Language of document : ECLI:EU:C:2024:70

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

25. Januar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafverfahren gegen Unbekannt – Einstellungsbeschluss eines Staatsanwalts – Zulässigkeit eines später wegen derselben Tat gegen eine konkrete Person eingeleiteten Strafverfahrens – Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um eine Person als wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen anzusehen – Erfordernis eingehender Ermittlungen – Fehlende Vernehmung eines möglichen Zeugen – Fehlende Vernehmung des Betroffenen als ‚Verdächtiger‘“

In der Rechtssache C‑58/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) mit Entscheidung vom 13. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2022, in dem Strafverfahren gegen

NR,

Beteiligter:

Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Craiova,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, A. Rotăreanu und A. Wellman als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Rogalski und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juni 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Verbindung mit der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56).

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen NR wegen Bestechlichkeit.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Art. 4 („Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“) des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten lautet:

„1.      Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.

2.      Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.

…“

 Unionsrecht

 Entscheidung 2006/928

4        Die Entscheidung 2006/928 wurde im Zusammenhang mit dem am 1. Januar 2007 erfolgten Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union erlassen.

5        Art. 1 Abs. 1 dieser Entscheidung sieht vor:

„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der [Europäischen] Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.“

6        Im Anhang dieser Entscheidung heißt es:

„Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1:

1.      Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen,

2.      Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen,

3.      Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene,

4.      Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen.“

 Rahmenbeschluss 2003/568/JI

7        Art. 2 („Bestechung und Bestechlichkeit im privaten Sektor“) Abs. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2003/568/JI des Rates vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (ABl. 2003, L 192, S. 54) lautet:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgende vorsätzliche Handlungen Straftaten darstellen, wenn sie im Rahmen von Geschäftsvorgängen ausgeführt werden:

b)      Handlungen, bei denen jemand, der in einem Unternehmen im privaten Sektor in leitender oder sonstiger Stellung tätig ist, unmittelbar oder über einen Mittelsmann für sich oder einen Dritten einen unbilligen Vorteil als Gegenleistung dafür fordert, annimmt oder sich versprechen lässt, dass er unter Verletzung seiner Pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt.“

8        Art. 4 („Strafen und andere Sanktionen“) dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in den Artikeln 2 und 3 genannten Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden.

(2)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 genannten Handlungen mit einer Mindesthöchststrafe zwischen einem Jahr und drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht werden.

(3)      Jeder Mitgliedstaat trifft im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften und Grundsätzen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass einer natürlichen Person, die im Zusammenhang mit einer bestimmten Geschäftstätigkeit wegen der in Artikel 2 genannten Handlungen verurteilt worden ist, gegebenenfalls – zumindest dann, wenn sie im Rahmen der betreffenden Geschäftstätigkeit in einem Unternehmen eine Führungsposition innehatte – die weitere Ausübung dieser oder einer vergleichbaren Geschäftstätigkeit in einer ähnlichen Position oder Eigenschaft vorübergehend untersagt werden kann, wenn der festgestellte Sachverhalt eindeutig auf das Risiko schließen lässt, dass die betreffende Person ihre Position oder Tätigkeit für Bestechung oder Bestechlichkeit missbrauchen könnte.“

 Rumänisches Recht

 Strafgesetzbuch

9        Art. 207 („Erpressung“) Abs. 1 des Codul penal (Strafgesetzbuch) bestimmt:

„Wer eine Person dazu zwingt, etwas zu geben, zu tun, zu unterlassen oder zu dulden, um sich oder einem Dritten zu Unrecht einen Vorteil … zu verschaffen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.“

10      Art. 289 („Bestechlichkeit“) Strafgesetzbuch sieht vor:

„(1)      Ein Amtsträger, der im Zusammenhang mit der Vornahme, Nichtvornahme, Beschleunigung oder Verzögerung einer zu seinen Aufgaben gehörenden Handlung oder anlässlich der Vornahme einer seinen Aufgaben zuwiderlaufenden Handlung unmittelbar oder mittelbar Geld oder andere ihm nicht zustehende Vorteile für sich oder einen Dritten fordert oder annimmt oder der sich einen solchen Vorteil versprechen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von drei bis zu zehn Jahren und dem Verbot der Ausübung eines öffentlichen Amtes oder der Ausübung des Berufs oder der Tätigkeit, in deren Ausübung er die Tat begangen hat, bestraft.

