Language of document : ECLI:EU:T:2018:563

Rechtssache T-68/15

(Leitsätze)

HH Ferries I/S, vormals Scandlines Øresund I/S u. a.

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Beihilfe zugunsten der festen Schienen- und Straßenverbindung über den Öresund – Vom schwedischen und vom dänischen Staat gewährter öffentlicher Zuschuss zum Infrastrukturvorhaben der festen Verbindung über den Öresund – Staatliche Bürgschaften – Steuerliche Beihilfen – Beschluss, keine Einwände zu erheben – Beschluss, mit dem festgestellt wird, dass keine Beihilfe vorliegt – Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlung – Zulässigkeit – Keine Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Ernsthafte Schwierigkeiten – Begriff ‚Beihilferegelung‘ – Beihilfen zur Förderung eines wichtigen Vorhabens von gemeinsamem europäischem Interesse – Beurteilung des in einer Bürgschaft enthaltenen Beihilfeelements – Beschränkter Charakter der in einer Bürgschaft enthaltenen Beihilfe – Verhältnismäßigkeit – Vertrauensschutz“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 19. September 2018

1.      Staatliche Beihilfen – Bestehende Beihilfen – Prüfung der Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt durch die Kommission – Beurteilungsschwierigkeiten – Verpflichtung der Kommission, das kontradiktorische Prüfungsverfahren einzuleiten – Ernsthafte Schwierigkeiten – Begriff – Objektiver Charakter – Beweislast – Umstände, die das Vorliegen solcher Schwierigkeiten belegen können – Dauer und Unzulänglichkeit oder Unvollständigkeit der von der Kommission im Rahmen des Vorprüfungsverfahrens durchgeführten Prüfung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV)

2.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Prüfung einer Beihilferegelung in ihrer Gesamtheit – Einstufung als Beihilferegelung – Fehlen von Ausführungen im angefochtenen Beschluss zu den Gründen für eine solche Einstufung – Unzureichende und unvollständige Prüfung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 108 AEUV; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 1 Buchst. d Satz 2)

3.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Im Rahmen der Ausübung des Ermessens der Kommission erlassene Leitlinien – Rechtsnatur – Verhaltensnormen mit Hinweischarakter, mit denen die Kommission ihr Ermessen selbst beschränkt – Verpflichtung zur Beachtung der Grundsätze der Gleichbehandlung, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit

(Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 108 Abs. 3 AEUV)

4.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Betriebsbeihilfen – Nichteinbeziehung – Staatliche Bürgschaften, die die Betriebskosten einer festen Schienen- und Straßenverbindung abdecken – Einstufung als Betriebsbeihilfe

(Art. 107 Abs. 3 AEUV)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beihilfe, die in Form einer Bürgschaft gewährt wird – Einbeziehung

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

6.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Förderung eines wichtigen Vorhabens von europäischem Interesse – Kriterien – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

(Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV; Mitteilung 2014/C 188/02 der Kommission, Rn. 30)

7.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Förderung eines wichtigen Vorhabens von europäischem Interesse – Beihilfen in Form von Bürgschaften – Berechnung des Beihilfeelements einer öffentlichen Bürgschaft – Verpflichtungen der Kommission

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV)

8.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Ermessen der Kommission – Bezugnahme auf den Unionskontext

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. b und c AEUV)

9.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Förderung eines wichtigen Vorhabens von europäischem Interesse – Kriterien – Abwägung“ der erwarteten positiven Wirkungen einer Beihilfe im Hinblick auf die Verwirklichung der in Art. 107 Abs. 3 AEUV aufgeführten Ziele und ihrer negativen Wirkungen hinsichtlich der Verfälschung des Wettbewerbs und der Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten

(Art. 107 Abs. 3 AEUV)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 60-63)

2.      Im Fall einer Beihilferegelung kann sich die Kommission darauf beschränken, deren allgemeine Merkmale zu untersuchen, ohne dass sie verpflichtet wäre, jeden einzelnen Anwendungsfall zu prüfen, um festzustellen, ob diese Regelung Elemente einer Beihilfe enthält.

Die Tatsache, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss keine Ausführungen zu den Gründen enthält, aus denen die betreffenden Bürgschaften als Beihilferegelungen anzusehen sind, lässt eine unzureichende und unvollständige Prüfung erkennen.

