Language of document : ECLI:EU:T:2023:827

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

11. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Asylpolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling – Art. 2 Buchst. d und e – Verfolgungsgründe – Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 – ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‘ – Art. 4 – Individuelle Prüfung der Tatsachen und Umstände – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 10 Abs. 3 – Anforderungen an die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz – Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wohl des Kindes – Bestimmung – Minderjährige Drittstaatsangehörige, die sich infolge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern identifizieren“

In der Rechtssache C‑646/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande), mit Entscheidung vom 22. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Oktober 2021, in dem Verfahren

K,

L

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan, F. Biltgen und N. Piçarra (Berichterstatter) sowie des Richters P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi, der Richter I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. April 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von K und L, vertreten durch B. W. M. Toemen und Y. E. Verkouter, Advocaten, im Beistand der Sachverständigen S. Rafi,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und A. M. de Ree als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis und A. Pérez-Zurita Gutiérrez als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juli 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen K und L auf der einen und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) auf der anderen Seite über dessen Ablehnung der von K und L gestellten Folgeanträge auf internationalen Schutz.

 Rechtlicher Rahmen

 Internationales Recht

 Genfer Flüchtlingskonvention

3        Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnet wurde, am 22. April 1954 in Kraft trat und durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt wurde (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention), bestimmt, dass „[i]m Sinne dieses Abkommens … der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung [findet,] … die … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“.

 CEDAW

4        Laut Art. 1 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (im Folgenden: CEDAW), das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 18. Dezember 1979 verabschiedet wurde, am 3. September 1981 in Kraft trat (United Nations Treaty Series, Bd. 1249, Nr. I‑20378, S. 13) und dem alle Mitgliedstaaten beigetreten sind, „bezeichnet [in diesem Übereinkommen] der Ausdruck ‚Diskriminierung der Frau‘ jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau – ungeachtet ihres Familienstands – im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird“.

5        Nach Art. 3 dieses Übereinkommens treffen die Vertragsstaaten auf allen Gebieten, insbesondere auf politischem, sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet, alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung und Förderung der Frau, damit gewährleistet wird, dass sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt mit dem Mann ausüben und genießen kann.

6        Gemäß Art. 5 des Übereinkommens treffen die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen, um insbesondere einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen.

7        Nach den Art. 7, 10 und 16 des Übereinkommens treffen die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau im politischen und öffentlichen Leben ihres Landes, im Bildungsbereich sowie in Ehe- und Familienfragen.

 Übereinkommen von Istanbul

8        Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, das am 11. Mai 2011 in Istanbul geschlossen, am 13. Juni 2017 von der Europäischen Union unterzeichnet und mit dem Beschluss (EU) 2023/1076 des Rates vom 1. Juni 2023 (ABl. 2023, L 143 I, S. 4) in deren Namen genehmigt wurde (im Folgenden: Übereinkommen von Istanbul) und in Bezug auf die Union am 1. Oktober 2023 in Kraft trat, soll nach Art. 1 u. a. sowohl Frauen vor allen Formen von Gewalt schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt verhüten, verfolgen und beseitigen als auch einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau leisten und eine echte Gleichstellung von Frauen und Männern, auch durch die Stärkung der Rechte der Frauen, fördern.

9        Nach Art. 3 dieses Übereinkommens wird der Begriff „Gewalt gegen Frauen“ im Sinne des Übereinkommens als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau verstanden und bezeichnet alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben.

10      Art. 4 Abs. 2 des Übereinkommens lautet:

„Die Vertragsparteien verurteilen jede Form von Diskriminierung der Frau und treffen unverzüglich die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Maßnahmen zu ihrer Verhütung, insbesondere durch

–        die Verankerung des Grundsatzes der Gleichstellung von Frauen und Männern in ihren nationalen Verfassungen oder in anderen geeigneten Rechtsvorschriften sowie die Sicherstellung der tatsächlichen Verwirklichung dieses Grundsatzes;

–        das Verbot der Diskriminierung der Frau, soweit erforderlich auch durch Sanktionen;

–        die Aufhebung aller Gesetze und die Abschaffung von Vorgehensweisen, durch die Frauen diskriminiert werden.“

11      Art. 60 des Übereinkommens von Istanbul bestimmt:

„1      Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Ziffer 2 [der Genfer Flüchtlingskonvention] und als eine Form schweren Schadens anerkannt wird, die einen ergänzenden/subsidiären Schutz begründet.

2      Die Vertragsparteien stellen sicher, dass alle [in der Genfer Flüchtlingskonvention] aufgeführten Gründe geschlechtersensibel ausgelegt werden und dass in Fällen, in denen festgestellt wird, dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet wird, den Antragstellerinnen und Antragstellern der Flüchtlingsstatus entsprechend den einschlägigen anwendbaren Übereinkünften gewährt wird.

