Language of document : ECLI:EU:C:2016:85

STELLUNGNAHME DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 26. Januar 2016 1(1)

Rechtssache C‑601/15 PPU

J. N.

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Eilvorabentscheidungsverfahren – Drittstaatsangehöriger, der einen Asylantrag gestellt hat und aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33/EU in Haft genommen wird – Staatsangehöriger, der gemäß Art. 9 der Richtlinie 2013/32/EU berechtigt ist, während der Prüfung seines Asylantrags im Mitgliedstaat zu verbleiben – Kein Abschiebungsverfahren anhängig – Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33/EU im Hinblick auf Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“





1.      Die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie)(2), enthält eine Liste der Gründe, aus denen ein Mitgliedstaat die Inhaftnahme einer Person anordnen kann, die um internationalen Schutz nachsucht. Unter diesen Gründen findet sich der in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Aufnahmerichtlinie genannte Grund im Zusammenhang mit „der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung“ (im Folgenden: streitige Bestimmung). Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen fragt der Raad van State (Staatsrat) den Gerichtshof nach der Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Recht auf Freiheit und Sicherheit, das durch Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantiert ist. Diese Frage ist beim Gerichtshof eingegangen im Rahmen eines Rechtsstreits über einen Beschluss vom 14. September 2014, mit dem die Inhaftnahme eines mehrfach strafrechtlich – hauptsächlich wegen Diebstahls – verurteilten Asylbewerbers in den Niederlanden angeordnet worden war, gegen den vor Einreichung seines letzten Asylantrags eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Abschiebungsanordnung ergangen war.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 Genfer Abkommen

2.      Gemäß Art. 31 Abs. 1 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten und am 22. April 1954 in Kraft getretenen Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(3) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und seinerseits am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung (im Folgenden: Genfer Abkommen) werden die vertragschließenden Staaten wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Art. 1 bedroht war und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen.

3.      Nach Art. 32 Abs. 1 des Genfer Abkommens werden die vertragschließenden Staaten einen Flüchtling, der sich rechtmäßig in ihrem Gebiet befindet, nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ausweisen.

 EMRK

4.      Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:

„(1)      Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

a)      rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;

b)      rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;

c)      rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;

d)      rechtmäßige Freiheitsentziehung bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;

e)      rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;

f)      rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.

(2)      Jeder festgenommenen Person muss unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden.

(3)      Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, muss unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. …

(4)      Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht, zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.

(5)      Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.“

5.      Art. 15 („Abweichen im Notstandsfall“) EMRK bestimmt in seinem Abs. 1: „Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.“ Das Recht auf Freiheit und Sicherheit gehört zu den Rechten, von denen die Vertragsparteien unter derartigen Umständen abweichen können(4).

 Unionsrecht

 EUV und AEUV

6.      Gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV achtet die Europäische Union u. a. „die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere … die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit“, wobei Letztere „weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten“ fällt.

7.      Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.

8.      Gemäß Art. 72 AEUV berührt die Unionspolitik nach Titel V des Dritten Teils dieses Vertrags, der dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gewidmet ist, nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit. In Art. 78 Abs. 1 AEUV, der sich in demselben Titel befindet, heißt es, dass „[d]ie Union … eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz [entwickelt], mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll“. Dieser Artikel bestimmt ferner, dass die genannte Politik insbesondere mit dem Genfer Abkommen im Einklang stehen muss.

 Charta

9.      Nach Art. 6 der Charta hat jeder Mensch das Recht auf Freiheit und Sicherheit.

10.    Art. 51 Abs. 1 der Charta sieht u. a. vor, dass deren Bestimmungen für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gelten.

11.    In Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta, der sich in deren Kapitel VII („Allgemeine Bestimmungen“) befindet, heißt es:

„(1)      Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

(3)      Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

(7)      Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“

 Aufnahmerichtlinie

12.    In der Präambel der Aufnahmerichtlinie wird u. a. dargelegt, dass eine gemeinsame Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wesentlicher Bestandteil des Ziels der Union ist, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offensteht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen(5). In dieser Präambel heißt es weiter, dass die Inhaftnahme von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, im Einklang mit dem Grundsatz erfolgen sollte, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um einen solchen Schutz nachsucht, und dass insbesondere die Inhaftnahme im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und unter Beachtung von Art. 31 des Genfer Abkommens erfolgen sollte(6). Antragsteller dürfen somit nur in den in der Aufnahmerichtlinie eindeutig definierten Ausnahmefällen und im Einklang mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise und den Zweck der Inhaftnahme in Haft genommen werden(7). Außerdem darf die Dauer der Haft den Zeitraum, der vernünftigerweise erforderlich ist, um die einschlägigen Verfahren abzuschließen, nicht überschreiten(8). Nach dem 17. Erwägungsgrund der genannten Richtlinie lassen „[d]ie in dieser Richtlinie aufgeführten Gründe für die Haft … andere Haftgründe – einschließlich der Haftgründe im Rahmen eines Strafverfahrens – unberührt, die nach dem einzelstaatlichen Recht unabhängig vom Antrag eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen auf internationalen Schutz anwendbar sind“. In der Präambel der Aufnahmerichtlinie heißt es schließlich, dass diese im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen steht, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden, und dass sie darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung u. a. des Art. 6 der Charta zu fördern(9).

13.    Nach Art. 2 der Aufnahmerichtlinie bezeichnet der Ausdruck

„a)      ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Artikel 2 Buchstabe h der [Anerkennungsrichtlinie(10)];

b)      ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

h)      ‚Haft‘ die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat[(11)];

…“

14.    Art. 8 („Haft“) der Aufnahmerichtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der [Verfahrensrichtlinie(12)] ist.

(2)      In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)      Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a)      um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen;

b)      um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;

c)      um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

d)      wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der [Rückführungsrichtlinie(13)] zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;

e)      wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist[;]

f)      wenn dies mit Artikel 28 der [Dublin‑III-Verordnung(14)] in Einklang steht.

Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten wie zum Beispiel Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten.“

15.    Art. 9 („Garantien für in Haft befindliche Antragsteller“) der Aufnahmerichtlinie bestimmt u. a.:

„(1)      Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind.

Die Verwaltungsverfahren in Bezug auf die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe für die Inhaftnahme werden mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, rechtfertigen keine Fortdauer der Haft.

(2)      Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.

(3)      Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. …

Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen.

(4)      In Haft befindliche Antragsteller werden unverzüglich schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit informiert, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen.

(5)      Die Haft wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft, insbesondere wenn sie von längerer Dauer ist oder sich maßgebliche Umstände ergeben oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken könnten.

…“

 Verfahrensrichtlinie

16.    Nach ihrem Art. 1 werden mit der Verfahrensrichtlinie gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes gemäß der Anerkennungsrichtlinie eingeführt.

17.    Art. 2 Buchst. q der Verfahrensrichtlinie definiert einen „Folgeantrag“ im Wesentlichen als einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird.

18.    Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt, dass Antragsteller ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben dürfen, bis die Asylbehörde in erster Instanz über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat, und dass sich aus dieser Berechtigung kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel ergibt. Nach Abs. 2 des erwähnten Artikels dürfen die Mitgliedstaaten u. a. nur dann eine Ausnahme machen, wenn eine Person einen Folgeantrag im Sinne von Art. 41 der genannten Richtlinie stellt.

19.    In Art. 26 der Verfahrensrichtlinie wird im Wesentlichen erläutert, dass die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen, weil sie einen Antrag gestellt hat, dass sich die Gründe für den Gewahrsam und die Gewahrsamsbedingungen sowie die Garantien für in Gewahrsam befindliche Antragsteller nach der Aufnahmerichtlinie bestimmen und dass ein Gewahrsam mit der Möglichkeit einer raschen gerichtlichen Überprüfung gemäß der letztgenannten Richtlinie einhergeht.

20.    Nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Verfahrensrichtlinie können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Anerkennungsrichtlinie als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

21.    Art. 40 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie bestimmt, dass für die Zwecke der gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft wird, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Anerkennungsrichtlinie als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Art. 40 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie bestimmt im Wesentlichen, dass der Antrag normalerweise weiter geprüft wird, wenn die erste Prüfung neue Elemente oder Erkenntnisse zutage bringt, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass ihm stattgegeben wird. Ist das nicht der Fall, wird der Antrag nach Abs. 5 dieses Artikels gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der genannten Richtlinie hingegen als unzulässig betrachtet.

22.    Art. 41 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Ausnahmen vom Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet machen können, wenn eine Person entweder nur zur Verzögerung oder Behinderung der Durchsetzung einer Entscheidung, die zu ihrer unverzüglichen Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat führen würde, förmlich einen ersten Folgeantrag gestellt hat, der gemäß Art. 40 Abs. 5 nicht weiter geprüft wird, oder nach einer bestandskräftigen Entscheidung, einen ersten Folgeantrag gemäß dem erwähnten Art. 40 Abs. 5 als unzulässig zu betrachten, oder nach einer bestandskräftigen Entscheidung, einen ersten Folgeantrag als unbegründet abzulehnen, in demselben Mitgliedstaat einen weiteren Folgeantrag stellt. Eine solche Ausnahme ist jedoch nur vorbehaltlich der Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung möglich.

 Rückführungsrichtlinie

23.    Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 findet die Rückführungsrichtlinie auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige Anwendung.

24.    Art. 3 dieser Richtlinie enthält u. a. folgende Begriffsbestimmungen:

„…

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.      ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedsstaat;

…“

25.    Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie bestimmt, dass die Mitgliedstaaten davon absehen können, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder im Rahmen einer Rückkehrentscheidung u. a. dann eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen können, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

26.    Nach Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie ergreifen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der für die freiwillige Ausreise eingeräumten Frist nachgekommen ist.

27.    Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie gehen Rückkehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einher, falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. In anderen Fällen kann ein Einreiseverbot angeordnet werden, muss es aber nicht zwangsläufig. Art. 11 Abs. 2 sieht vor, dass die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt wird und grundsätzlich nicht fünf Jahre überschreitet, es sei denn, der von diesem Verbot betroffene Drittstaatsangehörige stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar. Im letztgenannten Fall kann sich das Einreiseverbot auf zehn Jahre erstrecken. Nach Abs. 5 des erwähnten Artikels berühren diese Vorschriften nicht das Recht, um internationalen Schutz nachzusuchen.

28.    Art. 15 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie bestimmt:

„Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“

 Niederländisches Recht

 Ausländergesetz von 2000

29.    Das Ausländergesetz von 2000 (Vreemdelingenwet 2000) bestimmt in seinen Art. 8 und 59b:

„Artikel 8

„Ein Ausländer hält sich nur dann rechtmäßig in den Niederlanden auf,

f)      wenn in Erwartung der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung [einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] die Abschiebung des Antragstellers nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes oder einer gerichtlichen Entscheidung unterbleiben muss, bis über den Antrag entschieden wurde.

Artikel 59b

(1)      Der Ausländer, dessen Aufenthalt aufgrund von Art. 8 Buchstabe f … rechtmäßig ist, soweit dies einen Antrag auf Erteilung [einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] betrifft, kann vom Minister in Haft genommen werden, wenn

b)      die Inhaftnahme erforderlich ist, um Beweise zu sichern, die für die Beurteilung eines Antrags auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis im Sinne von Art. 28 benötigt werden, insbesondere wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Zugriff entziehen wird;

d)      der Ausländer eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung im Sinne [der streitigen Bestimmung] darstellt.

…“

 Ausländerverordnung von 2000

30.    Art. 3.1 der Ausländerverordnung von 2000 (Vreemdelingenbesluit 2000) bestimmt u. a., dass die Stellung eines Asylantrags grundsätzlich zur Folge hat, dass die Abschiebung unterbleibt, es sei denn, der Ausländer hat insbesondere einen Folgeantrag gestellt, nachdem ein früherer Folgeantrag bestandskräftig für unzulässig erklärt wurde oder bestandskräftig als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde und keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zutage getreten sind, die für die Beurteilung des Antrags relevant sein können.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

31.    Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr N., ist ein tunesischer Staatsangehöriger, der am 23. September 1995 in die Niederlande einreiste. Dort stellte er einen ersten Asylantrag, der am 18. Januar 1996 abgelehnt wurde. Die Klage von Herrn N. gegen diesen Beschluss wurde am 5. Juni 1997 abgewiesen.

32.    Herr N. stellte am 19. Dezember 2012 einen Folgeasylantrag, den er am 24. Dezember desselben Jahres wieder zurücknahm.

33.    Am 8. Juli 2013 stellte Herr N. einen neuen Folgeasylantrag. Durch Beschluss vom 8. Januar 2014 (im Folgenden: Rückkehrentscheidung) lehnte der Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, im Folgenden: Staatssekretär) diesen Antrag ab und gab Herrn N. auf, das Hoheitsgebiet der Europäischen Union unverzüglich zu verlassen. Die Rückkehrentscheidung ging mit einem Verbot einher, für die Dauer von zehn Jahren in dieses Hoheitsgebiet einzureisen. Die Klage von Herrn N. gegen diese Entscheidung wurde von der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag), Sitzungsort Amsterdam (Niederlande), mit Urteil vom 4. April 2014 abgewiesen. Dieses Urteil wurde rechtskräftig.

34.    Im Übrigen beging Herr N. zwischen dem 25. November 1999 und dem 17. Juni 2015 36 Straftaten, meist Diebstähle. Wegen dieser Taten wurde er in 21 Fällen strafrechtlich verurteilt, wobei die verhängten Strafen von Geldstrafen bis zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten reichten.

35.    Am 27. Februar 2015 – während der Verbüßung dieser Strafhaft („strafrechtelijke detentie“) – stellte Herr N. seinen letzten Folgeasylantrag (im Folgenden: letzter Asylantrag). Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Rückkehrentscheidung im Einklang mit seiner Rechtsprechung deswegen zu jenem Zeitpunkt von Rechts wegen überholt gewesen sei. Bei Ablehnung des Asylantrags sei es Sache des Staatssekretärs, gegebenenfalls eine neue Rückkehrentscheidung zu erlassen.

36.    In Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs hat die niederländische Regierung darauf hingewiesen, dass der Einwanderungs- und Einbürgerungsdienst (Immigratie- en Naturalisatiedienst) des Ministeriums für Sicherheit und Justiz (Ministerie van Veiligheid en Justitie) Herrn N. am 29. Mai 2015 darüber unterrichtet habe, dass die Ablehnung seines letzten Asylantrags beabsichtigt sei. Die zuständige Behörde hat jedoch noch nicht über diesen Antrag entschieden.