Insoweit muss – selbst unter der Annahme, dass sich aus dem angefochtenen Beschluss ableiten ließe, dass die staatlichen Bürgschaften unter die Definition der Beihilferegelungen nach Art. 1 Buchst. d zweiter Satz der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV fallen, nämlich „eine Regelung, wonach einem oder mehreren Unternehmen nicht an ein bestimmtes Vorhaben gebundene Beihilfen für unbestimmte Zeit und/oder in unbestimmter Höhe gewährt werden können“, wie die Kommission geltend macht – im Beschluss darlegt werden, inwiefern die in den staatlichen Bürgschaften enthaltenen Beihilfen die Voraussetzung erfüllen, nach der die Beihilfe nicht an ein bestimmtes Vorhaben gebunden sein darf. Außerdem scheint es unvereinbar, einerseits im Stadium der Einstufung der staatlichen Bürgschaften festzustellen, dass es sich um eine oder zwei Beihilferegelungen handele, da die sich aus diesen Bürgschaften ergebende Beihilfe nicht an ein bestimmtes Vorhaben gebunden sei, und andererseits im Stadium der Beurteilung der Vereinbarkeit der Maßnahmen mit dem Binnenmarkt festzustellen, dass die staatlichen Bürgschaften ein Vorhaben beträfen, das „bestimmt, genau und klar definiert“ sei. Denn dabei handelt es sich nicht um unterschiedliche Rechtsbegriffe, sondern um einen tatsächlichen Umstand, der nicht von einer rechtlichen Beurteilung zur anderen variieren kann.

Insoweit können die staatlichen Bürgschaften nicht als an ein „bestimmtes“ Vorhaben gebunden angesehen werden, da die in diesen staatlichen Bürgschaften enthaltenen Beihilfen sowohl die Phase der Errichtung als auch die Phase des Betriebs der festen Verbindung abdeckten. Da nämlich das Adjektiv „bestimmt“ „eine Sache im Besonderen betreffend“ bedeutet, ist davon auszugehen, dass die Beihilfen bezüglich der staatlichen Bürgschaften als an ein bestimmtes Vorhaben gebunden anzusehen sind, weil sie die Darlehen des Bauherrn nur für das Vorhaben der festen Verbindung, einschließlich der Phase des Betriebs, nicht hingegen für andere Vorhaben oder Tätigkeiten abdecken. Der „unbestimmte“ Charakter der Phase des Betriebs, auf den die Kommission hinweist, betrifft genau genommen nicht die Bestimmtheit des Vorhabens, sondern in Wirklichkeit die Beurteilung des beschränkten oder unbeschränkten Charakters der staatlichen Bürgschaften im Rahmen der Bewertung ihrer Vereinbarkeit.

Demzufolge ist die Kommission im Vorprüfungsverfahren bei der Einstufung der staatlichen Bürgschaften als „Beihilferegelungen“ auf ernsthafte Schwierigkeiten gestoßen.

(vgl. Rn. 68, 75, 76, 79-81)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 94)

4.      Als Betriebsbeihilfen sind Beihilfen einzustufen, die ein Unternehmen von den Kosten befreien sollen, die es normalerweise im Rahmen seiner laufenden Geschäftsführung oder seiner üblichen Tätigkeiten zu tragen gehabt hätte. Betriebsbeihilfen fallen grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich von Art. 107 Abs. 3 AEUV. Diese Beihilfen verfälschen nämlich grundsätzlich die Wettbewerbsbedingungen in den Sektoren, in denen sie gewährt werden, ohne insoweit ihrer Natur nach geeignet zu sein, einen der in den genannten Ausnahmebestimmungen festgesetzten Zwecke zu erreichen. Es besteht daher eine Vermutung, wonach Betriebsbeihilfen per se den Wettbewerb verfälschen und die Handelsbedingungen in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft.

Eine Beihilfe in der Form staatlicher Bürgschaften, die die Betriebskosten einer festen Schienen- und Straßenverbindung abdecken, kann daher eine Betriebsbeihilfe darstellen.