…“

 Unionsrecht

 Richtlinie 2011/95

12      In den Erwägungsgründen 4, 16, 18 und 30 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(4)      Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(16)      Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta … anerkannten Grundsätze. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden.

(18)      Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes vorrangig das ,Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen, Sicherheitsaspekten sowie dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen.

(30)      Es ist ebenso notwendig, einen gemeinsamen Ansatz für den Verfolgungsgrund ,Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‘ zu entwickeln. Bei der Definition einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Aspekte im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Antragstellers, einschließlich seiner geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung, die mit bestimmten Rechtstraditionen und Bräuchen im Zusammenhang stehen können, wie z. B. Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen oder erzwungene Schwangerschaftsabbrüche, angemessen zu berücksichtigen, soweit sie in Verbindung mit der begründeten Furcht des Antragstellers vor Verfolgung stehen.“

13      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben e und g;

d)      ,Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

e)      ‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat;

i)      ,Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist;

k)      ‚Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren;

n)      ,Herkunftsland‘ das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – des früheren gewöhnlichen Aufenthalts.“

14      Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) in Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2)      Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.

(3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

(5)      Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn

c)      festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind …

e)      die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.“

15      Art. 9 („Verfolgungshandlungen“) der Richtlinie bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)      Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a)      aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder

b)      in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.

(2)      Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

f)      Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.“

16      In Art. 10 („Verfolgungsgründe“) der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(1)      Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

d)      eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

–        die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und

–        die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

… Geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, werden zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt;

(2)      Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die … sozialen … Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“

17      Art. 20 in Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) dieser Richtlinie bestimmt in den Abs. 3 und 5:

(3)      Die Mitgliedstaaten berücksichtigen bei der Umsetzung dieses Kapitels die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen …, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern …

(5)      Bei der Umsetzung der Minderjährige berührenden Bestimmungen dieses Kapitels berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Wohl des Kindes.“

 Richtlinie 2013/32/EU

18      Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) definiert einen „Folgeantrag“ als „einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird“.

19      Art. 10 („Anforderungen an die Prüfung von Anträgen“) Abs. 3 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass

a)      die Anträge einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden werden;

b)      genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen wie etwa [dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO)] und [dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR)] sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller … und diese Informationen den für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten zur Verfügung stehen;

d)      die für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten die Möglichkeit erhalten, in bestimmten, unter anderem medizinischen, kulturellen, religiösen, kinder- oder geschlechtsspezifischen Fragen, den Rat von Sachverständigen einzuholen, wann immer dies erforderlich ist.“

20      Nach Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 4 der Richtlinie können „[d]ie Mitgliedstaaten … in den nationalen Rechtsvorschriften festlegen, in welchen Fällen einem Minderjährigen Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung gegeben wird“.

21      Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen um sicherzustellen, dass persönliche Anhörungen unter Bedingungen durchgeführt werden, die Antragstellern eine umfassende Darlegung der Gründe ihrer Anträge gestatten. Zu diesem Zweck

e)      stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Anhörungen von Minderjährigen kindgerecht durchgeführt werden.“

22      Art. 40 („Folgeanträge“) Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„Für die Zwecke der gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz wird ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

23      K und L, die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, sind zwei in den Jahren 2003 und 2005 geborene Schwestern irakischer Staatsangehörigkeit. Sie reisten 2015 in Begleitung ihrer Eltern und ihrer Tante in die Niederlande ein. Seitdem halten sie sich ununterbrochen dort auf. Am 7. November 2015 stellten ihre Eltern in ihrem eigenen Namen und im Namen von K und L Asylanträge, die am 17. Februar 2017 abgelehnt wurden. Diese ablehnenden Entscheidungen wurden 2018 bestandskräftig.

24      Am 4. April 2019 stellten K und L Folgeanträge im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32, die mit Bescheiden des Staatssekretärs für Justiz und Sicherheit vom 21. Dezember 2020 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden. Im Zuge der Anfechtung dieser Bescheide machen K und L vor der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, geltend, dass sie infolge ihres langfristigen Aufenthalts in den Niederlanden die Normen, Werte und Verhaltensweisen ihrer Altersgenossen angenommen hätten und damit „verwestlicht“ seien. Deshalb gingen sie als junge Frauen davon aus, dass sie die Möglichkeit hätten, selbst Entscheidungen über die Gestaltung ihrer Existenz und ihrer Zukunft zu treffen, insbesondere in Bezug auf Beziehungen zu Männern, Eheschließung, Studium, Arbeit, Ausbildung und Äußerung ihrer politischen und religiösen Überzeugungen. Sie befürchteten, bei einer Rückkehr in den Irak verfolgt zu werden, weil sie in den Niederlanden Normen, Werte und Verhaltensweisen übernommen hätten, die sich von denen ihres Herkunftslands unterschieden und die für ihre Identität und ihr Bewusstsein so wesentlich geworden seien, dass sie nicht darauf verzichten könnten. Sie machen damit geltend, zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zu gehören.