…“

11      Art. 308 („Von anderen Personen begangene Korruptions- und Dienststraftaten“) Strafgesetzbuch bestimmt:

„(1)      Die Bestimmungen der Art. 289 bis 292, 295, 297 bis 300 und 304 in Bezug auf Amtsträger gelten entsprechend für Handlungen, die von oder im Zusammenhang mit Personen begangen werden, die ständig oder vorübergehend, gegen Entgelt oder unentgeltlich Aufgaben jeglicher Art im Dienst einer natürlichen Person nach Art. 175 Abs. 2 oder einer juristischen Person wahrnehmen.

…“

 Strafprozessordnung

12      Art. 6 („Ne bis in idem“) des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) bestimmt:

„Niemand darf wegen einer Straftat verfolgt oder verurteilt werden, wenn gegen ihn wegen derselben Tat bereits ein rechtskräftiges Strafurteil, wenn auch unter einer anderen rechtlichen Einstufung, ergangen ist.“

13      Art. 335 („Wiederaufnahme der Strafverfolgung“) der Strafprozessordnung sieht vor:

„(1)      Stellt der Staatsanwalt, der dem Staatsanwalt, der die Entscheidung angeordnet hat, hierarchisch übergeordnet ist, nachträglich fest, dass der Umstand, auf den sich die Einstellung stützte, nicht vorlag, so hebt er den Beschluss auf und ordnet die Wiederaufnahme der Strafverfolgung an. Die Bestimmungen des Art. 317 gelten entsprechend.

(2)      Sind neue Tatsachen oder Umstände zutage getreten, aus denen sich ergibt, dass der Umstand, auf den sich die Einstellung stützte, weggefallen ist, so widerruft der Staatsanwalt den Beschluss und ordnet die Wiederaufnahme der Strafverfolgung an.

(4)      Die Wiederaufnahme der Strafverfolgung gilt als nicht erfolgt, sofern sie nicht innerhalb von höchstens drei Tagen durch den Ermittlungsrichter bestätigt wird. Der Ermittlungsrichter entscheidet nach Vorladung des Verdächtigten oder Beschuldigten sowie unter Beteiligung des Staatsanwalts durch mit Gründen versehenen Beschluss in nicht öffentlicher Sitzung über die Rechtmäßigkeit und Begründetheit des Beschlusses, mit dem die Wiederaufnahme der Strafverfolgung angeordnet wurde. Die Abwesenheit ordnungsgemäß geladener Personen steht einer Entscheidung über den Antrag auf Bestätigung nicht entgegen.

(41)      Bei der Bearbeitung des Bestätigungsantrags prüft der Ermittlungsrichter die Rechtmäßigkeit und Begründetheit des Beschlusses, mit dem die Wiederaufnahme der Strafverfolgung angeordnet wurde, anhand der Unterlagen und Beweise in der strafrechtlichen Ermittlungsakte und aller neu vorgelegten Dokumente. Die Entscheidung des Ermittlungsrichters ist unanfechtbar.