37.    Am 1. Juli 2015 wurde Herr N. wegen Diebstahls und Verstoßes gegen ein Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet der Union zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt(15). Während der Verbüßung dieser Strafe beschloss der Staatssekretär am 23. Juli 2015, ihn einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, die ergab, dass Herr N. nicht imstande war, zu seinem letzten Asylantrag gehört zu werden.

38.    Am 14. September 2015, nach Verbüßung der genannten Freiheitsstrafe, ordnete der Staatssekretär an, Herrn N. in Ausländerverwaltungshaft („vreemdelingenbewaring“) zu nehmen(16). Unter Hinweis darauf, dass sich Herr N. seit Einreichung seines letzten Asylantrags gemäß Art. 8 Buchst. f des Ausländergesetzes von 2000 rechtmäßig in den Niederlanden aufhalte, vertrat der Staatssekretär die Ansicht, dieser sei in Haft zu nehmen, weil er „einer Straftat verdächtigt [werde] oder wegen einer Straftat verurteilt worden [sei]“ und daher eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 59b Abs. 1 Buchst. d des Ausländergesetzes von 2000 darstelle(17). In der streitigen Entscheidung ist u. a. von den zahlreichen Vorstrafen von Herrn N., von der Tatsache, dass er weder über Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts noch über einen festen Wohn- oder Aufenthaltsort verfüge, sowie davon die Rede, dass er die Niederlande nach eigenen Angaben trotz der gegen ihn erlassenen Rückkehrentscheidung nicht verlassen wolle(18). Die streitige Entscheidung sieht darüber hinaus seine Einweisung in die spezielle Betreuungseinheit der bezeichneten Haftanstalt vor, um seinem Gesundheitszustand Rechnung zu tragen(19).

39.    Die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) wies die von Herrn N. gegen die streitige Entscheidung erhobene Klage, mit der außerdem Schadensersatz begehrt wurde, durch Urteil vom 28. September 2015 ab.

40.    In seiner vor dem vorlegenden Gericht gegen dieses Urteil erhobenen Klage trägt Herr N. insbesondere vor, die gegen ihn erlassene Haftmaßnahme verstoße gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK, da diese Bestimmung eine Freiheitsentziehung nur für die Zwecke der Ausweisung gestatte. Die genannte Bestimmung könne eine Haftmaßnahme gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig in den Niederlanden aufhalte, nicht rechtfertigen.

41.    In diesem Zusammenhang hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Aufnahmerichtlinie im Einklang mit Art. 6 der Charta,

a)      wenn ein Drittstaatsangehöriger gemäß der streitigen Bestimmung in Haft genommen wurde und nach Art. 9 der Verfahrensrichtlinie das Recht hat, in einem Mitgliedstaat zu verbleiben, bis erstinstanzlich über seinen Asylantrag entschieden wurde, und

b)      angesichts der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte(20), wonach die Einschränkungen, die legitim an den Rechten aus Art. 6 der Charta vorgenommen werden können, nicht über die Einschränkungen hinausgehen dürfen, die im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK zulässig sind, und der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte u. a. im Urteil vom 22. September 2015, Nabil u. a./Ungarn (Nr. 62116/12), vorgenommenen Auslegung dieser Bestimmung, nach der die Inhaftnahme eines Asylbewerbers gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK verstößt, wenn sie nicht im Hinblick auf die Abschiebung vorgenommen wird?

 Zum Eilverfahren

42.    Mit Schreiben vom 17. November 2015, das am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Satzung des Gerichtshofs) und Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen. Das vorlegende Gericht machte in diesem Schreiben geltend, Herrn N. sei seinerzeit zwar die Freiheit entzogen gewesen. Allerdings befinde er sich seit dem 23. Oktober 2015 nicht mehr in Ausländerverwaltungshaft, sondern in Strafhaft(21). Gleichwohl werde er nach Verbüßung dieser Strafe (d. h. am 1. Dezember 2015) entsprechend der Praxis des Staatssekretärs wahrscheinlich erneut in Haft genommen.

43.    Am 24. November 2015 hat der Gerichtshof entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben, und die Ansicht vertreten, dass die Bedeutung der gestellten Frage die Befassung der Großen Kammer rechtfertigt. Außerdem ist es nach Auffassung des Gerichtshofs wünschenswert, den schriftlichen Abschnitt des Verfahrens nicht (wie es Art. 109 der Verfahrensordnung vorsieht) auf die Verfahrensbeteiligten zu beschränken, die der Verfahrenssprache mächtig sind (im vorliegenden Fall die Parteien des Ausgangsverfahrens, das Königreich der Niederlande, das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission). Daher hat er die Parteien und andere in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs genannte Verfahrensbeteiligte in Anwendung von Art. 24 dieser Satzung aufgefordert, schriftlich zu einer Reihe von Fragen Stellung zu nehmen.

44.    Am 1. Dezember 2015 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof ein Schreiben übermittelt, in dem darauf hingewiesen wird, dass der Staatssekretär am selben Tag erneut eine Ausländerverwaltungshaftanordnung betreffend Herrn N. erlassen habe. Daraus geht hervor, dass die Haft nunmehr auf Art. 59b Abs. 1 Buchst. b und d des Ausländergesetzes von 2000 gestützt wird. Daher beruht diese neuerliche Entscheidung nicht mehr ausschließlich auf der Gefahr, die Herr N. für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt (Buchst. d), sondern im Wesentlichen auch auf der Tatsache, dass der genannte Antragsteller wegen Fluchtgefahr in Verwaltungshaft zu nehmen ist, um Beweise zu sichern, die für die Beurteilung seines letzten Asylantrags unerlässlich sind (Buchst. b). Diese neuerliche Entscheidung wird im Ausgangsrechtsstreit jedoch nicht in Frage gestellt.

45.    Herr N., die niederländische Regierung, das Parlament, der Rat und die Kommission haben schriftliche Erklärungen vorgelegt, während die belgische, die tschechische, die italienische, die zyprische und die polnische Regierung schriftlich auf die Fragen des Gerichtshofs geantwortet haben(22). Herr N., die niederländische, die belgische und die griechische Regierung sowie das Parlament, der Rat und die Kommission haben an der mündlichen Verhandlung, die am 22. Januar 2016 stattgefunden hat, teilgenommen.

 Anmerkungen zur prozessualen Behandlung des Vorabentscheidungsersuchens

46.    Durch die Befolgung der oben in Nr. 43 beschriebenen Verfahrensleitlinien hat der Gerichtshof unbestreitbar dazu beigetragen, dass die vorliegende Rechtssache einer eingehenderen Prüfung unterzogen wird, als es ein klassisches Eilvorabentscheidungsverfahren erlaubt hätte. Ich gestatte mir jedoch folgende Anmerkungen.

47.    Art. 267 Abs. 4 AEUV bestimmt: „Wird eine [Vorlagefrage] in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit.“ Diese Vorschrift macht nur Sinn, wenn die Antwort auf die dem Gerichtshof unterbreitete Vorlagefrage für die Haft der betreffenden Person relevant ist und sich auf diese auswirkt. Andernfalls ist es unerheblich, ob der Gerichtshof die Rechtssache mehr oder weniger rasch behandelt.

48.    Selbst wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, deutet meines Erachtens jedoch nichts darauf hin, dass der Gerichtshof verpflichtet wäre, zügiger vorzugehen, als es Art, Sensibilität oder Komplexität der gestellten Fragen erlauben. Das Gleiche gilt insbesondere dann, wenn die Untersuchung der Rechtssache es nach Ansicht des Gerichtshofs erfordert, dass alle in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs genannten Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, schriftlich Stellung zu nehmen. Der Gerichtshof verfügt nämlich nicht nur über ein prozessuales Werkzeug zur Behandlung dringender Vorabentscheidungsersuchen, sondern über zwei, wobei das zweite das in Art. 105 der Verfahrensordnung genannte beschleunigte Vorabentscheidungsverfahren ist(23). Einer der Hauptunterschiede des Letzteren zum Eilvorabentscheidungsverfahren besteht jedoch gerade in der Tatsache, dass die Beteiligung an seinem schriftlichen Abschnitt sämtlichen genannten Verfahrensbeteiligten offensteht. Ein solches beschleunigtes Vorabentscheidungsverfahren kann selbstverständlich in einem Tempo durchgeführt werden, das die in Art. 267 Abs. 4 AEUV enthaltene Regel gebührend berücksichtigt, und sich damit als für die Behandlung eines Vorabentscheidungsersuchens wie des vorliegenden geeignet erweisen.

 Würdigung

49.    Meine Ausführungen folgen dem nachstehenden Prüfungsschema. Nach einigen Vorbemerkungen und Klarstellungen zu den Bezugsnormen für die Gültigkeitsprüfung, um die der Gerichtshof im vorliegenden Fall gebeten wird, werde ich die streitige Bestimmung in den Kontext der Entstehungsgeschichte der Aufnahmerichtlinie einbetten. Anschließend werde ich zwei allgemeine Bemerkungen zu Art. 8 Abs. 3 dieser Richtlinie machen, bevor ich im Einzelnen auf die eigentliche Auslegung der streitigen Bestimmung eingehe. Auf dieser Grundlage werde ich schließlich prüfen, ob das vorliegende Verfahren irgendetwas zutage gebracht hat, was die Gültigkeit der streitigen Bestimmung in Frage stellen könnte.

 Vorbemerkungen

50.    Herr N. hat sich seit dem Tag illegal im Sinne der Rückführungsrichtlinie in den Niederlanden aufgehalten, an dem das Urteil der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) vom 4. April 2014, das die Rückkehrentscheidung bestätigt hat, rechtskräftig geworden ist.

51.    Herr N. hat jedoch am 27. Februar 2015 seinen letzten Asylantrag gestellt. In einem solchen Fall sieht Art. 9 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie – wie auch die alte Verfahrensrichtlinie(24) – grundsätzlich vor, dass der Antragsteller berechtigt ist, im Aufnahmemitgliedstaat zu verbleiben, bis die im ersten Rechtszug zuständige Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III dieser Richtlinie genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat(25). Art. 9 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie erlaubt eine Ausnahme von der in Abs. 1 dieses Artikels enthaltenen Regel nur unter strengen Voraussetzungen, nämlich u. a. dann, wenn es sich um einen „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 41 der genannten Richtlinie handelt(26).

52.    Wie ich ausgeführt habe, steht im vorliegenden Fall fest, dass über den letzten Asylantrag noch nicht entschieden worden ist. Außerdem bestehen, obwohl Herr N. in der Vergangenheit bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Niederlanden gestellt hat und keinem dieser Anträge stattgegeben worden ist, nach Kenntnis des Gerichtshofs keine Anhaltspunkte dafür, dass der Staatssekretär beschlossen hätte, ihm während der Prüfung seines letzten Asylantrags den Verbleib in diesem Mitgliedstaat zu untersagen(27). Sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung hat die niederländische Regierung im Gegenteil darauf hingewiesen, dass eine solche Entscheidung noch nicht erlassen worden sei. Unter diesen Umständen hält sich Herr N., wie das vorlegende Gericht und er selbst zu Recht hervorheben, derzeit rechtmäßig im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie in den Niederlanden auf. Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie fällt er daher nicht mehr unter diese, sondern ist erneut „Antragsteller“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie.

53.    Außerdem beruht die streitige Entscheidung ausschließlich auf Art. 59b Abs. 1 Buchst. d des Ausländergesetzes von 2000, mit dem die streitige Bestimmung in niederländisches Recht umgesetzt worden ist. Im Gegensatz zur neuerlichen Haftanordnung vom 1. Dezember 2015 stützt sie sich nicht auf die Bestimmung des niederländischen Rechts, mit der Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie umgesetzt worden ist. Der Gerichtshof ist in der Zwischenzeit mit einem weiteren Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag), Sitzungsort Haarlem (Niederlande), befasst worden, das die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Aufnahmerichtlinie betrifft, der mit Art. 59b Abs. 1 Buchst. a und b des Ausländergesetzes von 2000 in niederländisches Recht umgesetzt worden ist (Rechtssache C‑18/16, K., beim Gerichtshof anhängig). Diese Gültigkeitsfrage wird in der vorliegenden Rechtssache jedoch nicht aufgeworfen und in der vorliegenden Stellungnahme daher nicht behandelt.

54.    Im Übrigen steht zum einen fest, dass ein Fall wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende zur Durchführung der Aufnahmerichtlinie durch einen Mitgliedstaat gehört und gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta daher in deren Anwendungsbereich, insbesondere ihres Art. 6, fällt, und zum anderen, dass Herr N. in seiner Eigenschaft als Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in den Anwendungsbereich ebendieser Richtlinie fällt. Außerdem wird nicht bestritten, dass eine freiheitsentziehende Maßnahme wie die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende, auch wenn sie die Form einer Verwaltungshaft(28) aufweist, im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Aufnahmerichtlinie als „räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort [gilt], an dem [er] keine Bewegungsfreiheit hat“. Diese Maßnahme stellt einen Eingriff in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht von Herrn N. auf Freiheit und Sicherheit dar.

 Zu den Bezugsnormen für die Prüfung der Gültigkeit der streitigen Bestimmung

55.    Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob die streitige Bestimmung mit Art. 6 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK, vereinbar ist.

56.    Damit wird zunächst die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Schutz des Rechts auf Freiheit und Sicherheit, das durch Art. 6 der Charta garantiert ist, und dem Schutz aus Art. 5 EMRK aufgeworfen, da diese beiden Vorschriften nicht den gleichen Wortlaut haben.

57.    Art. 6 der Charta schützt lediglich allgemein das Recht jeder Person auf Freiheit und Sicherheit. Art. 52 Abs. 1 der Charta lässt insoweit Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts zu, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt der betreffenden Rechte und Freiheiten achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen(29).