25      K und L tragen weiter vor, dass sie wegen ihres langfristigen Aufenthalts in den Niederlanden nunmehr dort verwurzelt seien und Entwicklungsschäden erleiden würden, wenn sie dieses Land verlassen müssten. Hinzu komme der Schaden, der dadurch entstanden sei, dass sie so lange in Ungewissheit über die Erlangung eines Aufenthaltstitels in diesem Mitgliedstaat gelebt hätten.

26      In diesem Zusammenhang stellt sich dem vorlegenden Gericht erstens die Frage, wie die Wendung „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 auszulegen ist. Der Begriff der Verwestlichung verweise auf die Gleichheit von Frauen und Männern und insbesondere auf das Recht von Frauen, vor geschlechtsspezifischer Gewalt geschützt und nicht zur Eheschließung gezwungen zu werden, sowie auf das Recht, sich für oder gegen einen Glauben zu entscheiden und ihre eigenen politischen Meinungen zu haben und zu äußern.

27      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass „verwestlichte Frauen“ nach der Rechtsprechung des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) eine zu heterogene Gruppe bildeten, um als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zugehörig gelten zu können, und dass nach der nationalen Rechtspraxis eine etwaige „Verwestlichung“ als ein Verfolgungsgrund, der entweder auf der Religion oder auf der politischen Überzeugung beruhe, geprüft werde.

28      Zweitens stelle sich die Frage, wie das durch Art. 24 Abs. 2 der Charta gewährleistete Wohl des Kindes im Rahmen des Verfahrens zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zu berücksichtigen sei. Es finde sich im Unionsrecht kein Anhaltspunkt dafür, wie das Kindeswohl zu bestimmen sei.

29      Nach dem Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen) (C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 45), müsse gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Fraglich sei, ob eine nationale Rechtspraxis mit dem Unionsrecht vereinbar sei, wonach die zuständige Behörde in einem ersten Schritt über den Antrag auf internationalen Schutz entscheide, indem sie allgemein das Wohl des Kindes beurteile, und der Antragsteller diese Entscheidung erst in einem zweiten Schritt anfechten könne, indem er konkret nachweise, dass das Kindeswohl eine andere Entscheidung erfordere.

30      Drittens wirft das vorlegende Gericht unter Hinweis darauf, dass der Schaden, der K und L dadurch entstanden sein solle, dass ihre Situation in den Niederlanden unsicher sei, in keinem Zusammenhang mit Verfolgungsgründen in ihrem Herkunftsland stehe, die Frage auf, ob das Kindeswohl es gebiete, dass ein solcher Schaden im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz gleichwohl zu berücksichtigen sei, und, wenn ja, wie es zu berücksichtigen sei.

31      Viertens stelle sich die Frage, ob die nationale Rechtspraxis, wonach die Behörde, die über einen „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 entscheide, nicht verpflichtet sei, von Amts wegen das Aufenthaltsrecht des Antragstellers aus „regulären Gründen“ zu prüfen, mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

32      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass westliche Normen, Werte und Verhaltensweisen, die Drittstaatsangehörige durch ihren Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats während eines beträchtlichen Teils ihrer identitätsbildenden Lebensphase übernehmen, wobei sie uneingeschränkt am Gesellschaftsleben teilnehmen, als gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann, bzw. derart bedeutsame Identitätsmerkmale anzusehen sind, dass von den Betroffenen nicht verlangt werden kann, auf sie zu verzichten?

2.      Falls die erste Frage zu bejahen ist, sind Drittstaatsangehörige, die – unabhängig von den betreffenden Gründen – vergleichbare westliche Normen und Werte durch einen tatsächlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat während ihrer identitätsbildenden Lebensphase übernommen haben, als „Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 anzusehen? Ist die Frage, ob eine „bestimmte soziale Gruppe, die in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat“, vorliegt, dabei aus Sicht des Mitgliedstaats zu beurteilen, oder ist dies in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass ausschlaggebend ist, dass der Ausländer dartun kann, dass er im Herkunftsland als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe angesehen wird bzw. ihm dort jedenfalls die entsprechenden Merkmale zugeschrieben werden? Ist eine Anforderung, wonach eine Verwestlichung die Flüchtlingseigenschaft nur dann begründen kann, wenn diese auf religiösen oder politischen Gründen beruht, mit Art. 10 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und dem Recht auf Asyl vereinbar?

3.      Ist eine nationale Rechtspraxis, bei der eine entscheidende Behörde im Rahmen der Beurteilung eines Antrags auf internationalen Schutz das Wohl des Kindes gewichtet, ohne dieses zuerst (in jedem Verfahren) konkret festzustellen (bzw. feststellen zu lassen), mit dem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 24 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 der Charta vereinbar? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn der Mitgliedstaat einen Antrag auf Gestattung des Aufenthalts aus regulären Gründen beurteilen muss und das Wohl des Kindes bei der Entscheidung über diesen Antrag zu berücksichtigen ist?

