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Rechtssache C648/15

Republik Österreich

gegen

Bundesrepublik Deutschland

„Art. 273 AEUV – Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten, die aufgrund eines Schiedsvertrags beim Gerichtshof anhängig gemacht wird – Steuerrecht – Bilaterales Doppelbesteuerungsabkommen – Besteuerung von Zinserträgen aus Genussscheinen – Begriff ‚Forderungen mit Gewinnbeteiligung‘“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 12. September 2017

1.        Internationale Übereinkünfte – Verträge der Mitgliedstaaten – Bilaterales Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“– Wertpapiere, die durch Zinsen in Höhe eines festen Prozentsatzes ihres Nennwerts vergütet werden, wobei die Ausschüttung der Zinsen vermindert wird, wenn der Emittent dadurch das Geschäftsjahr mit einem Verlust beendet – Ausschluss

2.        Gerichtliches Verfahren – Beim Gerichtshof aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemachte Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Umfang und Grenzen

(Art. 273 AEUV)

1.      Der in Art. 11 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen verwendete Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ ist dahin auszulegen, dass er Wertpapiere nicht umfasst, deren Ausgabebedingungen sich wie folgt zusammenfassen lassen: Es besteht Anspruch auf eine jährliche Ausschüttung nach einem festen Prozentsatz des Nennwerts. Sofern durch die jährliche Ausschüttung ein Bilanzverlust entsteht, verringert sich der Ausschüttungsbetrag entsprechend. Die Wertpapiere gewähren jedoch während ihrer Laufzeit ein Nachzahlungsrecht in späteren Jahren, soweit durch diese Nachholung der Ausschüttung kein Bilanzverlust entsteht. Die Ausschüttungs- und Nachzahlungsansprüche haben Vorrang vor der Dotierung von Rücklagen sowie der Ausschüttung an die Gewährträger. Die Rückzahlung des zur Verfügung gestellten Wertpapierkapitals erfolgt zum Nennwert. Wird jedoch ein Bilanzverlust ausgewiesen, vermindert sich der Rückzahlungsanspruch entsprechend. Auch hier erfolgt die Wiederauffüllung der Rückzahlungsansprüche auf den Nennwert während der Laufzeit des Wertpapiers in späteren Jahren, sofern dadurch kein Bilanzverlust entsteht. Es besteht keine Beteiligung am Liquidationserlös des Emittenten. Für den Emittenten besteht ein Kündigungsrecht, wenn die steuerliche Abzugsfähigkeit aus den Wertpapieren wegfällt.

Die Wertpapiere sind nämlich als Obligationen eigener Art anzusehen. Aus ihren Ausgabebedingungen ergibt sich, dass sie durch Zinsen in Höhe eines festen Prozentsatzes ihres Nennwerts vergütet werden. Ihre Besonderheit ergibt sich jedoch im Wesentlichen daraus, dass die Ausschüttung der Zinsen vermindert oder ausgesetzt wird, wenn der Emittent dadurch einen Bilanzverlust erleidet, sie aber später nachgeholt wird, wenn der Emittent wieder Gewinne ausweist und durch die Nachholung kein Verlust entsteht.

Zunächst ist zur gewöhnlichen Bedeutung des Begriffs „Gewinnbeteiligung“ festzustellen, dass sowohl der allgemeine Sprachgebrauch als auch die allgemein anerkannten Rechnungslegungsstandards auf eine Bedeutung hinweisen, zu der grundsätzlich die Möglichkeit gehört, an den positiven Jahresergebnissen eines Unternehmens beteiligt zu werden.

Zudem wird der Ausdruck „Gewinnbeteiligung“ gewöhnlich mit der Veränderlichkeit und Unvorhersehbarkeit der Jahresergebnisse jeglicher risikobehafteten Geschäftstätigkeit in Verbindung gebracht. Die Beteiligung am Gewinn eines Geschäftsjahrs bedeutet daher in der Regel einen Anspruch auf Auszahlung eines zu Beginn des Geschäftsjahrs unbekannten Betrags, der sich von einem zum anderen Geschäftsjahr ändern und im Übrigen auch gleich null sein kann.

Die Wendung „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ bezieht sich also auf Finanzprodukte, deren Vergütung sich zumindest teilweise in Abhängigkeit von der Höhe des Jahresgewinns des Schuldners ändert.