58.    Gemäß Art. 52 Abs. 7 der Charta ist jedoch auch auf die Erläuterungen zu dieser Bezug zu nehmen. In diesen Erläuterungen heißt es, dass die Rechte nach Art. 6 der Charta „den Rechten [entsprechen], die durch Artikel 5 EMRK garantiert sind, denen sie nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta an Bedeutung und Tragweite gleichkommen“. Nach den besagten Erläuterungen dürfen „[d]ie Einschränkungen, die legitim an diesen Rechten vorgenommen werden können, … daher nicht über die Einschränkungen hinausgehen, die im Rahmen des … Artikels 5 EMRK zulässig sind“, den die Erläuterungen wiedergeben(30). Daraus folgt, dass die Gültigkeitsprüfung, um die der Gerichtshof im vorliegenden Fall ersucht wird, anhand von Art. 6 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 5 EMRK, zu erfolgen hat.

59.    Sodann geht es dem vorlegenden Gericht vorrangig darum, ob die streitige Bestimmung unter eine der zulässigen Ausnahmen vom Recht auf Freiheit und Sicherheit, das durch Art. 6 der Charta garantiert ist, nämlich die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK genannte, fallen kann. Die Prüfung der Gültigkeit der streitigen Bestimmung kann sich jedoch nicht auf Art. 6 der Charta, allein ausgelegt im Licht des fraglichen Buchst. f, beschränken.

60.    Zum einen enthält Art. 5 Abs. 1 EMRK nämlich weitere Ausnahmen vom Recht auf Freiheit und Sicherheit, in Bezug auf die zu prüfen ist, ob sie eine Inhaftnahme nach der streitigen Bestimmung rechtfertigen können(31). Zum anderen betrifft die im vorliegenden Fall an den Gerichtshof gerichtete Vorlagefrage allgemeiner die Vereinbarkeit der streitigen Bestimmung mit Art. 6 der Charta. Um auf diese Frage umfassend und im Interesse der Rechtssicherheit antworten zu können, erscheint es mir notwendig, die anderen von den letztgenannten Vorschriften gebotenen Garantien und die Frage zu beleuchten, ob die streitige Bestimmung, ausgelegt im Kontext der Bestimmungen der Aufnahmerichtlinie über die Haft, in einer Weise durchgeführt werden kann, die voll und ganz damit im Einklang steht(32).

61.    Darüber hinaus stelle ich bereits in diesem Stadium meiner Würdigung fest, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht einschlägig ist.

62.    Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, nämlich die Urteile R. U./Griechenland, Ahmade/Griechenland sowie Nabil u. a./Ungarn, betraf in diesem Zusammenhang Fälle, in denen sich Asylbewerber zu einem Zeitpunkt, zu dem gegen sie eine Abschiebungsanordnung bestand, willkürlich ihrer Freiheit beraubt sahen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesen Urteilen die Auffassung vertreten, dass eine Prüfung etwaiger Verstöße gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK allein anhand von Buchst. f dieser Vorschrift zu erfolgen habe(33). Insbesondere verlange diese Vorschrift lediglich, dass ein Ausweisungsverfahren im Gange sei, und biete daher nicht den gleichen Schutz wie der genannte Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, da eine Inhaftnahme auf dieser Grundlage gerechtfertigt sein könne, ohne dass sie beispielsweise erforderlich sei, um eine Person an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht zu hindern(34). Gleichwohl rechtfertigt nur die Durchführung eines Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahrens eine Inhaftnahme nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK, so dass diese nicht mehr gerechtfertigt ist, wenn ein solches Verfahren nicht mit der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt wird(35).

63.    Im Ausgangsrechtsstreit geht aus der Vorlageentscheidung hingegen nicht nur hervor, dass sich Herr N. seit dem 27. Februar 2015 rechtmäßig in den Niederlanden aufhielt, sondern auch, dass die Einreichung seines letzten Asylantrags die Rückkehrentscheidung ab diesem Zeitpunkt hinfällig gemacht hat(36). Unter diesen Umständen konnte die fragliche Inhaftierung ihre Grundlage nicht in dem Ziel finden, seine unerlaubte Einreise in das Hoheitsgebiet der Niederlande zu verhindern (Art. 5 Abs. 1 Buchst. f erster Fall EMRK). In Anbetracht der oben angeführten Rechtsprechung ließ sie sich auch nicht durch den zweiten in Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK genannten Grund rechtfertigen. Da die Rückkehrentscheidung hinfällig war, wurde die Inhaftierung nicht in einem laufenden Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren verfügt.

64.    Schließlich haben sich mehrere Parteien und Verfahrensbeteiligte, die Erklärungen abgegeben haben, in Beantwortung einer ihnen vom Gerichtshof gestellten Frage zur etwaigen Bedeutung von Art. 15 EMRK (einer Bestimmung, die in der Charta keine Entsprechung hat) für die Antwort auf die im vorliegenden Fall gestellte Gültigkeitsfrage geäußert.

65.    In diesem Zusammenhang heißt es in den Erläuterungen zur Charta zwar, dass diese „nicht die den Mitgliedstaaten offenstehende Möglichkeit [berührt], von Artikel 15 EMRK Gebrauch zu machen, der im Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, eine Abweichung von den in der EMRK vorgesehenen Rechten erlaubt, wenn sie nach ihren in Artikel 4 Absatz 1 [EUV] und in den Artikeln 72 [AEUV] und 347 [AEUV] anerkannten Verantwortlichkeiten Maßnahmen im Bereich der nationalen Verteidigung im Kriegsfalle oder im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung treffen“(37).

66.    Wie der Rat und die Kommission geltend machen, lässt sich den Akten jedoch nichts entnehmen, was die Annahme zuließe, dass das Königreich der Niederlande im Ausgangsverfahren von dieser Klausel Gebrauch gemacht oder sich auf einen etwaigen „Ausnahmezustand“ berufen hätte, um von den Grundrechten abzuweichen und die streitige Inhaftnahme zu rechtfertigen. Aus den Erklärungen der niederländischen Regierung ergibt sich vielmehr, dass diese im Wesentlichen der Ansicht ist, die streitige Entscheidung sei mit der Charta, insbesondere mit deren Art. 6, ausgelegt im Licht von Art. 5 EMRK, vereinbar. Außerdem ist Art. 15 EMRK nicht geeignet, den Schutz in Frage zu stellen, den Art. 5 EMRK generell bietet, und wirkt sich daher in keiner Weise auf die Frage aus, ob die streitige Bestimmung mit Art. 6 der Charta im Einklang steht oder nicht.

 Ursprung der streitigen Bestimmung

67.    Die alte Aufnahmerichtlinie sah keine besonderen Bestimmungen über die Ingewahrsamnahme vor. Die alte Verfahrensrichtlinie sah in ihrem Art. 18 lediglich zum einen vor, dass die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen durften, weil sie ein Asylbewerber war, und zum anderen, dass die Mitgliedstaaten, wenn ein Asylbewerber in Gewahrsam genommen wurde, sicherzustellen hatten, dass eine rasche gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams möglich war(38). Wie der Gerichtshof in seinem Urteil Arslan(39) festgestellt hat, führte keine dieser Richtlinien „zu einer Harmonisierung der Gründe, aus denen die Ingewahrsamnahme eines Asylbewerbers angeordnet werden [konnte]“, wobei „der Vorschlag einer abschließenden Auflistung dieser Gründe im Lauf der Verhandlungen, die dem Erlass der [alten Verfahrensrichtlinie] vorausgingen, fallen gelassen [worden war] und … erst im Rahmen der … Neufassung der [alten Aufnahmerichtlinie] beabsichtigt [war], eine solche Liste auf Unionsebene einzuführen“(40). Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass es Sache der Mitgliedstaaten war, unter vollständiger Einhaltung ihrer Verpflichtungen sowohl aus dem Völkerrecht als auch aus dem Unionsrecht die Gründe festzulegen, aus denen ein Asylbewerber in Gewahrsam genommen oder der Gewahrsam aufrechterhalten werden konnte(41).

68.    Die Liste in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie stellt in diesem Sinne ein Novum dar. In ihrem Richtlinienvorschlag stellte die Kommission fest, dass die Einfügung einer speziellen Regelung für die Inhaftnahme von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchten, nicht nur im Hinblick darauf gerechtfertigt erscheine, dass die Mitgliedstaaten diese Art von Maßnahme häufig anwendeten, sondern auch im Hinblick auf die sich festigende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(42).

69.    Der Vorschlag nannte bereits den Fall eines zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlichen Gewahrsams. Er bezog sich insoweit auf die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats über Maßnahmen zur Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern, in deren Rn. 3 es u. a. heißt, dass, auch wenn „[d]as Ziel der Ingewahrsamnahme … nicht darin [besteht], Asylbewerber zu bestrafen“, sich eine solche Maßnahme als notwendig erweisen kann, „wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung erforderlich ist“(43). Wie sich aus ihrer Präambel ergibt, ging die Empfehlung des Ministerkomitees insoweit ihrerseits auf die Schlussfolgerung Nr. 44 (XXXVII) 1986 des Exekutivkomitees des Programms des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) vom 13. Oktober 1986 über die Ingewahrsamnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern zurück(44).

70.    Das Parlament hat in seiner legislativen Entschließung vom 7. Mai 2009 keine wesentliche Änderung des zukünftigen Art. 8 der Aufnahmerichtlinie vorgeschlagen(45). Dagegen hat die Kommission in ihrem am 1. Juni 2011 vorgelegten geänderten Vorschlag „entsprechend dem Stand der Beratungen des Rates“ vorgeschlagen, im genannten Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 klarzustellen, dass die in dieser Bestimmung enthaltene Liste der Gründe für eine Ingewahrsamnahme unbeschadet einer Ingewahrsamnahme im Rahmen von Strafverfahren gelte(46). Obwohl dieser redaktionelle Vorschlag nicht angenommen wurde(47), findet sich der darin niedergelegte Grundsatz im Wesentlichen im 17. Erwägungsgrund der Aufnahmerichtlinie wieder, der allerdings allgemeiner jeden nach dem einzelstaatlichen Recht unabhängig von einem Antrag auf internationalen Schutz anwendbaren Haftgrund erfasst und nicht nur die Gründe für eine Freiheitsentziehung, die unter das Strafrecht fallen.

 Allgemeine Bemerkungen zu Art. 8 Abs. 3 der Aufnahmerichtlinie

71.    Zu Art. 8 Abs. 3 der Aufnahmerichtlinie bedarf es vorab zweier Klarstellungen.

 Inhaftnahme eines „Antragstellers“

72.    Erstens geht aus dem einleitenden Satz von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie hervor, dass die in dieser Vorschrift aufgezählten Gründe nur die Grundlage einer Haftmaßnahme darstellen können, die gegen einen Antragsteller im Sinne von Art. 2 Buchst. b der erwähnten Richtlinie erlassen wird. Aus der in der letztgenannten Vorschrift enthaltenen Definition ergibt sich jedoch, dass eine Person diese Eigenschaft verliert, wenn endgültig über ihren Antrag auf internationalen Schutz entschieden worden ist. Daher kann eine gegen eine Person erlassene Haftmaßnahme ab dem Zeitpunkt nicht mehr auf der streitigen Bestimmung beruhen, zu dem die zuständige nationale Behörde endgültig über den Antrag dieser Person auf internationalen Schutz entschieden hat, unabhängig davon, ob sie ihn zurückgewiesen oder ihm stattgegeben hat(48).

73.    Diese Feststellung lässt einen Mitgliedstaat angesichts der Bedrohung, die ein Ausländer, dem der internationale Schutz endgültig verweigert und gegen den eine Rückkehrentscheidung erlassen worden ist, für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt, jedoch nicht machtlos. Ein Mitgliedstaat kann einen Ausländer in einem solchen Fall unter den in Art. 15 der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen Bedingungen nämlich nicht nur in Haft nehmen, sondern ihn auch in Haft belassen, um seine Rückkehr vorzubereiten und/oder seine Abschiebung durchzuführen. Nichts schließt aus, dass eine solche Inhaftnahme durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sein kann, die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung zu schützen. Art. 15 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie führt die Fluchtgefahr oder den Fall, dass die betreffenden Staatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern, in diesem Zusammenhang nämlich nur als Beispiele für Haftgründe an(49).

 Eigenständigkeit jedes einzelnen in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie genannten Haftgrundes

74.    Zweitens ist in der mündlichen Verhandlung die Frage aufgeworfen worden, ob die streitige Bestimmung als eigenständige Bestimmung ausgelegt werden konnte. Diese Frage, die sich in erster Linie auf das Verhältnis des in der streitigen Bestimmung vorgesehenen Haftgrundes zu den anderen in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie aufgezählten Gründen bezieht, kann auf jeden einzelnen dieser anderen Gründe erstreckt werden. Sie ist meines Erachtens zu bejahen.

75.    Die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie enthaltene Liste der Haftgründe ist zwar erschöpfend und muss, da es sich um eine Ausnahme von dem in Abs. 1 dieses Artikels zum Ausdruck kommenden Grundsatz handelt, eng aufgefasst werden(50). Dies kann allerdings nicht dazu führen, dass irgendeiner der genannten Gründe auf eine Weise ausgelegt wird, die ihm jeden Mehrwert im Verhältnis zu einem anderen nähme. Das wäre jedoch beispielsweise der Fall, wenn die streitige Bestimmung nur in Verbindung mit einem anderen in diesem Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 genannten Haftgrund verwendet werden könnte. Der Wortlaut der streitigen Bestimmung bestätigt selbst, dass diese keinesfalls mit den anderen im erwähnten Artikel aufgezählten Haftgründen vermengt werden darf.

76.    Was speziell die streitige Bestimmung angeht, so kommt deren Eigenständigkeit noch eine andere Bedeutung zu. Zum einen ist der Umstand, dass gegen eine Person, die internationalen Schutz beantragt, vor Einreichung dieses Antrags ein Rückkehrverfahren eingeleitet und das genannte Verfahren während der Prüfung des erwähnten Antrags einfach nur ausgesetzt worden ist, für sich genommen nicht geeignet, eine Inhaftnahme nach der streitigen Bestimmung zu rechtfertigen. Zum anderen setzt die Durchführung dieser Bestimmung nicht zwangsläufig voraus, dass gegen die inhaftierte Person bereits ein Rückkehrverfahren im Sinne der Rückführungsrichtlinie anhängig ist. Ich werde weiter unten(51) auf jeden einzelnen dieser Aspekte zurückkommen.

 Auslegung der streitigen Bestimmung

77.    Ich gelange nun zum Kern der Auslegung der streitigen Bestimmung: Was bedeutet der Satz „wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist“?