4.      Auf welche Weise und in welchem Stadium der Beurteilung eines Antrags auf internationalen Schutz muss im Licht von Art. 24 Abs. 2 der Charta das Wohl des Kindes, insbesondere der Schaden, den ein Minderjähriger durch einen langfristigen tatsächlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erlitten hat, berücksichtigt und gewichtet werden? Ist dabei relevant, ob dieser tatsächliche Aufenthalt rechtmäßig war? Ist es bei der Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen dieser Beurteilung von Bedeutung, ob der Mitgliedstaat innerhalb der nach dem Unionsrecht vorgesehenen Entscheidungsfristen über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat, ob einer zu einem früheren Zeitpunkt auferlegten Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde und ob der Mitgliedstaat die Abschiebung unterlassen hat, nachdem eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, wodurch der tatsächliche Aufenthalt des Minderjährigen in diesem Mitgliedstaat fortgesetzt werden konnte?

5.      Ist eine nationale Rechtspraxis, bei der zwischen Erst- und Folgeanträgen auf internationalen Schutz in dem Sinne unterschieden wird, dass reguläre Gründe bei Folgeanträgen auf internationalen Schutz unberücksichtigt bleiben, im Licht von Art. 7 der Charta in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta mit dem Unionsrecht vereinbar?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

33      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht insbesondere in seiner ersten Frage zwar Bezug nimmt auf „westliche Normen, Werte und Verhaltensweisen, die Drittstaatsangehörige durch ihren Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats während eines beträchtlichen Teils ihrer identitätsbildenden Lebensphase übernehmen, wobei sie uneingeschränkt am Gesellschaftsleben teilnehmen“, doch geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass es im Wesentlichen darum geht, dass diese Frauen sich tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern identifizieren und in ihrem Alltagsleben weiterhin gleichberechtigt sein wollen.

34      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit den ersten beiden Vorlagefragen, die zusammen geprüft werden können, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland Frauen, auch minderjährige, die Staatsangehörige dieses Landes sind und als gemeinsames Merkmal ihre tatsächliche Identifizierung mit dem insbesondere in Art. 2 EUV verankerten Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.

35      Als Erstes bezeichnet nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 der Ausdruck „Flüchtling“ einen „Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will“. Diese Definition übernimmt die Definition in Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention, die, wie es im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie heißt, „einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen“ darstellt.

36      Die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 sind daher nicht nur im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks dieser Richtlinie, sondern auch unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der übrigen in Art. 78 Abs. 1 AEUV angeführten einschlägigen Verträge auszulegen. Zu diesen Verträgen gehören u. a. das Übereinkommen von Istanbul und das CEDAW (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 37 und 44 bis 47).

37      Wie die Art. 1 und 3 und Art. 4 Abs. 2 des Übereinkommens von Istanbul bestätigen, umfasst die Gleichstellung von Frauen und Männern u. a. das Recht jeder Frau, vor geschlechtsspezifischer Gewalt geschützt zu werden, das Recht, nicht zur Eheschließung gezwungen zu werden, sowie das Recht, sich für oder gegen einen Glauben zu entscheiden, ihre eigenen politischen Meinungen zu haben und zu äußern und ihre eigenen Lebensentscheidungen, insbesondere in den Bereichen Bildung, Berufswahl oder Tätigkeiten im öffentlichen Raum, frei zu treffen. Gleiches gilt für die Art. 3, 5, 7, 10 und 16 des CEDAW.

38      Die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 sind ferner, wie deren 16. Erwägungsgrund zu entnehmen ist, unter Achtung der in der Charta anerkannten Rechte auszulegen, deren Anwendung die Richtlinie fördern soll, wobei Art. 21 Abs. 1 der Charta Diskriminierungen wegen des Geschlechts verbietet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 39, und vom 9. November 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Begriff „ernsthafter Schaden“], C‑125/22, EU:C:2023:843, Rn. 60).

39      Als Zweites sind in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 für jeden der fünf Verfolgungsgründe, die gemäß Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie zur Anerkennung als Flüchtling führen können, Gesichtspunkte aufgeführt, die die Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen.

40      Was insbesondere den Grund der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ betrifft, ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 der Richtlinie, dass eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“ gilt, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens müssen die Personen, die ihr möglicherweise angehören, mindestens eines der folgenden drei Identifizierungsmerkmale teilen, nämlich „angeborene Merkmale“, „einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, oder „Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung …, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zweitens muss diese Gruppe im Herkunftsland eine „deutlich abgegrenzte Identität“ haben, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“ (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 40).

41      Zudem wird in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 u. a. erläutert, dass „[g]eschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, … zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt [werden]“. Diese Bestimmung ist im Licht des 30. Erwägungsgrundes der Richtlinie zu lesen, wonach die geschlechtliche Identität mit bestimmten Rechtstraditionen und Bräuchen im Zusammenhang stehen kann (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 41).