…“

 Gesetz Nr. 78/2000

14      Art. 6 der Legea nr. 78/2000 pentru prevenirea, descoperirea și sancționarea faptelor de corupție (Gesetz Nr. 78/2000 über die Prävention, Ermittlung und Sanktionierung von Korruptionsdelikten) vom 8. Mai 2000 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 219 vom 18. Mai 2000) in seiner für den Ausgangsrechtsstreit geltenden Fassung bestimmt:

„Die Straftaten der Bestechlichkeit gemäß Art. 289 des Strafgesetzbuchs, der Bestechung gemäß Art. 290 des Strafgesetzbuchs, der Einflussnahme gemäß Art. 291 des Strafgesetzbuchs und der Einflussnahme in aktiver Form gemäß Art. 292 des Strafgesetzbuchs werden gemäß den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen bestraft. Die Bestimmungen des Art. 308 des Strafgesetzbuchs gelten entsprechend.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

15      GL, HS, JK, MT und PB (im Folgenden: Anzeigenerstatter des Ausgangsverfahrens) sind Angestellte der Genossenschaft BX. Am 12. Februar 2014 wurde die Vorsitzende dieser Genossenschaft, NR, durch Entscheidung der Generalversammlung der Genossenschaftsmitglieder ihres Amtes enthoben.

16      Gegen diese Entscheidung erhob NR eine Nichtigkeitsklage, bei der sie durch einen Rechtsanwalt vertreten wurde, dem gegenüber sie sich zur Zahlung eines „Erfolgshonorars“ in Höhe von 4 400 Euro verpflichtete. Dieser Klage wurde stattgegeben und NR wurde wieder in ihr Amt als Vorsitzende der Genossenschaft eingesetzt.

17      Am 30. April 2015 fand eine Sitzung der Genossenschaft BX statt, an der NR, die Anzeigenerstatter des Ausgangsverfahrens sowie weitere Mitglieder des Verwaltungsrats dieser Genossenschaft, nämlich AX, BD, CH, FX und LM, teilnahmen. Von den in dieser Sitzung geführten Diskussionen fertigte einer dieser Anzeigenerstatter Tonaufzeichnungen an.

18      Nach den Angaben der Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien), des vorlegenden Gerichts, hatte NR bei dieser Sitzung von den Anzeigenerstattern des Ausgangsverfahrens, da diese die Entscheidung, sie ihres Amtes als Vorsitzende der Genossenschaft zu entheben, veranlasst hätten, unter Androhung der Kündigung ihrer Arbeitsverträge und „als Gegenleistung für die Wiederherstellung eines Klimas der guten Verständigung und der Zusammenarbeit am Arbeitsplatz“ die Zahlung des in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannten Honorars verlangt. Da die von NR gestellte Forderung nicht erfüllt wurde, erließ und unterzeichnete sie Entscheidungen zur Kündigung der genannten Verträge.

19      GL, HS, JK, MT und PB erstatteten daraufhin am 8. Juni 2015 beim Inspectoratul de Poliție al Județului Olt (Polizeiinspektion des Kreises Olt, Rumänien) und am 26. Juni 2015 bei der Direcția Națională Anticorupție – Serviciul Teritorial Craiova (Nationale Antikorruptionsdirektion – Regionale Dienststelle Craiova, Rumänien) gegen NR Strafanzeige wegen der Straftaten der Erpressung, des Amtsmissbrauchs und der Bestechlichkeit gemäß den Art. 207, 297 und 289 des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit Art. 308 des Strafgesetzbuchs.

20      Die bei der Polizeiinspektion des Kreises Olt erstattete Anzeige wurde am 5. Februar 2016 unter dem Aktenzeichen 47/P/2016 beim Parchetul de pe lângă Tribunalul Olt (Staatsanwaltschaft beim Regionalgericht Olt, Rumänien) registriert.

21      Die bei der Nationalen Antikorruptionsdirektion – Regionale Dienststelle Craiova erstattete Strafanzeige wurde an das Parchetul de pe lângă Judecătoria Slatina (Staatsanwaltschaft beim Gericht erster Instanz Slatina, Rumänien) weitergeleitet, weil diese Strafanzeige Indizien für eine in die sachliche Zuständigkeit dieser Staatsanwaltschaft fallende Erpressungsstraftat enthalte. Diese Anzeige wurde am 11. Februar 2016 unter dem Aktenzeichen 673/P/2016 in das Register der Staatsanwaltschaft eingetragen.