 Vorbemerkungen

78.    Die Aufnahmerichtlinie definiert den Ausdruck „Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung“ nicht. Nach ständiger Rechtsprechung sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, jedoch entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen. Stehen diese Begriffe in einer Bestimmung, die eine Ausnahme von einem Grundsatz darstellt, so sind sie außerdem eng auszulegen(52).

79.    Indem er vorsieht, dass die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Haft nehmen, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Verfahrensrichtlinie ist, zielt Art. 8 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie darauf ab, die Einhaltung des Grundrechts der betreffenden Drittstaatsangehörigen auf Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten. Wie aus dem 15. Erwägungsgrund der Aufnahmerichtlinie hervorgeht, sind die Mitgliedstaaten nur in Ausnahmefällen und im Einklang mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise sowie den Zweck der Inhaftnahme berechtigt, einen solchen Antragsteller in Haft zu nehmen(53).

80.    In diesem Kontext folgt aus Art. 4 Abs. 2 EUV und Art. 72 AEUV zwar, dass es den Mitgliedstaaten weiterhin freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und ihre nationale Sicherheit erfordern(54).

81.    Aus meiner vorstehenden Darstellung der streitigen Bestimmung(55) ergibt sich jedoch, dass diese die Rechtfertigung einer Ausnahme ist, mit der die Mitgliedstaaten von einer Verpflichtung abweichen können, die geschaffen wurde, um die Achtung der Grundrechte von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, bei ihrer Aufnahme in der Union sicherzustellen. Die Anforderungen im Zusammenhang mit dem Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung sind daher eng zu verstehen, und ihre Tragweite kann nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union, insbesondere den Gerichtshof, bestimmt werden(56).

82.    Die letztgenannten Anforderungen erscheinen umso wichtiger, als sich die streitige Bestimmung durch ihren allgemeinen Wortlaut von den anderen in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie vorgesehenen Gründen unterscheidet. Diese Bestimmung darf keinesfalls so weit ausgelegt werden, dass der in der Aufnahmerichtlinie vorgesehene strenge Rahmen für die Inhaftnahme eines Asylbewerbers in der Praxis Gefahr liefe, jeder Wirksamkeit beraubt zu werden.

83.    Ich weise schließlich darauf hin, dass ein Unionsrechtsakt nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere den Bestimmungen der Charta auszulegen ist(57). Die Mitgliedstaaten sind daher nicht nur verpflichtet, ihr in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallendes nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern auch, darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert(58).

84.    Im vorliegenden Fall bedeutet dieser Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie dafür optieren, vorzusehen, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, gemäß der streitigen Bestimmung deshalb in Haft genommen werden darf, weil dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist, sicherzustellen haben, dass eine solche Inhaftnahme voll und ganz im Einklang mit dem durch Art. 6 der Charta garantierten Recht auf Freiheit und Sicherheit steht.

 Unabhängigkeit gegenüber den anderen nach nationalem Recht anwendbaren Gründen für eine Freiheitsentziehung

85.    Darüber hinaus ergibt sich, wie die italienische Regierung und die Kommission zu Recht geltend machen, aus dem 17. Erwägungsgrund der Aufnahmerichtlinie, der Aufschluss über die Tragweite dieser Richtlinie geben kann(59), eindeutig, dass der in der streitigen Bestimmung genannte Haftgrund – ebenso wie die anderen in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie aufgezählten Gründe – nicht mit den im nationalen Recht (insbesondere im Strafrecht) vorgesehenen Haftfällen vermengt werden darf, die unabhängig von einem Antrag auf internationalen Schutz auf jedermann Anwendung finden können.

86.    So bestätigt der genannte 17. Erwägungsgrund, dass die Aufnahmerichtlinie die Möglichkeit der Mitgliedstaaten völlig unberührt lässt, einer Person, die um internationalen Schutz nachsucht, aus den gleichen Gründen und unter den gleichen Bedingungen wie jeder anderen unter ihre Gerichtsbarkeit fallenden Person, insbesondere ihren Staatsangehörigen und rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen, die Freiheit zu entziehen. Daraus folgt beispielsweise, dass sich die streitige Bestimmung nicht auf die Möglichkeit auswirkt, auf eine um internationalen Schutz nachsuchende Person – unter den gleichen Bedingungen wie auf jede andere Person – die Bestimmungen des nationalen Rechts anzuwenden, die es ermöglichen, eine Person, die an einer Demonstration teilnimmt, für kurze Zeit festzunehmen und in Verwaltungshaft zu nehmen, wenn dies aus Gründen der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich ist. Auch wird mit der Aufnahmerichtlinie keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorgenommen, die vorsehen, dass eine Person – unabhängig davon, ob sie um internationalen Schutz nachsucht oder nicht – mit Freiheitsstrafe bestraft werden kann, wenn sie eine Straftat (beispielsweise einen Mord oder eine Vergewaltigung) begeht.

87.    Abgesehen davon bezieht sich eine der Aufgaben des Strafrechts gerade auf den Schutz der Gesellschaft gegen Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung oder gar der nationalen Sicherheit. Daher schließen meine Ausführungen in den vorstehenden Nummern nicht aus, dass bestimmte Umstände unter das nationale Strafrecht fallen können und gleichzeitig geeignet sind, eine Haftmaßnahme nach der streitigen Bestimmung zu rechtfertigen. So können, um nur ein offensichtliches Beispiel zu nehmen, vorbereitende Handlungen zu einem Terroranschlag sowohl einen Straftatbestand darstellen (der gegebenenfalls zu einer Freiheitsstrafe führt) als auch die Notwendigkeit einer vorbeugenden Haft nach der streitigen Bestimmung belegen(60). Der Kommission zufolge erlaubt diese Bestimmung es einem Mitgliedstaat unter derartigen Umständen, der für die Entscheidung über den Asylantrag zuständigen Behörde die Befugnis zu übertragen, einer schwerwiegenden Störung der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dadurch vorzubeugen, dass sie selbst die Inhaftnahme des Antragstellers anordnet(61). In einem solchen Fall verlangt Art. 9 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie vom betreffenden Mitgliedstaat jedoch, dass er von Amts wegen und/oder auf Antrag des Betroffenen für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haftmaßnahme sowie für eine unverzügliche Freilassung des Antragstellers sorgt, falls sich die Haft als unrechtmäßig herausstellt(62).

 Klarstellung der Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“

88.    Was die eigentliche Bedeutung der Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ angeht, hatte der Gerichtshof in seinem Urteil T.(63) bereits Gelegenheit, ebendiese in Art. 24 Abs. 1 der alten Anerkennungsrichtlinie(64) enthaltenen Begriffe entsprechend den in den Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38/EG(65) verwendeten Begriffen der „öffentlichen Sicherheit“ und der „öffentlichen Ordnung“ auszulegen. Auch wenn es den Mitgliedstaaten, worauf ich oben hingewiesen habe, weiterhin freisteht, die Anforderungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festzulegen, hat der Gerichtshof gleichwohl die Auffassung vertreten, dass der Umfang des Schutzes, den eine Gesellschaft ihren grundlegenden Interessen gewähren will, nicht je nach der Rechtsstellung der Person, die diese Interessen beeinträchtigt, unterschiedlich ausfallen kann(66).

89.    So hat der Gerichtshof befunden, dass der Begriff „öffentliche Sicherheit“ sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst und dass daher die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können(67).

90.    Den Begriff „öffentliche Ordnung“ hat der Gerichtshof in verschiedenen Zusammenhängen dahin ausgelegt, dass er jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt(68). Daraus ergibt sich, dass im Rahmen der Beurteilung dieses Begriffs jedes tatsächliche oder rechtliche Kriterium zur Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen maßgeblich ist, das geeignet ist, die Frage zu klären, ob sein persönliches Verhalten eine solche Bedrohung begründet(69).

91.    Diese Ausführungen sind meiner Meinung nach voll und ganz auf die Auslegung der Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ in der streitigen Bestimmung übertragbar.

92.    Ich stelle ferner fest, dass die streitige Bestimmung auf eine Art ausgelegt werden muss, die mit dem 37. Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie übereinstimmt, der veranschaulicht, was eine erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellen kann. In diesem Erwägungsgrund heißt es: „Der Begriff der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung gilt … für die Fälle, in denen ein Drittstaatsangehöriger einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt.“(70) Eine solche Mitgliedschaft könnte, wenn sie ordnungsgemäß nachgewiesen wird, genügen, um die Notwendigkeit einer Haftmaßnahme gemäß der streitigen Bestimmung zu belegen.

 Ausschließlich präventive Funktion

93.    Soweit sie den Erlass von Maßnahmen zur Vorbeugung von Störungen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung gestattet, hat die streitige Bestimmung eine ausschließlich präventive Funktion.

94.    Dieser präventive Charakter geht mit dem sich aus Art. 8 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie ergebenden Erfordernis einher, wonach über eine Haft nach der streitigen Bestimmung erst im Anschluss an eine „Einzelfallprüfung“ entschieden werden kann. Das genannte Erfordernis setzt eine Prüfung der Frage voraus, ob sich mit tatsächlichen oder rechtlichen Kriterien zur Situation des Antragstellers feststellen lässt, dass sein persönliches Verhalten die Haft rechtfertigt, weil er eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt. In diesem Zusammenhang ist es ohne Bedeutung, dass sich die streitige Bestimmung – im Gegensatz etwa zu Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie – nicht ausdrücklich auf die „Gefahr“ bezieht, die der Antragsteller für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt.

95.    Das in der vorstehenden Nummer angeführte Erfordernis bedeutet, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf eine allgemeine Praxis oder irgendeine Vermutung stützen kann, um festzustellen, dass eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung im Sinne der streitigen Bestimmung vorliegt, ohne das persönliche Verhalten des Drittstaatsangehörigen und die Gefahr, die dieses Verhalten insoweit darstellt, gebührend zu berücksichtigen(71).

96.    Aus diesem Grund kann ich den Standpunkt der Kommission, wonach die streitige Bestimmung es einem Mitgliedstaat gestattet, Asylbewerber in Haft zu nehmen, wenn sie Teil eines plötzlichen Massenzustroms von Migranten sind, der eine Gefahr für die interne Ordnung dieses Staates und für seine Fähigkeit darstellt, einen solchen Zustrom zu bewältigen, nicht teilen. Im Übrigen ist insoweit festzustellen, dass die Aufnahmerichtlinie nach ihrem Art. 3 Abs. 3 keine Anwendung findet, wenn die Bestimmungen der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten(72) angewendet werden.

97.    Auch der Umstand, dass ein Antragsteller verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht strafbare Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat bereits strafrechtlich verurteilt wurde, kann für sich genommen nicht rechtfertigen, dass er in Haft genommen wird, weil dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist(73). Aufgrund des präventiven Charakters einer nach der streitigen Bestimmung angeordneten Haft kann diese an sich nämlich nicht die Bestrafung eines vergangenen Verhaltens des Antragstellers zum Gegenstand haben. Eine andere Schlussfolgerung würde im Hinblick auf den Grundsatz ne bis in idem im Übrigen zu Schwierigkeiten führen, da sie eine Situation ermöglichen würde, in der eine Person, nachdem sie wegen einer oder mehrerer Straftaten verurteilt worden ist und die entsprechenden Strafen verbüßt hat, durch eine Inhaftnahme nach der streitigen Bestimmung wegen ebendieser Taten nochmals „bestraft“ werden könnte.

98.    In diesem Zusammenhang ist ferner zu bemerken, dass, wie der Gerichtshof in seinem Urteil El Dridi(74) entschieden hat, die Rückführungsrichtlinie, insbesondere ihre Art. 15 und 16, einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in dessen Hoheitsgebiet bleibt. Eine solche Strafe droht nämlich die Verwirklichung des mit der Rückführungsrichtlinie verfolgten Ziels zu beeinträchtigen, das darin besteht, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik in Bezug auf illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zu schaffen(75). Folglich kann der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger in der Vergangenheit zu einer solchen Strafe verurteilt worden ist, entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung keinesfalls dazu beitragen, nachzuweisen, dass der genannte Drittstaatsangehörige nach Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz eine gegenwärtige Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt, die seine Inhaftnahme nach der streitigen Bestimmung rechtfertigt.

99.    Wie die belgische Regierung im Wesentlichen geltend macht, setzt die Feststellung einer Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung jedoch nicht zwangsläufig voraus, dass die zuständige nationale Behörde den Antragsteller verdächtigt, eine strafbare Handlung begangen zu haben, und erst recht nicht, dass ihr der Nachweis der Begehung gelingt oder der Antragsteller aus diesem Grund sogar bereits verurteilt worden ist. Es lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass ein Antragsteller deshalb eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellen kann, weil nach Prüfung aller relevanten Umstände ernsthafte Anhaltspunkte vorliegen, die den Verdacht begründen, dass er sich anschickt, eine solche Tat zu begehen.

 Eigenständigkeit der streitigen Bestimmung im Verhältnis zu einem Rückkehrverfahren

100. Der Umstand, dass gegen einen Antragsteller vor der Einreichung seines Asylantrags eine Rückkehrentscheidung ergangen ist oder er sogar dafür verurteilt wurde, dass er dieser Entscheidung nicht nachgekommen ist, hat als solcher nichts mit der Feststellung zu tun, dass dieser Antragsteller eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung des betreffenden Mitgliedstaats darstellt(76). Das Gleiche gilt selbst dann, wenn sich eine solche Rückkehrentscheidung aus der Ablehnung eines vorangegangenen Asylantrags ergibt(77). In diesem Zusammenhang ist der bloße Umstand, dass ein Antragsteller nach Erlass einer endgültigen Entscheidung im Sinne von Art. 41 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensrichtlinie, mit der ein erster Folgeantrag für unzulässig erklärt worden ist und aufgrund deren ein Mitgliedstaat vom Recht dieses Antragstellers auf Verbleib im Hoheitsgebiet abweichen kann, in demselben Mitgliedstaat einen „weiteren Folgeantrag“ auf internationalen Schutz stellt, entgegen dem Vorbringen des Rates unerheblich.