42      Hinsichtlich der ersten Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95, nämlich mindestens eines der drei in dieser Bestimmung genannten Identifizierungsmerkmale zu teilen, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, ein angeborenes Merkmal darstellt und daher ausreicht, um diese Voraussetzung zu erfüllen (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 49).

43      Ferner können Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal, wie z. B. ein anderes angeborenes Merkmal, oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, wie eine besondere familiäre Situation, oder aber Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für ihre Identität oder ihr Gewissen sind, dass sie nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten, dadurch diese Voraussetzung erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 50).

44      In diesem Zusammenhang ist zum einen festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die tatsächliche Identifizierung einer Frau mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern insoweit, als sie mit dem Wunsch verbunden ist, im Alltagsleben gleichberechtigt zu sein, voraussetzt, dass die Frau ihre eigenen Lebensentscheidungen insbesondere in Bezug auf Bildungsweg und Berufswahl, Ausmaß und Art der Aktivitäten im öffentlichen Raum, die Möglichkeit, durch eine außerhäusliche Tätigkeit wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen, die Wahl, allein oder mit Familie zu leben, und die Partnerwahl, bei denen es sich um identitätsbildende Entscheidungen handelt, frei treffen kann. Unter diesen Umständen kann die tatsächliche Identifizierung einer Drittstaatsangehörigen mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern als „[ein Merkmal] oder eine Glaubensüberzeugung [angesehen werden], die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass [die] Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass diese Staatsangehörige nicht meint, mit anderen Drittstaatsangehörigen oder allen sich mit diesem Grundwert identifizierenden Frauen eine Gruppe zu bilden.

45      Zum anderen kann der Umstand, dass sich junge drittstaatsangehörige Frauen während einer identitätsbildenden Lebensphase in einem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und sich im Zuge dieses Aufenthalts tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern identifiziert haben, „einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 darstellen.

46      Daher ist festzustellen, dass diese Frauen, auch minderjährige, die erste Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 erfüllen.

47      Nach Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie muss sich die zuständige nationale Behörde vergewissern, dass das Merkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe der betreffenden Person in ihrem Herkunftsland im Sinne von Art. 2 Buchst. n der Richtlinie zugeschrieben wird, auch wenn sie dieses Merkmal tatsächlich gar nicht aufweist.

48      Was die zweite Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 angeht, die sich auf die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe im Herkunftsland bezieht, ist festzustellen, dass Frauen von der sie umgebenden Gesellschaft anders wahrgenommen werden und in dieser Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität insbesondere aufgrund in ihrem Herkunftsland geltender sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen zuerkannt bekommen können (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 52).

49      Diese zweite Voraussetzung wird auch von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal wie die tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, erfüllt, wenn die in ihrem Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen dazu führen, dass diese Frauen aufgrund dieses gemeinsamen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 53).

50      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des betreffenden Mitgliedstaats ist, zu bestimmen, welche umgebende Gesellschaft für die Beurteilung des Vorliegens dieser sozialen Gruppe relevant ist. Diese Gesellschaft kann mit dem gesamten Herkunftsdrittland der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zusammenfallen oder enger eingegrenzt sein, z. B. auf einen Teil des Hoheitsgebiets oder der Bevölkerung dieses Drittlands (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 54).

51      Daraus folgt, dass Frauen, auch minderjährige, die als gemeinsames Merkmal die tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden können.

52      Angesichts der Zweifel des vorlegenden Gerichts ist noch klarzustellen, dass es für die Anerkennung eines Verfolgungsgrundes im Sinne dieser Bestimmung keineswegs erforderlich ist, dass die tatsächliche Identifizierung dieser Frauen mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern politischen oder religiösen Charakter hat. Gleichwohl kann eine solche Identifizierung gegebenenfalls auch als Verfolgungsgrund der Religion oder der politischen Überzeugung aufgefasst werden.

53      Was als Drittes die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz einschließlich eines „Folgeantrags“ betrifft, der auf den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gestützt wird, obliegt es den zuständigen nationalen Behörden gemäß Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95, zu prüfen, ob die Person, die sich auf diesen Verfolgungsgrund beruft, „begründete Furcht“ hat, in ihrem Herkunftsland wegen dieser Zugehörigkeit Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie ausgesetzt zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 59).

54      Bei dieser Prüfung muss die zuständige nationale Behörde erstens berücksichtigen, dass eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention, wie in Art. 9 Abs. 2 Buchst. f der Richtlinie klargestellt wird, u. a. in einer Handlung bestehen kann, die an die „Geschlechtszugehörigkeit“ anknüpft.