(vgl. Rn. 103, 104, 108)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 120)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 142-144, 189, 190)

7.      Da u. a. Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV eng auszulegen ist, obliegt es der Kommission, zu prüfen, ob die Beihilfen, die in den staatlichen Bürgschaften, die sowohl die Errichtungskosten als auch die Betriebskosten einer festen Schienen- und Straßenverbindung abdecken, sowie in den steuerlichen Beihilfen enthalten sind, notwendig sind und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen. Insoweit stellt – unabhängig von den zeitlich anwendbaren materiell-rechtlichen Vorschriften – die Frage, wie das in einer Bürgschaft enthaltene Beihilfeelement zu bestimmen ist, d. h. die Kenntnis der Methode der Bestimmung des Beihilfeelements, ohne dass eine endgültige genaue Bezifferung verlangt würde, eine unverzichtbare Vorbedingung für die Beurteilung dar, ob diese Beihilfe erforderlich und verhältnismäßig ist. Denn die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Beihilfe impliziert die Prüfung, ob diese auf das für die Erreichung der Ziele der verschiedenen Ausnahmen nach Art. 107 Abs. 3 AEUV erforderliche Minimum beschränkt ist, was die Kenntnis impliziert, in welchem Umfang die Beihilfe zur Erreichung des betreffenden Ziels erforderlich und wie daher das Beihilfeelement im Voraus zu berechnen ist. Dies steht in Einklang mit der Rechtsprechung, nach der keine Bestimmung des Unionsrechts von der Kommission verlangt, bei der Anordnung der Rückzahlung einer mit dem Binnenmarkt für unvereinbar erklärten Beihilfe den genauen Betrag der zu erstattenden Beihilfe festzusetzen. Es genügt insoweit, dass die Entscheidung der Kommission Angaben enthält, die es ihrem Adressaten ermöglichen, diesen Betrag ohne übermäßige Schwierigkeiten selbst zu bestimmen.

(vgl. Rn. 148-151)

8.      Die wirtschaftlichen Wertungen bei der Anwendung von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV, hinsichtlich derer die Kommission über ein weites Ermessen verfügt, sind auf die Union zu beziehen, was bedeutet, dass die Kommission verpflichtet ist, die Auswirkung einer Beihilfe auf den Wettbewerb und den Handel innerhalb der Union zu prüfen. Die gleiche Verpflichtung trifft die Kommission bei ihren wirtschaftlichen Wertungen im Rahmen der Anwendung von Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV.

(vgl. Rn. 204, 207)

9.      Bei der Entscheidung, ob eine Beihilfe die Handelsbedingungen in einer Weise verändert, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, ist es notwendig, insbesondere zu prüfen, ob nicht ein Ungleichgewicht zwischen den von den betroffenen Unternehmen zu tragenden Lasten einerseits und den sich aus der in Rede stehenden Beihilfe ergebenden Vorteilen andererseits besteht. Infolgedessen ist die Kommission verpflichtet, im Rahmen ihrer Prüfung der Auswirkung einer staatlichen Beihilfe die positiven Auswirkungen der Beihilfe und ihre negativen Auswirkungen auf die Handelsbedingungen und die Aufrechterhaltung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs gegeneinander abzuwägen. Das Erfordernis einer solchen Abwägung der erwarteten positiven Wirkungen im Hinblick auf die Verwirklichung der in Art. 107 Abs. 3 Buchst. a bis e AEUV aufgeführten Ziele und der negativen Wirkungen einer Beihilfe hinsichtlich der Verfälschung des Wettbewerbs und der Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten ist nur ein Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der engen Auslegung dieser in Art. 107 Abs. 3 AEUV aufgeführten Ausnahmen.

Wenn es außerdem zuzulassen wäre, dass eine solche Abwägung für bestimmte der in Art. 107 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Ausnahmen vorzunehmen ist, für andere jedoch nicht, liefe dies darauf hinaus, dass für bestimmte der in Art. 107 Abs. 3 AEUV aufgeführten Ziele eine Beihilfe auch dann für vereinbar erklärt werden könnte, wenn ihre positiven Wirkungen im Hinblick auf die Verwirklichung der aufgeführten Ziele geringer wären als ihre negativen Wirkungen hinsichtlich der Verfälschung des Wettbewerbs und der Handelsbeeinträchtigung. Eine solche Auslegung könnte zu einer Asymmetrie bei der Beurteilung der verschiedenen Ausnahmen in Art. 107 Abs. 3 AEUV führen, die der praktischen Wirksamkeit der Regeln über die staatlichen Beihilfen zuwiderliefe. Das Argument, wonach die Abwägungsprüfung auf Prüfungen, die im Hinblick auf Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV vorgenommen würden, nicht anwendbar sei, ist daher zurückzuweisen.

(vgl. Rn. 210-212, 214)