101. Diese letzte Klarstellung gibt mir Gelegenheit, die Frage des Verhältnisses zwischen der streitigen Bestimmung und dem in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d der Aufnahmerichtlinie genannten Haftgrund anzusprechen. Der letztgenannte Grund betrifft den Fall einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person, die im Rahmen eines Rückkehrverfahrens nach der Rückführungsrichtlinie in Haft genommen worden ist, um die Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen(78).

102. Im Urteil Arslan(79) hatte der Gerichtshof Gelegenheit, klarzustellen, dass die Rückführungsrichtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen, der einen Asylantrag gestellt hat, im Zeitraum zwischen der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag oder gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen allfälligen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung keine Anwendung findet. Folglich kann die Inhaftnahme eines Asylbewerbers für die Zwecke der Abschiebung im erwähnten Zeitraum selbst dann nicht auf Art. 15 der Rückführungsrichtlinie gestützt werden, wenn der genannte Asylbewerber vor Antragstellung auf der Grundlage dieses Artikels in Haft genommen worden ist, weil sein Verhalten Anlass zu der Befürchtung gab, dass er fliehen und seine Abschiebung vereiteln werde(80).

103. Der Gerichtshof hat jedoch bereits vor Inkrafttreten der Aufnahmerichtlinie die Auffassung vertreten, dass das Ziel der Rückführungsrichtlinie, eine wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sicherzustellen, gefährdet würde, wenn ein Antragsteller, der nach Art. 15 der letztgenannten Richtlinie in Haft genommen worden ist, schon allein deshalb automatisch seine Freilassung erreichen kann, weil er einen Asylantrag gestellt hat(81). Der Gerichtshof hat nämlich hervorgehoben, dass, solange das Verfahren zur Prüfung eines solchen Antrags läuft, dies keinesfalls bedeutet, dass das Rückführungsverfahren endgültig beendet wird, da dieses im Fall der Ablehnung des Asylantrags fortgesetzt werden kann(82). Demnach standen weder die alte Aufnahmerichtlinie noch die alte Verfahrensrichtlinie dem entgegen, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, der um internationalen Schutz ersucht hatte, nachdem er gemäß Art. 15 der Rückführungsrichtlinie in Haft genommen worden war, auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift aufrechterhalten wurde, als sich nach einer fallspezifischen Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände herausstellte, dass dieser Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt worden war, die tatsächliche Rückführung zu verzögern oder zu gefährden, und es objektiv erforderlich war, die Haftmaßnahme aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass sich der Betreffende endgültig seiner Rückführung entzog(83).

104. Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d der Aufnahmerichtlinie dient nunmehr gerade dazu, einen Rahmen für die Haftmaßnahmen zu bilden, die von den Mitgliedstaaten in einem solchen Fall angeordnet werden können. Eine Inhaftnahme nach dieser Vorschrift ist nur möglich, wenn sich der Antragsteller zum Zeitpunkt der Einreichung seines Antrags auf internationalen Schutz aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung seines Abschiebungsverfahrens in Haft befindet, einerseits, und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Antragsteller den Antrag auf internationalen Schutz nur gestellt hat, um die Vollstreckung der gegen ihn ergangenen Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln, andererseits. Daher erfasst Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d der Aufnahmerichtlinie eindeutig nicht den Fall, dass dem Betroffenen zum Zeitpunkt der Einreichung seines Asylantrags entweder nicht die Freiheit entzogen ist oder diese ihm außerhalb eines Rückkehrverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie entzogen wird.

105. In der mündlichen Verhandlung ist die Auffassung vertreten worden, die streitige Bestimmung könne dahin ausgelegt werden, dass sie es erlaube, einen Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung ergangen sei, der sich bis dahin aber auf freiem Fuß befunden habe, nach Einreichung eines Antrags auf internationalen Schutz mit der Begründung in Haft zu nehmen, dass dieser Antrag nur gestellt worden sei, um die Vollstreckung der genannten Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln. Eine solche Auslegung kann meines Erachtens nicht vorgenommen werden. Sie würde nämlich nicht nur der ersten in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d der Aufnahmerichtlinie vorgesehenen und in der vorhergehenden Nummer angeführten Voraussetzung die Wirkung nehmen. Sie wäre auch mit dem in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie verankerten Grundsatz unvereinbar, da die Inhaftnahme ihren Ursprung in einem solchen Fall in der Einreichung des Antrags auf internationalen Schutz fände. Mehr noch: Diese Auslegung würde im Hinblick auf Art. 31 des Genfer Abkommens, dessen Umsetzung der erwähnte Art. 8 Abs. 1 u. a. dient, zu Schwierigkeiten führen. Wie ich hervorgehoben habe, gestattet es Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d der Aufnahmerichtlinie unter bestimmten Bedingungen lediglich, eine gegen einen Drittstaatsangehörigen bereits erlassene Haftmaßnahme zu verlängern, um seine Rückführung vorzubereiten und/oder seine Abschiebung im Rahmen eines Rückkehrverfahrens durchzuführen.

106. Abgesehen davon steht der bloße Umstand, dass gegen einen Asylbewerber vor Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz eine rechtskräftig gewordene Rückkehrentscheidung ergangen ist, die gegebenenfalls mit einem Einreiseverbot einhergeht, seiner erstmaligen Inhaftnahme nach der streitigen Bestimmung nicht entgegen, sofern der betreffende Mitgliedstaat nachweist, dass dieser Asylbewerber eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt(84).

107. Darüber hinaus hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen vorgetragen, die streitige Bestimmung bezwecke möglicherweise, die Inhaftierung einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person zu ermöglichen, wenn gemäß Art. 9 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie in Verbindung mit Art. 41 dieser Richtlinie vom Recht der genannten Person auf Verbleib im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats abgewichen werde. In einem solchen Fall gestatte es die streitige Bestimmung, den Antragsteller noch vor der Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz in Haft zu nehmen, wenn bereits mehrere derartige Anträge des Antragstellers abgelehnt worden seien und die Gefahr bestehe, dass er der ihm gegenüber erlassenen Aufforderung, das Hoheitsgebiet zu verlassen, nicht nachkomme.

108. Dieses Argument überzeugt mich nicht. In dem soeben beschriebenen Fall hält sich der Antragsteller nämlich per definitionem im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie „illegal“ im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats auf. Folglich finden die Bestimmungen dieser Richtlinie Anwendung. Eine etwaige Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung ist nach deren Art. 15 jedoch durchaus möglich, um die Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen. Es besteht daher kein „Rechtsvakuum“, das die streitige Bestimmung in einem solchen Fall füllen muss.

109. Entgegen dem Vorbringen von Herrn N., der niederländischen Regierung und des Parlaments in der mündlichen Verhandlung vermag ich schließlich nicht zu erkennen, weshalb die Anwendung der streitigen Bestimmung allein auf Fälle begrenzt sein sollte, in denen gegen den betreffenden Antragsteller vor Stellung seines Antrags eine Rückkehrentscheidung ergangen ist. Eine solche Auslegung findet im Wortlaut der streitigen Bestimmung oder allgemeiner der Aufnahmerichtlinie keinerlei Grundlage. Sie könnte außerdem die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung insofern ernsthaft beeinträchtigen, als die Befugnis eines Mitgliedstaats, auf der Grundlage der genannten Bestimmung einer schwerwiegenden Störung seiner nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung vorzubeugen, in erster Linie vom vorherigen Erlass einer Rückkehrentscheidung abhinge. Die Gefahr, der der Mitgliedstaat möglicherweise begegnen müsste, könnte jedoch ebenso gut während der Prüfung eines Asylantrags – (lange) vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung – zutage treten(85).

 Relevanz eines Einreiseverbots

110. Wie steht es mit dem Umstand, dass eine frühere Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot im Sinne von Art. 11 der Rückführungsrichtlinie einhergegangen ist?

111. Meines Erachtens kann ein solcher Umstand keinesfalls entscheidend sein. Abs. 2 dieser Vorschrift sieht zwar vor, dass ein Einreiseverbot für eine Dauer von mehr als fünf Jahren angeordnet werden kann, wenn der von dieser Maßnahme betroffene Drittstaatsangehörige als schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit betrachtet wird. Daher kann ein mit solchen Erwägungen begründetes Einreiseverbot, worauf die belgische, die griechische und die italienische Regierung sowie der Rat hinweisen, einen Anhaltspunkt dafür liefern, dass ein Asylbewerber eine solche Gefahr darstellt.

112. Nach Art. 11 Abs. 5 der Rückführungsrichtlinie berührt ein Einreiseverbot jedoch nicht das Recht auf internationalen Schutz, das der Betroffene im Unionsrecht unter der Voraussetzung beanspruchen kann, dass er einen darauf gerichteten Antrag stellt. Mehr noch: Ein solches Verbot gilt auch unbeschadet der Garantien der Aufnahmerichtlinie, einschließlich des Schutzes gegen eine Inhaftnahme, die nicht durch einen der Gründe in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 dieser Richtlinie gerechtfertigt ist. Folglich enthebt der bloße Umstand, dass gegen einen Antragsteller aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in der Vergangenheit ein Verbot der Einreise in einen Mitgliedstaat verhängt worden ist, die zuständige nationale Behörde nicht von der Pflicht, zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eine Inhaftnahme nach der streitigen Bestimmung in Betracht zieht, zu prüfen, ob diese Maßnahme durch die gegenwärtige Gefahr, die der Antragsteller für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt, gerechtfertigt erscheint(86).

 Maßnahme mit Ausnahmecharakter

113. Jedenfalls trägt die Aufnahmerichtlinie der Tatsache Rechnung, dass eine Inhaftnahme eine besonders drastische Maßnahme gegenüber einer um internationalen Schutz nachsuchenden Person darstellt, die nur in Ausnahmefällen erlassen werden kann(87). So darf ein Mitgliedstaat einen Asylbewerber gemäß Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung zum einen nur „[i]n Fällen, in denen es erforderlich ist“, und zum anderen nur dann, „wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen“, in Haft nehmen,. Eine solche Inhaftnahme unterliegt daher einem strikten Verhältnismäßigkeitserfordernis. Der Umstand, dass die streitige Bestimmung ein letztes Mittel darstellt, wird darüber hinaus durch Art. 8 Abs. 4 der Aufnahmerichtlinie bestätigt, der Alternativen zur Inhaftnahme, etwa Meldeauflagen oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten (also ohne in Haft genommen zu werden), aufzeigt. Solche Alternativen wären jedoch nicht angemessen, wenn es beispielsweise darum geht, der schwerwiegenden Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung vorzubeugen, die von einer Einzelperson ausgeht, die sich in Anbetracht einer Reihe übereinstimmender Indizien anschickt, einen Terroranschlag zu begehen.

 Schlussbemerkungen

114. Ich weise noch darauf hin, dass die Auslegung der streitigen Bestimmung, die ich oben dargelegt habe, einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, vorzusehen, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, bei Fluchtgefahr in Haft genommen werden kann, und sich dabei auf einen anderen in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie vorgesehenen Haftgrund zu stützen. Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b bestimmt nämlich, dass in einem solchen Fall eine Inhaftnahme angeordnet werden kann, soweit sie erforderlich ist, damit die zuständige nationale Behörde die Beweise sichern kann, auf die sich der Antrag auf internationalen Schutz stützt(88). Für sich genommen kann das Vorliegen einer solchen Gefahr daher nicht als Grundlage für die Feststellung dienen, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung im Sinne der streitigen Bestimmung darstellt.

115. Diese Auslegung lässt auch die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, einen Asylbewerber in Haft zu nehmen, um seine Identität oder Staatsangehörigkeit zu überprüfen oder um über sein Recht auf Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu entscheiden, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen gegen einen solchen Asylbewerber nicht wirksam anwenden lassen. Die Buchst. a und c von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Aufnahmerichtlinie sehen nämlich ausdrücklich vor, dass eine Haft auf solchen Gründen beruhen kann, soweit sämtliche in dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien auf dem Gebiet der Haft beachtet werden(89).

 Gültigkeit der streitigen Bestimmung

116. Um im Einklang mit Art. 6 der Charta zu stehen, muss eine nach der streitigen Bestimmung angeordnete Haftmaßnahme gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des Rechts auf Freiheit und Sicherheit achten und sich – unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – als notwendig erweisen und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Wie ich in Nr. 60 der vorliegenden Stellungnahme dargelegt habe, setzt dies eine Prüfung der Frage voraus, ob eine solche Haftmaßnahme zum einen unter eine der in Art. 5 Abs. 1 EMRK genannten Ausnahmen fällt und zum anderen alle übrigen von den Abs. 2 bis 5 dieses Artikels gebotenen Garantien beachtet. Ich werde nunmehr ausführlicher auf diese Anforderungen eingehen. Die nachstehenden Ausführungen dienen nicht der Darstellung der gesamten einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Eingriffen in das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das durch Art. 5 EMRK – und damit durch Art. 6 der Charta – garantiert ist. Sie beschränken sich auf das, was im Hinblick auf die Beantwortung der dem Gerichtshof vorgelegten Gültigkeitsfrage notwendig erscheint.

 Fällt die streitige Bestimmung möglicherweise unter eine der zulässigen Ausnahmen vom Recht auf Freiheit und Sicherheit?

117. Aus einer ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die für die Auslegung von Art. 6 der Charta in vollem Umfang relevant ist, geht hervor, dass die Buchst. a bis f von Art. 5 Abs. 1 EMRK eine erschöpfende Liste der Gründe enthalten, die eine Inhaftierung ermöglichen, so dass eine solche Maßnahme nicht rechtmäßig ist, wenn sie nicht unter einen dieser Gründe fällt(90). Diese Gründe sind eng auszulegen, da sie Ausnahmen vom Recht auf Freiheit und Sicherheit darstellen(91).

118. Vorab weise ich darauf hin, dass eine nach der streitigen Bestimmung angeordnete Haftmaßnahme in Anbetracht der ausschließlich präventiven Natur des in dieser Bestimmung genannten Haftgrundes, die ich oben(92) hervorgehoben habe, keinesfalls unter die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a EMRK vorgesehene Ausnahme vom Recht auf Freiheit und Sicherheit fallen kann. Diese Ausnahme betrifft nämlich die Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Strafe durch ein Gericht und hat mit Präventivmaßnahmen daher nichts zu tun(93).

119. Allerdings könnte sich die Inhaftnahme eines Asylbewerbers nach der streitigen Bestimmung in den durch die Tragweite dieser Bestimmung gezogenen Grenzen, die ich oben skizziert habe, auf mehrere andere in Art. 5 EMRK genannte Ausnahmen beziehen.