55      Insoweit bestimmt Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts, die nach Art. 3 dieses Übereinkommens als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau zu verstehen ist, als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen ist. Nach Art. 60 Abs. 2 des Übereinkommens von Istanbul müssen die Vertragsparteien sicherstellen, dass alle in der Genfer Flüchtlingskonvention aufgeführten Verfolgungsgründe geschlechtersensibel ausgelegt werden, also auch der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

56      Zweitens können die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Gleichwohl müssen die Behörden der Mitgliedstaaten gegebenenfalls aktiv mit dem Antragsteller zusammenarbeiten, um die für den Antrag relevanten Angaben zu ermitteln und zu ergänzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 64). Ferner sieht Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie für den Fall, dass die Mitgliedstaaten von der ihnen durch Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie eingeräumten Befugnis Gebrauch machen, vor, dass Aussagen des Antragstellers, für die Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, keines Nachweises bedürfen, wenn die in diesem Abs. 5 genannten kumulativen Voraussetzungen erfüllt sind. Zu diesen Voraussetzungen gehören die Kohärenz und Plausibilität der Aussagen des Antragstellers und seine generelle Glaubwürdigkeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2023, Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie [Politische Überzeugung im Aufnahmemitgliedstaat], C‑151/22, EU:C:2023:688, Rn. 44).

57      Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang erläutert, dass die Aussagen einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person im Verfahren zur Prüfung der Tatsachen und Umstände durch die zuständigen Behörden nur den Ausgangspunkt bilden und diese Behörden oft eher Zugang zu bestimmten Arten von Unterlagen haben als der Antragsteller (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 65 und 66, vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Militärdienst und Asyl], C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 52, und vom 9. November 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Begriff „ernsthafter Schaden“], C‑125/22, EU:C:2023:843, Rn. 47).

58      Es verstieße daher gegen Art. 4 der Richtlinie 2011/95, davon auszugehen, dass es zwingend allein Sache des Antragstellers ist, alle Anhaltspunkte darzulegen, die die Gründe für seinen Antrag auf internationalen Schutz belegen können, und zwar insbesondere den Umstand, dass er zum einen in seinem Herkunftsland als einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie zugehörig wahrgenommen werden könnte und zum anderen in diesem Land aus diesem Grund verfolgt zu werden droht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Militärdienst und Asyl], C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 54 und 55).

59      Drittens müssen die zuständigen nationalen Behörden die Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 individuell und im Einzelfall mit Wachsamkeit und Vorsicht prüfen, wobei ausschließlich eine konkrete Prüfung der Tatsachen und Umstände zugrunde zu legen ist, um zu ermitteln, ob die festgestellten Tatsachen und Umstände eine solche Bedrohung darstellen, dass der Betroffene in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden, sollte er in sein Herkunftsland zurückkehren müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2023, Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie [Politische Überzeugung im Aufnahmemitgliedstaat], C‑151/22, EU:C:2023:688, Rn. 42, und vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 60).

60      In diesem Zusammenhang verpflichtet Art. 10 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass zum einen Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz nach einer angemessenen Prüfung getroffen werden, bei der genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen, wie etwa dem EASO und dem UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen, eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller und dass zum anderen diese Informationen den für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten zur Verfügung stehen.

61      Zu diesem Zweck sollten, wie in Rn. 36 Ziff. x der die geschlechtsspezifische Verfolgung betreffenden Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 1 ausgeführt wird, Informationen über das Herkunftsland eingeholt werden, die für Anträge von Frauen auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus von Bedeutung sind, z. B. über die Rechtsstellung der Frau, ihre politischen Rechte, ihre bürgerlichen und wirtschaftlichen Rechte, die kulturellen und sozialen Sitten und Gebräuche des Landes und die Folgen, wenn sich eine Frau darüber hinwegsetzt, das Vorhandensein grausamer traditioneller Praktiken, Häufigkeit und Formen von Gewalt gegen Frauen und wie Frauen davor geschützt werden, die für solche Gewalttäter vorgesehenen Strafen und welche Risiken eine Frau möglicherweise erwarten, wenn sie in ihr Land zurückkehrt, nachdem sie einen solchen Antrag gestellt hat (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 61).

62      Viertens ist klarzustellen, dass die tatsächliche Identifizierung einer Drittstaatsangehörigen mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, weder als ein Umstand, den die Drittstaatsangehörige nach Verlassen ihres Herkunftslands selbst geschaffen hat, im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 noch als eine Aktivität, die ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurde, um die für die Beantragung von internationalem Schutz erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie qualifiziert werden kann. Insoweit genügt die Feststellung, dass eine solche Identifizierung, wenn sie rechtlich hinreichend nachgewiesen ist, nicht mit einem missbräuchlichen und instrumentalisierenden Vorgehen gleichgestellt werden kann, das mit diesen Bestimmungen bekämpft werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Februar 2024, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [Späterer Religionswechsel], C‑222/22, EU:C:2024:192, Rn. 32 und 34).