 Zum Verfahrensfortgang in der Strafsache 673/P/2016

22      Mit Beschluss vom 14. März 2016 leitete das Parchetul de pe lângă Judecătoria Slatina (Staatsanwaltschaft beim Gericht erster Instanz Slatina) ein Strafverfahren gegen unbekannt wegen der Straftat der Erpressung nach Art. 207 des Strafgesetzbuchs ein.

23      Nach Vernehmung von NR und der Anzeigenerstatter des Ausgangsverfahrens erstellte die für die Ermittlungen zuständige Polizeibehörde einen Bericht, in dem vorgeschlagen wurde, das Verfahren 673/P/2016 einzustellen. Da der in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannte Honorarbetrag von NR nicht zu ihren eigenen Gunsten, sondern zugunsten ihres Anwalts verlangt worden sei, sei davon auszugehen, dass sie keine Erpressungsstraftat im Sinne von Art. 207 des Strafgesetzbuchs begangen habe.

24      Mit Beschluss vom 27. September 2016 verfügte der für die Strafsache 673/P/2016 zuständige Staatsanwalt auf der Grundlage des in der vorstehenden Randnummer genannten Berichts die Einstellung dieses Verfahrens (im Folgenden: in Rede stehender Einstellungsbeschluss).

25      Die Anzeigenerstatter des Ausgangsverfahrens fochten diesen Beschluss nicht an.

26      Mit Beschluss vom 21. Oktober 2016 hob der Leitende Staatsanwalt des Parchetul de pe lângă Judecătoria Slatina (Staatsanwaltschaft beim Gericht erster Instanz Slatina) den in Rede stehenden Einstellungsbeschluss auf und ordnete die Wiederaufnahme der Strafverfolgung von NR wegen der Straftat der Erpressung an. Da derselbe Sachverhalt Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen in der Sache 47/P/2016 sei und sich diese Ermittlungen in einem fortgeschrittenen Stadium befänden, hätte es eine ordnungsgemäße Rechtspflege geboten, die Strafsache 673/P/2016 zur Verbindung mit der Sache 47/P/2016 an das Parchetul de pe lângă Tribunalul Olt (Staatsanwaltschaft beim Regionalgericht Olt) abzugeben.

27      Mit Beschluss vom 21. November 2016 wies der mit einem Antrag auf Bestätigung der Wiederaufnahme befasste Ermittlungsrichter bei der Judecătoria Slatina (Gericht erster Instanz Slatina, Rumänien) diesen Antrag mit der Begründung zurück, dass die von dem Leitenden Staatsanwalt angeführte Begründung nicht den Kriterien für die Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach Art. 335 der Strafprozessordnung entspreche. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts wurde der in Rede stehende Einstellungsbeschluss somit endgültig.

 Zum Verfahrensfortgang in der Strafsache 47/P/2016

28      Mit Beschluss vom 9. Februar 2016 leitete das Parchetul de pe lângă Tribunalul Olt (Staatsanwaltschaft beim Regionalgericht Olt) ein Strafverfahren gegen NR ein und erhob gegen sie mit Anklageschrift vom 31. Januar 2017 beim Tribunalul Olt (Regionalgericht Olt, Rumänien) Anklage wegen der Straftat der Bestechlichkeit nach Art. 289 des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit Art. 308 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs und Art. 6 des Gesetzes Nr. 78/2000.