120. Die erste von ihnen ist die Ausnahme in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK, der sich im Wesentlichen auf die Untersuchungshaft bezieht(94). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass sich der Haftgrund der Notwendigkeit, eine Person an der Begehung einer Straftat zu hindern, nicht für eine allgemeine Präventionspolitik gegen eine Person oder Personengruppe eigne, die sich aufgrund ihrer anhaltenden Neigung zur Begehung von Straftaten als gefährlich erwiesen. Dieser Grund beschränke sich darauf, den Vertragsstaaten die Wahl des Mittels zur Verhinderung einer konkreten und bestimmten Straftat zu überlassen(95). Er erlaube lediglich eine Haft, die im Rahmen eines Strafverfahrens angeordnet werde(96). Dies gehe aus seinem Wortlaut hervor, der in Verbindung mit Buchst. a desselben Absatzes von Art. 5 einerseits und Abs. 3 dieses Artikels andererseits zu sehen sei, mit dem er ein Ganzes bilde und in dem es u. a. heiße, dass eine solche Ausnahme vom Recht auf Freiheit und Sicherheit voraussetze, dass die betreffende Person unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werde und dass sie Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Zeit oder auf Entlassung während des Verfahrens habe(97). Werde einer Person die Freiheit entzogen, um sie an der Begehung einer Straftat zu hindern, könne ein solches Verfahren die strafrechtliche Verurteilung dieser Person wegen Handlungen zur Vorbereitung der genannten Straftat zum Gegenstand haben(98). Das Erfordernis eines Strafverfahrens bedeutet jedoch keineswegs, dass Festnahme und Inhaftierung nicht von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden können (wie in dem Beispiel, das ich in Nr. 87 der vorliegenden Stellungnahme angeführt habe), da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden hat, dass mit Art. 5 Abs. 3 EMRK gerade eine rasche und automatische richterliche Kontrolle einer freiheitsentziehenden Maßnahme sichergestellt werden solle, die von der Polizei oder der Verwaltung nach Abs. 1 Buchst. c dieses Artikels angeordnet worden sei(99).

121. Darüber hinaus schließt die Eigenständigkeit der streitigen Bestimmung im Verhältnis zu einem Rückkehrverfahren, die ich in den Nrn. 100 bis 109 der vorliegenden Stellungnahme beleuchtet habe, selbstverständlich nicht aus, dass im Rahmen eines solchen Verfahrens eine Inhaftnahme nach dieser Bestimmung angeordnet wird, wenn gegen den betreffenden Antragsteller vor Einreichung seines Antrags auf internationalen Schutz eine Rückkehrentscheidung ergangen ist. Eine solche Haftmaßnahme könnte in diesem Fall im Hinblick auf die zweite in Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK genannte Ausnahme gerechtfertigt sein.

122. Wie ich bereits ausgeführt habe(100), geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nämlich hervor, dass die letztgenannte Vorschrift lediglich verlangt, dass ein Ausweisungsverfahren im Gange ist. Sie bietet daher nicht den gleichen Schutz wie Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK und setzt insbesondere nicht die sofortige Vorführung vor einen Richter voraus, die dieser Art. 5 Abs. 3 für Fälle einer Freiheitsentziehung verlangt, die auf den genannten Art. 5 Abs. 1 Buchst. c gestützt werden. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil Nabil u. a./Ungarn festgestellt hat, bedeutet der bloße Umstand, dass eine Person, gegen die eine Abschiebungsanordnung ergangen ist, einen Asylantrag gestellt hat, jedoch nicht zwangsläufig, dass die Inhaftnahme dieser Person nicht länger ihre Ausweisung betrifft, da eine etwaige Ablehnung des genannten Antrags den Weg für die Durchführung der Abschiebungsanordnung frei machen kann(101). Insoweit besteht eine Analogie zu den Ausführungen in Rn. 60 des Urteils Arslan(102).

123. Gleichwohl rechtfertigt lediglich die Durchführung eines Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahrens eine aus diesem Grund angeordnete Freiheitsentziehung, und auch nur, soweit das genannte Verfahren mit der erforderlichen Sorgfalt geführt wird(103). Die zweite in Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK vorgesehene Ausnahme kann die Freiheitsentziehung eines Asylbewerbers daher nur rechtfertigen, soweit der von diesem eingereichte Antrag auf internationalen Schutz nicht dazu geführt hat, dass die gegen ihn erlassene Abschiebungsanordnung rechtlich inexistent geworden ist(104). Außerdem lässt sich eine freiheitsentziehende Maßnahme nur dann durch den erwähnten Art. 5 Abs. 1 Buchst. f rechtfertigen, wenn sie in gutem Glauben durchgeführt wird, eng mit dem von der betreffenden Regierung angeführten Haftgrund zusammenhängt, Ort und Bedingungen der Haft angemessen sind und schließlich die Dauer dieser Maßnahme nicht über den Zeitraum hinausgeht, der nach vernünftigem Ermessen für die Erreichung des verfolgten Ziels notwendig ist(105). Im Unionsrecht steht nichts in der Aufnahmerichtlinie, geschweige denn in der Verfahrens- oder Rückführungsrichtlinie, der Einhaltung dieser Anforderungen entgegen.

124. Ich schließe auch nicht aus, dass eine nach der streitigen Bestimmung angeordnete Haft möglicherweise, wie die belgische Regierung, der Rat und die Kommission vortragen, unter die zweite in Art. 5 Abs. 1 Buchst. b EMRK vorgesehene Ausnahme fallen kann, die es erlaubt, einer Person die Freiheit zu entziehen, um die Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung zu erzwingen. In seinem Urteil Ostendorf/Deutschland hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt, dass eine Inhaftnahme zur Verhinderung der Begehung einer Straftat, die in einer Störung der öffentlichen Ordnung durch die Beteiligung an einer Schlägerei zwischen Hooligans bestehe, auf diese Bestimmung gestützt werden könne, ohne dass diese Inhaftnahme die Vorführung der betreffenden Person vor die zuständige Justizbehörde bezwecke und daher unter Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK falle(106). Gleichwohl müsse eine solche Inhaftnahme, die dazu diene, die Erfüllung einer dem Betroffenen obliegenden und von diesem bis dahin nicht erfüllten spezifischen und konkreten Verpflichtung zu erzwingen, darüber hinaus u. a. rechtlich zulässig sein(107). Eine Inhaftnahme zur Verhinderung der Begehung einer Straftat setze u. a. voraus, dass Ort und Zeitpunkt der unmittelbar bevorstehenden Begehung dieser Straftat ebenso wie deren potenzielle Opfer mit ausreichender Genauigkeit bestimmt werden könnten(108).

125. Der Rat und die Kommission tragen weiter vor, es lasse sich nicht ausschließen, dass eine Haftmaßnahme nach der streitigen Bestimmung unter die Ausnahme in Art. 5 Abs. 1 Buchst. e EMRK falle, der u. a. die Möglichkeit vorsehe, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtige und Landstreicher in Haft zu nehmen(109). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Zusammenhang zwar entschieden, dass solchen Personen auf dieser Grundlage u. a. deshalb die Freiheit entzogen werden könne, weil sie als für die öffentliche Sicherheit gefährlich zu betrachten seien(110). Ich erinnere jedoch an die begrenzte Tragweite der streitigen Bestimmung, auf die ich in den Nrn. 77 bis 115 der vorliegenden Stellungnahme hingewiesen habe; die Durchführung dieser Bestimmung setzt insbesondere voraus, dass sich mit tatsächlichen oder rechtlichen Kriterien zur Situation des Antragstellers feststellen lässt, dass sein persönliches Verhalten die Haft rechtfertigt, weil er eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt. In diesem Kontext habe ich große Vorbehalte hinsichtlich der Möglichkeit, eine nach der streitigen Bestimmung angeordnete Haftmaßnahme auf der Grundlage der genannten Ausnahme zu rechtfertigen.

 Einhaltung der anderen Garantien bei Eingriffen in das Recht auf Freiheit und Sicherheit

126. Art. 6 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 5 EMRK, stellt eine Reihe zusätzlicher Garantien sowohl inhaltlicher als auch verfahrensrechtlicher Natur bereit(111).

127. Erstens muss jeder Eingriff in das Recht auf Freiheit und Sicherheit rechtmäßig sein. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bedeutet dieses Erfordernis in erster Linie, dass die Haft die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen materiellen und verfahrensrechtlichen Normen einhalten muss(112). Es findet sich in Art. 52 Abs. 1 der Charta bestätigt, wonach jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss. In einem Haftfall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bezieht sich dieses Erfordernis auf die Einhaltung sämtlicher einschlägiger Bestimmungen der Aufnahmerichtlinie und des anwendbaren nationalen Rechts.

128. Art. 5 Abs. 1 EMRK verlangt außerdem, dass jede Haft dem Ziel entspricht, das darin besteht, den Einzelnen gegen Willkür zu schützen, da eine nach den nationalen Rechtsvorschriften rechtmäßige Freiheitsentziehung gleichwohl willkürlich sein und daher gegen die EMRK verstoßen kann(113). Diese Voraussetzung beinhaltet u. a., dass die Behörden bei der Durchführung der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht bösgläubig oder in Täuschungsabsicht handeln dürfen, dass sich diese Maßnahme mit dem Zweck der nach dem einschlägigen Unterabsatz von Art. 5 Abs. 1 EMRK zulässigen Einschränkungen deckt, dass zwischen dem Grund, der angeführt worden ist, um die zulässige Haft zu rechtfertigen, sowie dem Ort und den Bedingungen der Haft eine Verbindung besteht und dass der angeführte Haftgrund und die fragliche Haft in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen(114). Die Haft ist eine so schwerwiegende Maßnahme, dass sie nur als letztes Mittel gerechtfertigt ist, wenn andere weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht gezogen und für unzureichend befunden worden sind, um das persönliche oder öffentliche Interesse an der Haft zu wahren(115).

129. Garantien gegen eine willkürliche Haft sind in der Aufnahmerichtlinie durchaus vorhanden(116). Eine Haft nach Art. 8 dieser Richtlinie ist nämlich, daran sei erinnert, ein letztes Mittel, das nur im Einzelfall ergriffen werden darf, soweit „sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen“(117). Auch wenn eine solche Haft grundsätzlich möglich ist, darf sie nur „für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange [angeordnet werden], wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind“(118). Diese Regeln kommen im Verhältnismäßigkeitserfordernis zum Ausdruck, das Voraussetzung für jede Einschränkung der Ausübung der durch die Charta garantierten Rechte und Freiheiten ist(119).

130. Zweitens setzt die Durchführung der streitigen Bestimmung voraus, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit beachtet wird. Es ist daher wesentlich, dass die Haftbedingungen klar definiert sind und das Gesetz selbst in seiner Anwendung so vorhersehbar ist, dass das Rechtsmäßigkeitskriterium erfüllt wird, wonach jedes Gesetz hinreichend genau sein muss, um es dem Bürger – bei Bedarf mit fachkundiger Beratung – zu ermöglichen, in einem unter den Umständen des Falls angemessenen Ausmaß die Folgen vorherzusehen, die sich aus einem bestimmten Rechtsakt ergeben können(120).

131. Im Fall einer nach der streitigen Bestimmung angeordneten Haftmaßnahme ist zwar anzuerkennen, dass der Wortlaut dieser Bestimmung ausgesprochen allgemein gehalten ist. Eine Prüfung der Frage, ob das Erfordernis der Rechtssicherheit beachtet worden ist, beinhaltet gleichwohl, dass nicht nur die genannte Bestimmung berücksichtigt wird, sondern auch das sie umsetzende nationale Recht und gegebenenfalls andere einschlägige Normen des nationalen Rechts. Daher ist es, wie die italienische Regierung und das Parlament im Wesentlichen vortragen, Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats, der beabsichtigt, die Möglichkeit vorzusehen, eine Haftmaßnahme nach der streitigen Bestimmung anzuordnen, hinreichend genau die Fälle festzulegen, in denen diese angewandt werden kann.

132. Drittens muss jeder festgenommenen Person in einer einfachen, ihr zugänglichen Sprache mitgeteilt werden, welches die rechtlichen und tatsächlichen Gründe für ihre Haft sind(121). Eine solche Begründung ist sowohl erforderlich, um es dem Betroffenen, dem die Freiheit entzogen worden ist, zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, den zuständigen Richter anzurufen, als auch, um diesen vollständig in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entscheidung zu kontrollieren(122).

133. Dieses Begründungserfordernis findet in Art. 9 Abs. 2 und 4 der Aufnahmerichtlinie seinen Niederschlag, wobei Abs. 2 die Begründung der eigentlichen Entscheidung über die Anordnung der Haft betrifft, während sich Abs. 4 auf die Informationen bezieht, die einem Antragsteller unverzüglich nach seiner Inhaftnahme übermittelt werden müssen. Bei einer auf die streitige Bestimmung gestützten Haftmaßnahme schließt diese Begründung zwingend eine klare und genaue Darstellung der Gründe ein, aufgrund deren die zuständige nationale Behörde zu der Auffassung gelangt ist, dass der Antragsteller eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung des betreffenden Mitgliedstaats darstellt. In Anbetracht der Regel in Art. 8 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie hat diese Behörde darüber hinaus hinreichend substantiiert darzulegen, weshalb sie zu der Ansicht gekommen ist, dass sich zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung eine weniger einschneidende Maßnahme nicht wirksam anwenden lasse(123).

134. Viertens hängt ein Eingriff in das Recht auf Freiheit und Sicherheit von der Einhaltung verfahrensrechtlicher Garantien ab. So habe ich in Bezug auf eine unter die Ausnahme in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK fallende Freiheitsentziehung bereits ausgeführt, dass diese voraussetzt, dass die betreffende Person (die Person, die um internationalen Schutz nachsucht, falls die genannte Freiheitsentziehung im Rahmen der streitigen Bestimmung erfolgt) unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt wird und sie Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Zeit oder auf Entlassung während des Verfahrens hat(124). Wie ich bereits festgestellt habe, sieht Art. 9 Abs. 3 der Aufnahmerichtlinie jedoch nicht nur ausdrücklich vor, dass die Rechtmäßigkeit einer von einer Verwaltungsbehörde angeordneten Inhaftnahme von Amts wegen (d. h. unabhängig von einem Rechtsbehelf des Antragstellers) und so schnell wie möglich nach Beginn der Haft gerichtlich überprüft wird, sondern auch, dass der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen wird, falls sich diese Haft als unrechtmäßig herausstellt.