63      Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, insbesondere zu prüfen, ob sich die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern in seinen in den Rn. 37 und 44 des vorliegenden Urteils beschriebenen Aspekten identifizieren und sie in ihrem Alltagsleben in Anspruch nehmen wollen, so dass dieser Wert einen integrierenden Bestandteil ihrer Identität darstellt, und ob sie daher von der sie umgebenden Gesellschaft in ihrem Herkunftsland als andersartig betrachtet werden. Dass sie die tatsächliche Gefahr einer Verfolgung wegen dieser Identifizierung dadurch vermeiden könnten, dass sie bei deren Ausdruck Zurückhaltung üben, ist insoweit unbeachtlich (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2013, X u. a., C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 70, 71, 74 und 75).

64      Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland Frauen, auch minderjährige, die Staatsangehörige dieses Landes sind und als gemeinsames Merkmal ihre tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.

 Die dritte und die vierte Frage

65      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit dem zweiten Teil der dritten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 24 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer „nationalen Rechtspraxis“ entgegensteht, nach der die zuständige Behörde im Zusammenhang mit einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „aus regulären Gründen“ das Wohl des Kindes beurteilt, ohne es „zuerst konkret festzustellen“.

66      Allerdings geht, wie der Generalanwalt in Nr. 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, weder aus der Vorlageentscheidung noch aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass es im Ausgangsverfahren um einen solchen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis „aus regulären Gründen“ ginge.

67      Zwar spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen zum Unionsrecht, doch liegt die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 14. Januar 2021, The International Protection Appeals Tribunal u. a., C‑322/19 und C‑385/19, EU:C:2021:11, Rn. 53).

68      Da der zweite Teil der dritten Frage somit in Wirklichkeit auf ein Gutachten des Gerichtshofs abzielt, ist er unzulässig.

69      Mit dem ersten Teil der dritten Frage und der vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es der zuständigen nationalen Behörde verwehrt, über einen von einem Minderjährigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden, ohne das Wohl des Minderjährigen im Rahmen einer individuellen Prüfung konkret bestimmt zu haben.

70      In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht auch, ob und gegebenenfalls wie ein Schaden zu berücksichtigen ist, der dem Minderjährigen durch einen langfristigen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat und die Ungewissheit über seine Rückkehrverpflichtung entstanden sein soll.

71      Zunächst ist in Anbetracht der Erörterungen im mündlichen Verfahren jeder Zweifel an der Zulässigkeit dieser Vorlagefragen, der daran anknüpft, dass K und L keine Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. k der Richtlinie 2011/95 mehr sind, auszuräumen. Denn aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass K und L zu dem Zeitpunkt, als sie die Folgeanträge, die Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits sind, gestellt haben, noch keine 18 Jahre alt waren.

72      Art. 24 der Charta, der, wie sich aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ergibt, zu den Artikeln der Charta gehört, deren Anwendung mit dieser Richtlinie gefördert werden soll, sieht in Abs. 2 vor, dass „[b]ei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen … das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein [muss]“.

73      Aus Art. 24 Abs. 2 der Charta sowie aus Art. 3 Abs. 1 des von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedeten Internationalen Übereinkommens über die Rechte des Kindes, auf den in den Erläuterungen zu Art. 24 der Charta ausdrücklich Bezug genommen wird, ergibt sich, dass das Kindeswohl nicht nur bei der Prüfung der Begründetheit von Anträgen, die Kinder betreffen, zu berücksichtigen ist, sondern auch durch besondere Verfahrensgarantien den dieser Beurteilung vorausgehenden Entscheidungsprozess beeinflussen muss. Denn der Ausdruck „Wohl des Kindes“ im Sinne dieses Art. 3 Abs. 1 nimmt, wie der UN‑Ausschuss für die Rechte des Kindes ausgeführt hat, Bezug auf ein materielles Recht, ein Grundprinzip der Rechtsauslegung und eine Verfahrensregel (vgl. Allgemeine Bemerkung Nr. 14 [2013] des Ausschusses für die Rechte des Kindes zum Recht des Kindes auf vorrangige Berücksichtigung seines Wohles [Art. 3 Abs. 1], CRC/C/GC/14, Nr. 6).

74      Außerdem bestimmt Art. 24 Abs. 1 der Charta, dass Kinder ihre Meinung frei äußern können und dass diese in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt wird.

75      Erstens müssen die Mitgliedstaaten, wie sich aus dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ergibt, bei der Beurteilung des Wohls des Kindes in einem Verfahren des internationalen Schutzes insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Kindes – was seine Gesundheit, seine familiäre Situation und seine Erziehung einschließt – sowie Sicherheitsaspekten Rechnung tragen.

76      Insoweit sieht Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 vor, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz das Alter des Antragstellers berücksichtigt wird, um festzustellen, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind. In diesem Zusammenhang stellt Art. 9 Abs. 2 Buchst. f dieser Richtlinie klar, dass eine solche Verfolgungshandlung u. a. in einer Handlung bestehen kann, die „gegen Kinder“ gerichtet ist.