29      Mit Beschluss vom 10. April 2017 stellte der Ermittlungsrichter beim Tribunalul Olt (Regionalgericht Olt) die Rechtmäßigkeit der Befassung dieses Gerichts fest und ordnete die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen NR an. Zum Vorbringen von NR zu einem angeblichen Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem, mit dem geltend gemacht wurde, dass derselbe Sachverhalt bereits Gegenstand eines Strafverfahrens in der Sache 673/P/2016 gewesen sei und dass in dieser Sache endgültig entschieden worden sei, stellte der genannte Ermittlungsrichter im Wesentlichen fest, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem nicht in die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters falle und daher Rügen, mit denen ein Verstoß gegen diesen Grundsatz geltend gemacht werde, nur im Rahmen der Prüfung des betreffenden Falles in der Sache geprüft werden könnten.

30      Mit Strafurteil vom 19. November 2018 wies das Tribunalul Olt (Regionalgericht Olt) das Vorbringen von NR zu einem angeblichen Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem mit der Begründung als unbegründet zurück, dass der in Rede stehende Einstellungsbeschluss nicht als endgültige Entscheidung angesehen werden könne, die zur Anwendbarkeit dieses Grundsatzes führe, da dem Erlass dieses Beschlusses keine eingehenden Ermittlungen in der Sache vorausgegangen seien.

31      Außerdem war das Tribunalul Olt (Regionalgericht Olt) der Auffassung, dass im Rahmen der Strafsache 673/P/2016, da das Strafverfahren – wegen fehlender Beweise für die Begehung der angezeigten Erpressung durch eine bestimmte Person – gegen unbekannt eingeleitet worden sei, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von NR nicht geprüft worden sei. Daher habe die Einleitung eines Strafverfahrens gegen NR persönlich in der Sache 47/P/2016 keine Wiederholung eines Strafverfahrens dargestellt, so dass der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung gefunden habe.

32      In Anbetracht dessen und da aus den im Rahmen der letztgenannten Strafsache erhobenen Beweisen eindeutig hervorgehe, dass NR von den Anzeigenerstattern des Ausgangsverfahrens die Zahlung des in Rn. 16 des vorliegenden Urteils genannten Honorars verlangt habe, verurteilte das Tribunalul Olt (Regionalgericht Olt) NR zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, und zu einer Nebenstrafe des für die gleiche Dauer geltenden Verbots der Ausübung eines öffentlichen Amtes oder der Ausübung des Berufs oder der Tätigkeit, in deren Ausübung sie die vorgeworfenen Taten begangen hat.

33      Mit Strafurteil Nr. 1207/2020 vom 20. Oktober 2020 gab die Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova) der Berufung von NR gegen das in Rn. 30 des vorliegenden Urteils genannte Urteil statt. Dieses Gericht war der Auffassung, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem vorliege, da die Entscheidung über die Einleitung eines Strafverfahrens in der Sache 47/P/2016 dieselbe Person und denselben Sachverhalt betroffen habe wie in der Strafsache 673/P/2016. Außerdem seien die diesen beiden Verfahren zugrunde liegenden Strafanzeigen inhaltlich identisch und die gesammelten Beweise ähnlich gewesen, wobei das Verfahren 673/P/2016 endgültig abgeschlossen worden sei, weil der in Rede stehende Einstellungsbeschluss mit der Zurückweisung des Antrags auf Bestätigung der Wiederaufnahme der Strafverfolgung durch den Ermittlungsrichter bei der Judecătoria Slatina (Gericht erster Instanz Slatina) bestandskräftig geworden sei. Die Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova) hob dieses Urteil daher auf und ordnete die Einstellung des Strafverfahrens in der Sache 47/P/2016 an.

34      Das Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Craiova (Staatsanwaltschaft beim Berufungsgericht Craiova) legte gegen das Urteil Nr. 1207/2020 Kassationsbeschwerde bei der Înalta Curte de Casație şi Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) ein.