135. Ganz allgemein hat jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen wird, das Recht, zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Zeit über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist(125). Art. 5 Abs. 4 EMRK – und damit Art. 6 der Charta – erfordert eine Kontrolle, die weitgehend genug ist, um sich auf jede einzelne der Voraussetzungen zu erstrecken, die für die Ordnungsmäßigkeit der Haft einer Einzelperson im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 EMRK unerlässlich sind(126). Die Aufnahmerichtlinie schafft wiederum keinerlei Hindernisse für die Einhaltung dieses Erfordernisses durch die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der streitigen Bestimmung. Ganz im Gegenteil: Die Regeln in Art. 9 Abs. 3 und 5 dieser Richtlinie zielen gerade darauf ab, deren Einhaltung zu gewährleisten, falls ein Asylbewerber auf der Grundlage von Art. 8 der genannten Richtlinie in Haft genommen wird(127).

136. Fünftens schließlich sieht Art. 5 Abs. 5 EMRK vor, dass jede Person, der unter Verletzung sämtlicher sich aus den ersten vier Absätzen dieses Artikels ergebender Regeln die Freiheit entzogen wird, Anspruch auf Schadensersatz hat. In Anbetracht der Erläuterungen zu Art. 6 der Charta gilt dies zwangsläufig auch für die letztgenannte Bestimmung. Die Aufnahmerichtlinie enthält keine Bestimmung, die den Mitgliedstaaten ausdrücklich vorschreibt, einen solchen Anspruch auf Schadensersatz vorzusehen. Gleichwohl ist die normative Besonderheit eines solchen Unionsrechtsakts zu berücksichtigen, der, wie sich aus Art. 288 Abs. 3 AEUV ergibt, einerseits für jeden Mitgliedstaat, an den er gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, andererseits aber den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlässt. Nach ihrem 35. Erwägungsgrund zielt die Aufnahmerichtlinie u. a. gerade darauf ab, die Anwendung von Art. 6 der Charta zu fördern. Unter diesen Umständen ist daher davon auszugehen, dass die genannte Richtlinie den Mitgliedstaaten den Spielraum belässt, der erforderlich ist, um dem weiter oben beschriebenen Erfordernis nachzukommen.

137. Im Ergebnis gestattet die streitige Bestimmung zwar einen Eingriff in das durch Art. 6 der Charta garantierte Recht auf Freiheit und Sicherheit; soweit diese Bestimmung aber auf die Weise ausgelegt wird, die ich in der vorliegenden Stellungnahme dargelegt habe, ist die genannte Einschränkung nicht nur gesetzlich vorgesehen, sondern achtet auch den Wesensgehalt des erwähnten Rechts und erscheint notwendig, um es den Mitgliedstaaten im Einklang mit den in Art. 4 Abs. 2 EUV und Art. 72 AEUV zum Ausdruck kommenden Grundsätzen zu ermöglichen, Beeinträchtigungen ihrer nationalen Sicherheit oder ihrer öffentlichen Ordnung wirksam zu bekämpfen. Die Prüfung der Gültigkeitsfrage, die dem Gerichtshof im vorliegenden Fall gestellt worden ist, hat daher nichts ergeben, was die Gültigkeit der streitigen Bestimmung in Frage stellen könnte.

138. Ich möchte jedoch betonen, dass diese Schlussfolgerung, die sich aus einer objektiven Prüfung der Vereinbarkeit der streitigen Bestimmung mit Art. 6 der Charta ergibt, in keiner Weise der Entscheidung über die von Herrn N. vor dem vorlegenden Gericht erhobene Klage vorgreift. Innerhalb der Grenzen des bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreits ist es daher allein Sache dieses Gerichts, sich zu der Frage zu äußern, ob die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende Haftmaßnahme mit Art. 6 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 5 EMRK, vereinbar ist oder nicht.

 Ergebnis

139. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, für Recht zu erkennen:

–        Die Prüfung der dem Gerichtshof der Europäischen Union vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) gestellten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in Frage stellen würde.

–        Dieses Ergebnis steht gleichwohl unter einem doppelten Vorbehalt. Zum einen ist die genannte Bestimmung dahin auszulegen, dass sie nur in Fällen Anwendung finden kann, in denen sich mit tatsächlichen oder rechtlichen Kriterien zur Situation einer Person, die um internationalen Schutz nachsucht, feststellen lässt, dass deren persönliches Verhalten die Haft rechtfertigt, weil sie eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung des betreffenden Mitgliedstaats darstellt. Zum anderen muss ihre Durchführung in jedem konkreten Fall das Recht auf Freiheit und Sicherheit achten, das durch Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ausgelegt im Licht von Art. 5 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, garantiert ist.

–        In den Grenzen der vor ihm anhängig gemachten Klage und unter Berücksichtigung aller erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende Haftmaßnahme unter den Haftgrund fallen konnte, der in dem auf die vorstehende Weise ausgelegten Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 genannt wird.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 180, S. 96. Die Aufnahmerichtlinie hat die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18, im Folgenden: alte Aufnahmerichtlinie) mit Wirkung vom 21. Juli 2015 aufgehoben und ersetzt. Nach den Art. 1, 2 und 4a Abs. 1 des dem EUV und dem AEUV als Anhang beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sind diese beiden Mitgliedstaaten nicht an die Aufnahmerichtlinie gebunden. Das Gleiche gilt nach dem Protokoll Nr. 22 über die Position Dänemarks für das Königreich Dänemark.


3United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 (1954).


4 – Dagegen können die Vertragsparteien selbst unter ähnlichen Umständen nicht von anderen durch die EMRK garantierten Rechten wie dem Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, das durch Art. 3 EMRK geschützt ist, abweichen.


5 – Zweiter Erwägungsgrund.


6 – 15. Erwägungsgrund.


7 – 15. Erwägungsgrund.


8 – 16. Erwägungsgrund.


9 – 35. Erwägungsgrund.


10 –      Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9). Die Anerkennungsrichtlinie hat die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, im Folgenden: alte Anerkennungsrichtlinie) mit Wirkung vom 21. Dezember 2013 ersetzt. Gemäß Art. 2 Buchst. h der Anerkennungsrichtlinie bezeichnet der Ausdruck „Antrag auf internationalen Schutz“ das „Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht“.


11 –      Art. 10 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie sieht vor: „Die Haft der Antragsteller erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so wird der in Haft genommene Antragsteller gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht …“


12 –      Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180, S. 60). Die Verfahrensrichtlinie hat die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, im Folgenden: alte Verfahrensrichtlinie) mit Wirkung vom 21. Juli 2015 aufgehoben und ersetzt.


13 –      Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).


14 –      Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180, S. 31). Die Dublin‑III-Verordnung hat die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1), die sogenannte Dublin‑II-Verordnung, aufgehoben und ersetzt.


15 – Der letztgenannte Verurteilungsgrund mag verwundern, wenn man berücksichtigt, dass Herr N. während dieses Zeitraums im niederländischen Hoheitsgebiet verblieben ist. Im Rahmen des vorliegenden Verfahrens ist es jedoch nicht erforderlich, diesen Punkt näher zu beleuchten.


16 – Ich werde mich im Folgenden auf „die streitige Entscheidung“ beziehen.


17 – Im Vorabentscheidungsersuchen ist von einem Argument von Herrn N. die Rede, mit dem geltend gemacht wird, die streitige Entscheidung habe bezweckt, ihn für die Entscheidung über seinen letzten Asylantrag zur Verfügung der zuständigen Behörde zu halten. Den Akten lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass sich die streitige Entscheidung auf einen solchen Grund stützte, was das Königreich der Niederlande in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat. Erst beim Erlass einer neuen Haftentscheidung am 1. Dezember 2015, d. h. nach dem Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Staatsrat), hat sich der Staatssekretär auch auf diesen Grund gestützt. Vgl. Nr. 44 der vorliegenden Stellungnahme.


18 – Zu den aufenthaltsrechtlichen Wirkungen der Einreichung des letzten Asylantrags von Herrn N. vgl. Nrn. 35 und 50 bis 52 der vorliegenden Stellungnahme.


19 – Es steht jedoch fest, dass die streitige Haft ihre eigentliche Ursache nicht in den psychischen Gesundheitsproblemen findet, von denen Herr N. betroffen zu sein scheint. Ich werde im Folgenden daher nicht auf diesen Aspekt zurückkommen.


20 –      ABl. 2007, C 303, S. 17.


21 – Die niederländische Regierung hat in ihren (später eingereichten) schriftlichen Erklärungen darauf hingewiesen, dass diese Haft auf eine Strafe zurückgehe, die gegen Herrn N. wegen früherer Straftaten verhängt worden sei.


22 – Die deutsche Regierung hat mit am 21. Dezember 2015 bei der Kanzlei eingegangenem Schreiben mitgeteilt, dass sie davon absehe, schriftlich auf diese Fragen zu antworten.


23 – Das in Art. 111 der Verfahrensordnung vorgesehene Absehen vom schriftlichen Abschnitt des Eilvorabentscheidungsverfahrens in Fällen äußerster Dringlichkeit könnte als ein drittes Werkzeug angesehen werden.


24 – Art. 7 Abs. 1 der alten Verfahrensrichtlinie.


25 – Vgl. auch neunter Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie.


26 – Mit Art. 9 Abs. 2 und Art. 41 der Verfahrensrichtlinie soll es den Mitgliedstaaten gerade ermöglicht werden, dafür zu sorgen, dass die Einreichung neuer Anträge, die als „missbräuchlich“ eingestuft werden könnten, die wirksame Durchführung von Rückführungsverfahren nicht behindert.


27 – Zur Erinnerung: Art. 3.1 der Ausländerverordnung von 2000 sieht Ausnahmen vom Recht eines Antragstellers vor, während der Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz im niederländischen Hoheitsgebiet zu verbleiben.


28 – In der englischen Sprachfassung der Aufnahmerichtlinie wird der Begriff „detention“ verwendet. Die Unterscheidung zwischen „Gewahrsam“ und „Haft“ ist für die Prüfung einer Gültigkeitsfrage wie der im vorliegenden Fall aufgeworfenen meines Erachtens jedoch unerheblich, da der Schutz, den Art. 6 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 5 EMRK, bietet, auf jede Form einer Freiheitsentziehung Anwendung findet, die in seinen Anwendungsbereich fällt.


29 – Urteil Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30 – Vgl. auch Art. 53 der Charta.


31 – Ich werde diese Frage im Anschluss an meine Auslegung der streitigen Bestimmung in den Nrn. 117 bis 125 der vorliegenden Stellungnahme untersuchen.


32 – Vgl. Nrn. 126 bis 136 der vorliegenden Stellungnahme.


33 – Vgl. EGMR, R. U./Griechenland, Nr. 2237/08, § 84, 7. Juni 2011, Ahmade/Griechenland, Nr. 50520/09, § 117, 25. September 2012, sowie Nabil u. a./Ungarn, § 18.


34 – Vgl. u. a. EGMR, Čonka/Belgien, Nr. 51564/99, § 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, EGMR 2002-I, sowie Nabil u. a./Ungarn, § 28.


35 – Vgl. Urteil Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch EGMR, Chahal/Vereinigtes Königreich, 15. November 1996, § 122, Recueil des arrêts et décisions, 1996-V, A. u. a./Vereinigtes Königreich [GK], Nr. 3455/05, § 164, EGMR 2009, Mikolenko/Estland, Nr. 10664/05, § 63, 8. Oktober 2009, Raza/Bulgarien, Nr. 31465/08, § 72, 11. Februar 2010, sowie Nabil u. a./Ungarn, § 29. Diese Anforderungen kommen u. a. in Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2, 4 und 5 der Rückführungsrichtlinie zum Ausdruck.


36 – Art. 9 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie sieht insoweit zwar vor, dass Antragsteller so lange im Mitgliedstaat verbleiben dürfen, bis über ihren Antrag entschieden worden ist, stellt aber klar, dass sich aus dieser Berechtigung kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel ergibt. Folglich ist ein Mitgliedstaat, um dieser Vorschrift nachzukommen, nicht verpflichtet, vorzusehen, dass durch die Einreichung eines Antrags auf internationalen Schutz eine frühere Rückkehrentscheidung aufgehoben wird; er kann vielmehr auch vorsehen, dass die Durchführung der genannten Entscheidung durch ein solches Ereignis lediglich ausgesetzt wird (vgl. auch Urteil Arslan, C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 60). Der Raad van State (Staatsrat) hat in der Vorlageentscheidung jedoch eindeutig darauf hingewiesen, dass nach seiner eigenen Rechtsprechung eine frühere Rückkehrentscheidung in den Niederlanden hinfällig werde, wenn der von dieser Entscheidung betroffene Ausländer einen Antrag auf internationalen Schutz stelle.


37 – Erläuterung zu Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 5.


38 – Vgl. nunmehr Art. 26 der Verfahrensrichtlinie.


39 – C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 55.


40 – Auf Unionsebene sah nur die Rückführungsrichtlinie in den Fällen ihres Art. 15 und unter den in dieser Vorschrift vorgesehenen strengen Bedingungen die Möglichkeit einer Inhaftnahme von Drittstaatsangehörigen vor, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig war.


41 – Urteil Arslan (C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 56).


42 – Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (KOM[2008] 815 endgültig, S. 6).


43 – Empfehlung REC(2003)5 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über Maßnahmen zur Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern, angenommen am 16. April 2003 auf der 837. Sitzung der Ministerbeauftragten (im Folgenden: Empfehlung des Ministerkomitees). Eine solche Bezugnahme findet sich auch in der Begründung des Rates in erster Lesung im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Ratsdokument 14654/2/12 vom 6. Juni 2013, S. 6).


44 – Die Schlussfolgerung ist unter folgender Adresse verfügbar: www.refworld.org/docid/3ae68c4634.html. Unter Buchst. b dieser Schlussfolgerung hat das Exekutivkomitee darauf hingewiesen, dass „bei Bedarf auf die Ingewahrsamnahme zurückgegriffen werden kann, aber nur aus gesetzlich vorgesehen Gründen zur Überprüfung der Identität, zur Festlegung der Bestandteile des Antrags auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus oder des Asylantrags, zur Behandlung der Fälle, in denen Flüchtlinge oder Asylbewerber ihre Reise- und/oder Ausweisdokumente vernichtet oder gefälschte Dokumente benutzt haben, um die Behörden des Staates, in dem sie Asyl beantragen wollen, zu täuschen, oder zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung“ (Hervorhebung nur hier).