77      Die Beurteilung der Folgen, die aus dem Alter des Antragstellers zu ziehen sind, unter Berücksichtigung des Kindeswohls, wenn er minderjährig ist, fällt in die alleinige Verantwortung der zuständigen nationalen Behörde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 69 und 70).

78      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die zuständige nationale Behörde, wenn ein Antragsteller, der um internationalen Schutz nachsucht, minderjährig ist, nach einer individualisierten Prüfung zwangsläufig das Wohl dieses Minderjährigen berücksichtigen muss, wenn sie die Begründetheit seines Antrags auf internationalen Schutz prüft.

79      Zweitens geht aus dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 hervor, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen eines Verfahrens des internationalen Schutzes dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen müssen. Außerdem können die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 4 der Richtlinie 2013/32 in den nationalen Rechtsvorschriften festlegen, in welchen Fällen einem Minderjährigen Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung gegeben wird. Für den Fall, dass dem Minderjährigen eine solche Möglichkeit eingeräumt wird, sieht Art. 15 Abs. 3 Buchst. e dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass diese Anhörung kindgerecht durchgeführt wird. In diesem Zusammenhang müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 sicherstellen, dass die zuständigen nationalen Behörden die Möglichkeit erhalten, in bestimmten, u. a. kinderspezifischen Fragen den Rat von Sachverständigen einzuholen, wann immer dies erforderlich ist.

80      Mangels genauerer Bestimmungen in der Richtlinie 2011/95 und der Richtlinie 2013/32 ist es Sache des Mitgliedstaats, die Modalitäten für die Beurteilung des Kindeswohls im Rahmen des Verfahrens des internationalen Schutzes zu bestimmen, insbesondere den Zeitpunkt oder die Zeitpunkte, zu denen diese Beurteilung vorzunehmen ist, und die Form, in der sie erfolgen muss, wobei allerdings Art. 24 der Charta sowie die in den Rn. 75 bis 79 des vorliegenden Urteils angeführten Bestimmungen zu beachten sind.

81      Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta deren Art. 24 Abs. 2 zu achten haben, wenn sie das Unionsrecht durchführen, also auch dann, wenn sie einen „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 prüfen. Zum anderen muss, da Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 im Hinblick auf die Natur der Elemente oder Erkenntnisse, mit denen dargetan werden kann, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, nicht zwischen einem ersten Antrag auf internationalen Schutz und einem Folgeantrag unterscheidet, die Beurteilung der Tatsachen und Umstände zur Stützung dieser Anträge in beiden Fällen gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95 erfolgen (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 40).

82      Was die Frage betrifft, ob und gegebenenfalls wie ein Schaden zu berücksichtigen ist, der einem Minderjährigen durch einen langfristigen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat und die Ungewissheit über seine Rückkehrverpflichtung, die dem für die Prüfung des von diesem Minderjährigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat zugerechnet werden können, entstanden sein soll, ist in Übereinstimmung mit den Ausführungen des vorlegenden Gerichts festzustellen, dass es nicht Sache der zuständigen nationalen Behörden ist, das Vorliegen eines solchen Schadens im Rahmen eines Verfahrens zu beurteilen, in dem festgestellt werden soll, ob der Betroffene bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 hat.

83      Ein langfristiger Aufenthalt in einem Mitgliedstaat kann jedoch vor allem dann, wenn er mit einem Zeitraum zusammenfällt, der für den minderjährigen Antragsteller identitätsbildend ist, nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta bei der Prüfung eines auf einen Verfolgungsgrund wie die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie gestützten Antrags auf internationalen Schutz berücksichtigt werden.

84      Nach alledem ist auf den ersten Teil der dritten Frage und auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es der zuständigen nationalen Behörde verwehrt, über einen von einem Minderjährigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden, ohne das Wohl des Minderjährigen im Rahmen einer individuellen Prüfung konkret bestimmt zu haben.

 Zur fünften Vorlagefrage

85      Mit der fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer „nationalen Rechtspraxis“ entgegensteht, nach der „die regulären Gründe“ bei der Prüfung eines ersten Antrags auf internationalen Schutz, nicht aber bei der Prüfung eines „Folgeantrags“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 berücksichtigt werden können.

86      Aus den in den Rn. 66 bis 68 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen und wie der Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausführt, ist die fünfte Frage unzulässig, da sie keinen Zusammenhang mit dem Ausgangsrechtsstreit aufweist.

 Kosten

87      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland Frauen, auch minderjährige, die Staatsangehörige dieses Landes sind und als gemeinsames Merkmal ihre tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem Mitgliedstaat gekommen ist, als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.

2.      Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er es der zuständigen nationalen Behörde verwehrt, über einen von einem Minderjährigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden, ohne das Wohl des Minderjährigen im Rahmen einer individuellen Prüfung konkret bestimmt zu haben.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.