Diese Auslegung wird durch eine Prüfung anhand des Zusammenhangs und der Zielsetzung der Bestimmungen gestützt, in denen der Begriff „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ vorkommt.

Sodann ist zum Zusammenhang festzuhalten, dass der Begriff in Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens vor einer Aufzählung steht, die seiner Veranschaulichung dient und in der drei Arten von Finanzinstrumenten genannt werden, deren gemeinsames Merkmal darin liegt, dass sich ihre Vergütung in Abhängigkeit vom Jahresgewinn des Emittenten ändern kann.

Schließlich ist zur Zielsetzung der Bestimmungen, in denen die Wendung „Forderungen mit Gewinnbeteiligung“ verwendet wird, festzustellen, dass Art. 11 Abs. 2 des österreichisch-deutschen Abkommens eine Ausnahme von dem in Art. 11 Abs. 1 dieses Abkommens aufgestellten Grundsatz der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Vertragsstaaten darstellt, wonach Zinsen grundsätzlich nur in dem Staat besteuert werden, in dem der Nutzungsberechtigte ansässig ist. Diese Ausnahmebestimmung erlaubt die Besteuerung der Zinsen aus einer Forderung mit Gewinnbeteiligung „auch“ in dem Staat, aus dem sie stammen. Es ist daher Sache des Staates, in dem der Nutzungsberechtigte dieser Zinsen ansässig ist, die Doppelbesteuerung zu beseitigen, indem er die bereits einbehaltene Quellensteuer auf die übrigen vom Forderungsinhaber geschuldeten Steuern anrechnet.

In Anbetracht dieser allgemeinen Systematik sowie der Zielsetzung des österreichisch-deutschen Abkommens, die darin besteht, die rechtliche Doppelbesteuerung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zwischen den beiden Vertragsstaaten so weit wie möglich zu verhindern, ist das Kriterium für die Zulässigkeit einer Ausnahme von der vereinbarten Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, nämlich das Vorliegen einer Gewinnbeteiligung, eng auszulegen, wie dies oben geschehen ist.

Eine weite Auslegung des in Art. 11 Abs. 2 dieses Abkommens verwendeten Ausdrucks „Gewinnbeteiligung“ könnte nämlich die Tragweite von Art. 11 Abs. 1 des Abkommens einschränken, der durch eine strikte Aufteilung der Befugnis zur Zinsbesteuerung jede Doppelbesteuerung verhindern soll, während eine Anwendung von Art. 11 Abs. 2 des Abkommens zu einer Doppelbesteuerung führt, deren schädliche Auswirkungen auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts nur durch die Anrechnungsregel in Art. 23 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 Buchst. b des Abkommens abgemildert werden.

(vgl. Rn. 12, 32, 40-44, 48-50, 54, Tenor 1)

2.      Gemäß Art. 273 AEUV, wonach der Gerichtshof für jede mit dem Gegenstand der Verträge im Zusammenhang stehende Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten zuständig ist, wenn diese bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird, hängt die Zuständigkeit des Gerichtshofs zum einen vom Vorliegen einer Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten ab. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs setzt zum anderen voraus, dass die bei ihm anhängig gemachte Streitigkeit mit dem Gegenstand der Verträge im Zusammenhang steht.

Ein Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen von Art. 273 AEUV ergibt, dass der Begriff „Zusammenhang“ als ein Bezug und nicht als ein Verhältnis völliger Übereinstimmung zu verstehen ist.

Diese Auslegung wird durch einen Vergleich mit der in Art. 259 AEUV vorgesehenen Möglichkeit für einen Mitgliedstaat bestätigt, eine Vertragsverletzungsklage gegen einen anderen Mitgliedstaat zu erheben, wenn er der Auffassung ist, dass dieser gegen eine seiner Verpflichtungen aus den Verträgen selbst verstoßen hat.

Die in Art. 273 AEUV aufgestellte Voraussetzung des Zusammenhangs ist somit erfüllt, wenn erwiesen ist, dass die beim Gerichtshof anhängig gemachte Streitigkeit einen objektiv feststellbaren Bezug zum Gegenstand der Verträge aufweist.

Schließlich ist der Gerichtshof nur dann für die Entscheidung über eine Klage nach Art. 273 AEUV zuständig, wenn sie bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird.

(vgl. Rn. 19, 20, 22-25, 27)