35      Mit Strafurteil vom 21. September 2021 gab dieses Gericht der Kassationsbeschwerde statt, hob das Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung an die Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova) zurück, und zwar im Wesentlichen mit der Begründung, dass es zu Unrecht die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem festgestellt und daher entschieden habe, das Strafverfahren in der Sache 47/P/2016 einzustellen. Die Înalta Curte de Casație şi Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) war, nachdem sie festgestellt hatte, dass das Verfahren über die von den Anzeigenerstattern des Ausgangsverfahrens gegen NR erstattete Anzeige wegen der Erpressungsstraftat durch den in Rede stehenden Einstellungsbeschluss eingestellt worden sei, der Ansicht, dass aufgrund dessen, dass diesem Beschluss keine Prüfung in der Sache in der Strafsache 673/P/2016 vorausgegangen sei und dieser Beschluss nicht ordnungsgemäß begründet worden sei, nicht davon ausgegangen werden könne, dass er zum Strafklageverbrauch geführt habe.

36      Im Rahmen seiner erneuten Prüfung fragt sich das vorlegende Gericht, wie der Grundsatz ne bis in idem im Sinne von Art. 50 der Charta unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens auszulegen ist. Art. 50 der Charta sei – wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), ergangen sei – im vorliegenden Fall anwendbar, weil mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung die im Anhang der Entscheidung 2006/928 genannten Vorgaben, insbesondere die erste dieser Vorgaben, erreicht werden sollten.

37      Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist der Grundsatz ne bis in idem, wie ihn Art. 50 der Charta garantiert, in Verbindung mit den Verpflichtungen Rumäniens im Hinblick auf die Erfüllung der im Anhang der Entscheidung 2006/928 festgelegten Vorgaben dahin auszulegen, dass eine von der Staatsanwaltschaft nach Erhebung der wesentlichen Beweise in der betreffenden Sache erlassene Einstellungsentscheidung einem weiteren Strafverfahren wegen derselben Tat – auch wenn die rechtliche Einstufung eine andere ist – gegen dieselbe Person in Anbetracht dessen entgegensteht, dass die Entscheidung mit Ausnahme der Fälle endgültig ist, in denen festgestellt wird, dass der Umstand, auf den sich die Einstellung stützte, nicht vorlag, oder neue Tatsachen oder Umstände zutage getreten sind, aus denen sich ergibt, dass der Umstand, auf den sich die Einstellung stützte, weggefallen ist?

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

38      Nach Ansicht der rumänischen Regierung ist das Vorabentscheidungsersuchen als unzulässig zurückzuweisen, da Art. 50 der Charta im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, weil keine Situation der Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vorliege. Das vorlegende Gericht habe sich nämlich zur Begründung der Anwendbarkeit der Charta zu Unrecht auf die im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben sowie auf die Rn. 158, 159 und 172 des Urteils vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), gestützt, obwohl diese Vorgaben wegen der von der Kommission vor dem Beitritt Rumäniens zur Union „festgestellten“ Mängel u. a. im Hinblick auf die Bereiche Justiz und Korruptionsbekämpfung festgelegt worden seien. Unter diesen Umständen sei insbesondere in Anbetracht der auf das Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT (C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung), zurückgehenden Rechtsprechung davon auszugehen, dass der mit dem Schutz des Grundsatzes ne bis in idem zusammenhängende Aspekt nicht in den Anwendungsbereich der Charta falle, so dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation nicht anhand der Bestimmungen der Charta, konkret ihres Art. 50, beurteilt werden könne.

39      Zu dem in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Vorbringen der rumänischen Regierung, das in Wirklichkeit die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV ergibt, dass der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe der Union entscheidet.

40      Hierzu ist auch darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Wird dagegen eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine neue Zuständigkeit begründen (Urteil vom 14. September 2023, Volkswagen Group Italia und Volkswagen Aktiengesellschaft, C‑27/22, EU:C:2023:663, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht mit der erneuten Prüfung der Berufungen gegen das in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführte Urteil des Tribunalul Olt (Regionalgericht Olt) vom 19. November 2018 befasst ist, mit dem NR wegen Bestechlichkeit gemäß Art. 289 des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit Art. 308 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs und Art. 6 des Gesetzes Nr. 78/2000 verurteilt worden war. Wie jedoch die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, stellen diese nationalen Bestimmungen die Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2003/568, und zwar insbesondere seiner Art. 2 und 4, in die rumänische Rechtsordnung sicher.