45 – ABl. 2010, C 212E, S. 348.


46 – Vgl. detaillierte Erläuterung des geänderten Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Asylbewerbern (KOM[2011] 320 endgültig, S. 3).


47 – Vgl. geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Asylbewerbern – Politische Einigung (Ratsdokument 14112/1/12 vom 27. September 2012).


48 – Der persönliche Anwendungsbereich der Aufnahmerichtlinie entspricht insoweit dem der Empfehlung des Ministerkomitees, die nach ihrer Rn. 2 „nicht für Maßnahmen zur Inhaftnahme … abgewiesener Asylbewerber [gilt], die in Erwartung ihrer Ausreise aus dem Aufnahmeland in Haft genommen werden“.


49 – Insoweit sollte darauf hingewiesen werden, dass, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil Chahal/Vereinigtes Königreich im Wesentlichen anerkannt hat, Erwägungen bezüglich der Bedrohung, die eine Einzelperson für die nationale Sicherheit darstellt, darauf hindeuten können, dass eine Entscheidung, mit der die Aufrechterhaltung der Haft im Rahmen eines Ausweisungsverfahrens angeordnet wird, nicht willkürlich ist, da diese Bedrohung im Rahmen eines Verfahrens vor einer Behörde des betreffenden Staates überprüft werden kann (EGMR, Urteil Chahal/Vereinigtes Königreich, § 122). Dies hat den Gerichtshof jedoch nicht daran gehindert, in jener Rechtssache deshalb auf einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK zu erkennen, weil der Kläger keinen Zugang zu einem „Rechtsbehelf vor einem Gericht“ gehabt habe, um seine Freiheitsentziehung anzufechten (§ 132). Das Vereinigte Königreich hat daraufhin die „Special Immigration Appeals Commission“ und das System der „special advocates“ geschaffen, um den vom Straßburger Gerichtshof festgestellten Mängeln zu begegnen.


50 – Vgl. Nr. 80 der vorliegenden Stellungnahme.


51 – Vgl. Nrn. 100 bis 109 der vorliegenden Stellungnahme.


52 – Vgl. beispielsweise Urteil Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 42).


53 – Hierbei handelt es sich, worauf das Parlament zu Recht hinweist, um eine Möglichkeit („Ein Antragsteller darf nur …“) und nicht um eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, da diese gehalten sind, in ihrem nationalen Recht zu regeln, aus welchen Gründen eine Haft angeordnet werden kann (Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 2 der Aufnahmerichtlinie).


54 – Vgl. entsprechend Urteil Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


55 – Vgl. Nr. 79 der vorliegenden Stellungnahme.


56 – Vgl. entsprechend Urteil Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:94, Nrn. 46 und 47).


57 – Vgl. u. a. Urteil Réexamen Kommission/Strack (C‑579/12 RX-II, EU:C:2013:570, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteile Kommission/Rat (218/82, EU:C:1983:369, Rn. 15) sowie Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


58 – Vgl. u. a. Urteile Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung), M. (C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie O. u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).


59 – Vgl. entsprechend Urteil Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).


60 – Vgl. auch Nr. 92 der vorliegenden Stellungnahme. Auf den präventiven Charakter der streitigen Bestimmung werde ich unten in den Nrn. 93 bis 99 zurückkommen.


61 – Art. 9 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie erkennt die Möglichkeit der Anordnung einer Haft durch eine Verwaltungsbehörde ausdrücklich an. Vgl. hierzu Nr. 120 a. E. der vorliegenden Stellungnahme und die dort angeführte Rechtsprechung.


62 – Die Einhaltung dieser Anforderungen ist gegebenenfalls besonders wichtig, um die Vereinbarkeit der fraglichen Haft mit dem Recht jeder vorbeugend in Gewahrsam genommenen Person, unverzüglich einem Richter vorgeführt zu werden, und auf ein Urteil innerhalb angemessener Zeit sicherzustellen, das durch Art. 5 Abs. 3 EMRK garantiert ist. Vgl. Nrn. 120 und 134 der vorliegenden Stellungnahme.


63 – C‑373/13, EU:C:2015:413.


64 – Diese Vorschrift sieht vor, dass die Mitgliedstaaten so bald wie möglich nach Zuerkennung des Schutzstatus Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, einen Aufenthaltstitel ausstellen, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dem entgegenstehen. Sie findet sich mit nahezu identischem Wortlaut in Art. 24 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie wieder.


65 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77).


66 – Urteil T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).


67 – Urteil T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).


68 – Vgl. u. a. Urteil T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).


69 – Urteil Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 61).


70 – Zu den Begriffen „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ in der alten Anerkennungsrichtlinie vgl. Urteil T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 80).


71 – Vgl. entsprechend Urteil Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 50).


72 – ABl. L 212, S. 12.


73 –      Vgl. entsprechend Urteil Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 50).


74 – C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268.


75 – Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 59).


76 –      Vgl. auch Nr. 98 der vorliegenden Stellungnahme (die allerdings speziell Freiheitsstrafen betrifft).


77 – Gemäß Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d der Aufnahmerichtlinie kann der Zugang zu einem vorangegangenen Asylverfahren je nach Sachlage jedoch einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Antragsteller einen Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln.


78 – Art. 15 der Rückführungsrichtlinie.


79 – C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 49.


80 –      Wie der Gerichtshof unter Bezugnahme auf das Urteil Kadzoev (C‑357/09 PPU, EU:C:2009:741, Rn. 45) festgestellt hat, unterliegen die Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung gemäß der Rückführungsrichtlinie und die Ingewahrsamnahme eines Asylbewerbers unterschiedlichen rechtlichen Regelungen (Urteil Arslan, C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 52).


81 –      Urteil Arslan (C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 60).


82 –      Urteil Arslan (C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 60).


83 –      Urteil Arslan (C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 63).


84 –      Diese Feststellung gilt selbstverständlich nur, soweit die zuständige nationale Behörde noch nicht endgültig über den Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat und die betreffende Person daher weiterhin „Antragsteller“ im Sinne der Aufnahmerichtlinie ist. Vgl. Nrn. 72 und 73 der vorliegenden Stellungnahme.


85 –      Diese Auslegung steht insoweit im Einklang mit den sich aus Art. 4 Abs. 2 EUV und Art. 72 AEUV ergebenden Grundsätzen, auf die ich weiter oben in meiner Darstellung des rechtlichen Rahmens hingewiesen habe.


86 –      Ich möchte hinzufügen, dass ein Einreiseverbot generalpräventiven Charakter hat („wir wollen nicht, dass dieser Ausländer erneut unser Hoheitsgebiet betritt“), während die streitige Bestimmung auf die Abwehr einer spezifischeren Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung durch eine Person abzielt, die sich bereits im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats befindet.


87 – Vgl. 15. Erwägungsgrund dieser Richtlinie.


88 – Der Gerichtshof hatte im Übrigen bereits Gelegenheit, im Rahmen einer Auslegung der Rückführungsrichtlinie klarzustellen, dass sich der Begriff der Fluchtgefahr von demjenigen der Gefahr für die öffentliche Ordnung unterscheidet. Vgl. Urteil Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gleiche gilt erst recht für den Begriff „nationale Sicherheit“.


89 –      Wie ich oben in Nr. 53 der vorliegenden Stellungnahme festgestellt habe, werde ich mich an dieser Stelle einer Prüfung der Frage nach der Gültigkeit der Buchst. a und b des genannten Unterabsatzes im Hinblick auf Art. 6 der Charta, die in der Rechtssache C‑18/16, K., aufgeworfen worden ist, enthalten.


90 –      Vgl. u. a. EGMR, Saadi/Vereinigtes Königreich [GK], Nr. 13229/03, § 43, EGMR 2008, und Stanev/Bulgarien [GK], Nr. 36760/06, § 144, EGMR 2012.


91 –      Vgl. u. a. EGMR, Velinov/Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 16880/08, § 49, 19. September 2013.


92 –      Vgl. Nrn. 93 bis 99 der vorliegenden Stellungnahme.


93 – Vgl. u. a. EGMR, Guzzardi/Italien, 6. November 1980, § 100, Serie A Nr. 39.


94 – Diese habe ich in Nr. 87 der vorliegenden Stellungnahme veranschaulicht.


95 –      Vgl. u. a. EGMR, Eriksen/Norwegen, 27. Mai 1997, § 86, Recueil des arrêts et décisions 1997-III, und M./Deutschland, Nr. 19359/04, § 89, EGMR 2009.


96 – Vgl. u. a. EGMR, Ciulla/Italien, 22. Februar 1989, § 38, Serie A Nr. 148, und Ostendorf/Deutschland, Nr. 15598/08, §§ 68 und 85, 7. März 2013.


97 – Vgl. u. a. EGMR, Epple/Deutschland, Nr. 77909/01, § 35, 24. März 2005.


98 – EGMR, Ostendorf/Deutschland, § 86.


99 – Vgl. u. a. EGMR, De Jong, Baljet und Van den Brink/Niederlande, 24. Mai 1984, § 51, Serie A Nr. 77.


100 – Vgl. Nr. 62 der vorliegenden Stellungnahme.


101 – EGMR, Nabil u. a./Ungarn, § 38.


102 –      C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 60.


103 –      Vgl. die in Nr. 62 der vorliegenden Stellungnahme angeführte Rechtsprechung.


104 –      Daher darf eine Rückkehrentscheidung nicht hinfällig geworden sein, wie dies im Ausgangsrechtsstreit der Fall gewesen zu sein scheint (vgl. Nr. 35 der vorliegenden Stellungnahme).


105 –      Vgl. u. a. A u. a./Vereinigtes Königreich [GK], § 164.


106 –      EGMR, Ostendorf/Deutschland, §§ 90 bis 103.


107 – EGMR, Ostendorf/Deutschland, § 90. Vgl. auch EGMR, Epple/Deutschland, § 37.


108 – EGMR, Ostendorf/Deutschland, § 90.


109 – So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Anlehnung an das belgische Recht entschieden, dass Personen, die weder einen festen Wohnsitz hätten noch über Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts verfügten und gewöhnlich weder einen Beruf noch ein Gewerbe ausübten, unter die Gruppe der „Landstreicher“ fallen könnten (EGMR, De Wilde, Ooms und Versyp/Belgien, 18. Juni 1971, § 68, Serie A Nr. 12). Diese Rechtsprechung ist jedoch sehr alt, und die Frage, ob sie heutzutage noch angemessen wäre, ist meines Erachtens nicht leicht zu beantworten.


110 –      Vgl. in diesem Sinne u. a. EGMR, Enhorn/Schweden, Nr. 56529/00, § 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, EGMR 2005-I.


111 –      Für einen Überblick über den nach Art. 5 EMRK gebotenen Schutz vgl. Guide sur l’article 5 – Droit à la liberté et à la sûreté, Veröffentlichungen des Europarats/Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2014, verfügbar unter folgender Adresse: www.echr.coe.int (Jurisprudence – Analyse jurisprudentielle – Guides sur la jurisprudence).


112 –      Vgl. u. a. EGMR, Saadi/Vereinigtes Königreich [GK], § 67, und Suso Musa/Malta, Nr. 42337/12, § 92, 23. Juli 2013.


113 –      Vgl. u. a. EGMR, Saadi/Vereinigtes Königreich, § 67 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Suso Musa/Malta, § 92 und die dort angeführte Rechtsprechung.


114 –      Vgl. u. a. EGMR, Saadi/Vereinigtes Königreich, §§ 68 bis 74, sowie James, Wells und Lee/Vereinigtes Königreich, Nrn. 25119/09, 57715/09 und 57877/09, §§ 191 bis 195, 18. September 2012.


115 –      Vgl. u. a. EGMR, Saadi/Vereinigtes Königreich, § 70 und die dort angeführte Rechtsprechung.


116 –      Ich verweise an dieser Stelle auch auf die Ausführungen zur Tragweite der streitigen Bestimmung, insbesondere die Nrn. 88 bis 113 der vorliegenden Stellungnahme.


117 –      Art. 8 Abs. 2 a. E. der Aufnahmerichtlinie.


118 –      Art. 9 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie.


119 –      Art. 52 Abs. 1 der Charta.


120 –      Vgl. u. a. EGMR, Rahimi/Griechenland, Nr. 8687/08, § 105 und die dort angeführte Rechtsprechung, 5. April 2011, sowie R. U./Griechenland, § 91 und die dort angeführte Rechtsprechung.


121 –      Art. 5 Abs. 2 EMRK sowie EGMR, Abdolkhani und Karimnia/Türkei, Nr. 30471/08, § 136, 22. September 2009.


122 –      Vgl. entsprechend Urteil Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


123 –      Abgesehen davon schließe ich nicht von vornherein aus, dass der Umfang der erforderlichen Begründung im Kontext einer nach der streitigen Bestimmung angeordneten Haft gerade im Hinblick auf das Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit begrenzt werden kann. So ist es in Ausnahmefällen möglich, dass die zuständige Behörde bestimmte Gesichtspunkte, auf denen eine Entscheidung beruht, mit der die Inhaftnahme des Antragstellers angeordnet wird, ihm gegenüber nicht offenlegen will und sich dabei auf Gründe der Sicherheit des Staates beruft. Diese Frage überschreitet jedoch die Grenzen des vorliegenden Verfahrens, so dass ich sie an dieser Stelle nicht weiter vertiefen werde.


124 –      Vgl. Nr. 120 der vorliegenden Stellungnahme.


125 –      Art. 5 Abs. 4 EMRK.


126 –      EGMR, Rahimi/Griechenland, § 113 und die dort angeführte Rechtsprechung.


127 –      Abs. 6 dieses Artikels trägt zur Effektivität der in dessen Abs. 3 vorgesehenen gerichtlichen Überprüfung einer von den Verwaltungsbehörden angeordneten Inhaftnahme bei, indem er von den Mitgliedstaaten verlangt, dass sie in diesem Fall dafür sorgen, dass die betreffenden Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, unentgeltliche Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch nehmen können.