art. 263, 268 und 340 Abs. 2 AEUV)

(Rn. 22-25, 29-31)

2.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Nichtvorliegen einer dieser Voraussetzungen – Vollumfängliche Klageabweisung

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(Rn. 33, 34, 96)

3.      Europäisches Parlament – Befugnisse – Kontrolle der Verwendung öffentlicher Mittel – Wertungsspielraum – Umfang

(Art. 14 EUV; Art. 319 AEUV)

(Rn. 40)

4.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht – Verarbeitung personenbezogener Daten, die zur Durchführung einer Aufgabe von öffentlichem Interesse erforderlich ist – Ausschluss

(Art. 15 und 340 Abs. 2 AEUV; Verordnung 2018/1725 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5 Abs. 1 Buchst. a)

(Rn. 45-53)

5.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Grundrechte – Unschuldsvermutung – Tragweite – Entschließung des Europäischen Parlaments, in der ein Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) als Täter von als Mobbing einzustufenden Verhaltensweisen bezeichnet wird – Übernahme der Schlussfolgerungen des Berichts des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Kein Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung – Beachtung der Vertraulichkeit des Berichts des OLAF

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 48 Abs. 1; Verordnung Nr. 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 17 Abs. 4)

(Rn. 61-64, 67, 68, 74, 75, 84, 85)

6.      Recht der Europäischen Union – Allgemeine Rechtsgrundsätze – Recht auf eine gute Verwaltung

(Art. 263 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41)

(Rn. 89)

Zusammenfassung

Der Kläger, KN, ist Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) und war von April 2013 bis Oktober 2020 als Vorsitzender der Gruppe der Arbeitgeber tätig.

Nachdem das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) über Behauptungen bezüglich des Verhaltens des Klägers gegenüber anderen Mitgliedern des EWSA und gegenüber Mitgliedern des Personals des EWSA unterrichtet worden war, leitete es am 6. Dezember 2018 eine Untersuchung gegen ihn ein. Am 16. Januar 2020 übermittelte das OLAF dem EWSA einen Bericht, in dem es ihm empfahl, alle Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich seien, um jeder weiteren Belästigung am Arbeitsplatz durch den Kläger vorzubeugen. Infolge dieser Empfehlungen forderte das Präsidium des EWSA den Kläger am 9. Juni 2020 auf, von seinem Amt als Vorsitzender der Gruppe der Arbeitgeber zurückzutreten sowie seine Kandidatur für das Amt des EWSA-Präsidenten zurückzuziehen. Es entband den Kläger zudem von allen Tätigkeiten im Bereich der Personalführung und ‑verwaltung.

Am 20. Oktober 2020 beschloss das Europäische Parlament, dem EWSA die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans dieser Einrichtung für das Haushaltsjahr 2018 zu verweigern, und brachte seine Besorgnis über die Maßnahmen zum Ausdruck, die vom EWSA im Anschluss an die Empfehlungen des OLAF ergriffen worden waren.

Mit Beschluss vom 28. April 2021 erteilte das Parlament dem EWSA dann die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans dieser Einrichtung für das Haushaltsjahr 2019(1). Einen Tag danach verabschiedete das Parlament eine Entschließung, in der es darauf hinwies, dass die Verweigerung der Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Jahr 2018 insbesondere darauf beruhe, dass die Maßnahmen, die der EWSA in Reaktion auf die festgestellten, vom Kläger begangenen Mobbinghandlungen getroffen habe, unzureichend gewesen seien(2).

Der Kläger erhob daraufhin beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung der beiden genannten Handlungen des Parlaments sowie auf Verurteilung des Parlaments zum Ersatz des Schadens, den er erlitten habe.

Das Gericht, das als erweiterte Kammer entschieden hat, hat die Klage des Klägers in vollem Umfang abgewiesen. In seinem Urteil erläutert das Gericht zum einen die Anfechtbarkeit von Rechtsakten, die das Parlament im Rahmen des jährlichen Entlastungsverfahrens zur Ausführung des Haushalts der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union erlässt. Zum anderen hat es sich zu neuen Fragen geäußert, die die Verarbeitung personenbezogener Daten und die Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch das Parlament anlässlich der Verabschiedung der Entschließung mit den Bemerkungen, die fester Bestandteil des Beschlusses über die Entlastung sind, betreffen.

Würdigung durch das Gericht

Erstens hat das Gericht festgestellt, dass der Nichtigkeitsantrag unzulässig ist. Es weist darauf hin, dass nur der verfügende Teil eines Rechtsakts Rechtswirkungen erzeugen kann und die in der Begründung einer Handlung enthaltenen Erwägungen nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können. Diese Beurteilungen können der Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Unionsrichter nur insoweit unterworfen werden, als sie als Gründe eines beschwerenden Rechtsakts die notwendige Begründung des verfügenden Teils dieses Rechtsakts bilden. Die in der angefochtenen Entschließung enthaltenen Bemerkungen, die fester Bestandteil des Beschlusses sind und es ermöglichen, den Kläger als Mobbing-Täter zu identifizieren, stellen jedoch nicht die notwendige Begründung des verfügenden Teils dieses Beschlusses über die Entlastung zur Ausführung des Haushalts des EWSA für das Haushaltsjahr 2019 dar. Der Nichtigkeitsantrag ist daher mangels einer vom Kläger anfechtbaren Handlung unzulässig. Dem Kläger wird jedoch der Zugang zu den Gerichten nicht verwehrt, da die Klage aus außervertraglicher Haftung(3) eröffnet bleibt, wenn das fragliche Verhalten des Parlaments geeignet ist, die Haftung der Union auszulösen.

Zweitens hat das Gericht festgestellt, dass der Kläger im vorliegenden Fall kein rechtswidriges Verhalten des Parlaments dargetan hat, und hat daher den Schadensersatzantrag zurückgewiesen.

In diesem Zusammenhang hat das Gericht bei seiner Entscheidung über die vom Kläger geltend gemachte Verletzung seines Rechts auf Schutz der personenbezogenen Daten darauf hingewiesen, dass das Parlament bei seinen Bemerkungen dazu, wie Organe und Einrichtungen den sie betreffenden Haushaltsplan ausgeführt haben, über einen weiten Ermessensspielraum verfügt. Im vorliegenden Fall hielt das Parlament die Maßnahmen des EWSA zur Umsetzung der Bemerkungen, die in der Entschließung zum Haushaltsjahr 2018 enthalten waren, für unzureichend. Somit erschien die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers zur Erfüllung der Aufgabe, die Ausführung des Haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2019 zu überwachen, erforderlich. Die Verarbeitung dieser Daten durch das Parlament war auch deshalb erforderlich, weil das dem Kläger angelastete Mobbingverhalten die Ursache für schwerwiegende Funktionsstörungen beim EWSA war, die sich in Ausgaben niederschlugen, die hätten vermieden werden können. Zudem zielt die Veröffentlichung der angefochtenen Rechtsakte im Rahmen des Entlastungsverfahrens unter Wahrung des Grundsatzes der Transparenz darauf ab, die öffentliche Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans zu stärken und zur angemessenen Verwendung öffentlicher Mittel durch die Unionsverwaltung beizutragen. Folglich hat das Parlament die Grenzen seines Ermessens nicht überschritten, als es die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers für erforderlich hielt, um seine Aufgabe der Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans durch den EWSA zu erfüllen.

Bei der Entscheidung über den angeblichen Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung hat das Gericht zunächst auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verwiesen, wonach eine parlamentarische Versammlung, solange eine Person, die einer Straftat beschuldigt wird, noch nicht rechtskräftig von einem Gericht verurteilt worden ist, verpflichtet ist, diesen Grundsatz zu beachten, und somit Diskretion und Zurückhaltung an den Tag zu legen hat, wenn sie sich in einer Entschließung zu Tatsachen äußert, derentwegen gegen diese Person ein Strafverfahren geführt wird(4).

Was konkret die Erklärungen angeht, die von einer Behörde nach Abschluss einer Untersuchung des OLAF abgegeben wurden, hat das Gericht ferner ausgeführt, dass die Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung es nicht ausschließt, dass im Bestreben, die Öffentlichkeit so genau wie möglich über die im Zusammenhang mit etwaigen Funktionsstörungen oder Betrugsfällen ergriffenen Maßnahmen zu informieren, ein Unionsorgan die wichtigsten Ergebnisse eines OLAF‑Berichts, der ein Mitglied eines Organs betrifft, mit ausgewogenen und maßvollen Worten und in einer im Wesentlichen tatsachenbasierten Art und Weise wiedergibt(5). Folglich stellt die bloße Tatsache, dass das Parlament es ermöglicht hat, den Kläger als Mobbing-Täter zu identifizieren, was der wichtigsten Schlussfolgerung des OLAF‑Berichts entspricht, für sich genommen keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung dar. Die besonderen Umstände des vorliegenden Falles lassen nämlich erkennen, dass die Angabe in der französischen Fassung der angefochtenen Entschließung, dass der Kläger für Mobbing „verantwortlich gemacht wurde“ [„jugé“], lediglich die Schlussfolgerungen des OLAF zum Vorliegen von Mobbing durch den Kläger wiederaufgreifen sollen. Dieses Ergebnis wird auch durch andere Sprachfassungen der angefochtenen Entschließung bestätigt, in denen der vom Parlament verwendete Begriff keinen Hinweis auf ein Urteil im justiziellen Sinne enthält.


1      Beschluss (EU, Euratom) 2021/1552 des Europäischen Parlaments vom 28. April 2021 über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2019, Einzelplan VI – Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (ABl. 2021, L 340, S. 140).


2      Entschließung (EU) 2021/1553 des Europäischen Parlaments vom 29. April 2021 mit den Bemerkungen, die fester Bestandteil des Beschlusses über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2019, Einzelplan VI – Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, sind (ABl. 2021, L 340, S. 141).


3      Nach Art. 268 und Art. 340 Abs. 2 AEUV.


4      Vgl. hierzu insbesondere EGMR, 18. Februar 2016, Rywin/Polen, CE:ECHR:2016:0218JUD 000609106, §§ 207 und 208.


5      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 2019, Dalli/Kommission (T‑399/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:384, Rn. 175 bis 178).