42      Unter diesen Umständen ist die Voraussetzung der Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta im vorliegenden Fall erfüllt, ohne dass über die etwaige Erheblichkeit der im Anhang der Entscheidung 2006/928 genannten Vorgaben entschieden zu werden braucht. Daraus folgt, dass die Charta auf das Ausgangsverfahren Anwendung findet.

43      Der Gerichtshof ist deshalb für die Beantwortung der vorgelegten Frage zuständig.

 Zur Vorlagefrage

44      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Aus diesem Blickwinkel obliegt es dem Gerichtshof gegebenenfalls, die ihm gestellten Fragen umzuformulieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2023, Juan, C‑164/22, EU:C:2023:684, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      In Anbetracht der aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgehenden Gründe, ist, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, davon auszugehen, dass dieses Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass eine Person infolge eines Einstellungsbeschlusses einer Staatsanwaltschaft, der ohne Prüfung der Rechtsstellung dieser Person als strafrechtlich für die die verfolgte Straftat begründenden Taten verantwortliche Person ergangen ist, als im Sinne dieses Art. 50 rechtskräftig freigesprochen angesehen werden kann.

46      Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Die Anwendung dieses Grundsatzes setzt zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28).

 Zur Voraussetzung „bis“

48      Was die Voraussetzung „bis“ betrifft, ist der Betroffene wegen der ihm vorgeworfenen Tat als „wegen einer Straftat … rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen“ im Sinne von Art. 50 der Charta anzusehen, wenn als Erstes die Strafklage nach dem nationalen Recht endgültig verbraucht ist. Eine Entscheidung, die die Strafklage auf nationaler Ebene nicht endgültig verbraucht, kann nämlich grundsätzlich nicht als ein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Tat gegen diesen Betroffenen angesehen werden (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 34 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Umstand, dass ein Beschluss von einer Staatsanwaltschaft erlassen worden ist, für die Beurteilung, ob mit diesem Beschluss die Strafklage nach dem nationalen Recht endgültig verbraucht ist, nicht entscheidend ist. Art. 50 der Charta ist nämlich auch auf Entscheidungen einer – wie eine Staatsanwaltschaft – zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege in der betreffenden nationalen Rechtsordnung berufenen Behörde anwendbar, mit denen die Strafverfolgung endgültig beendet wird, auch wenn sie ohne Mitwirkung eines Gerichts und nicht in Form eines Urteils ergehen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 38 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Im vorliegenden Fall haben zum einen die Anzeigenerstatter des Ausgangsverfahrens, wie sich aus Rn. 25 des vorliegenden Urteils ergibt, nicht von den nach rumänischem Recht verfügbaren Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, um den in Rede stehenden Einstellungsbeschluss anzufechten, und wurde zum anderen, wie sich aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils ergibt, mit dem Beschluss des Ermittlungsrichters der Judecătoria Slatina (Gericht erster Instanz Slatina) vom 21. November 2016 der Antrag auf Bestätigung der vom Leitenden Staatsanwalt des Parchetul de pe lângă Judecătoria Slatina (Staatsanwaltschaft beim Gericht erster Instanz Slatina) angeordneten Wiederaufnahme der Strafverfolgung von NR wegen der Straftat der Erpressung zurückgewiesen.

51      Daher scheint die Strafklage endgültig verbraucht und der in Rede stehende Einstellungsbeschluss vorbehaltlich der durch das vorlegende Gericht vorzunehmenden Überprüfung endgültig geworden zu sein.

52      Zweitens wird sich das vorlegende Gericht, um festzustellen, ob NR als durch den in Rede stehenden Einstellungsbeschluss rechtskräftig freigesprochen angesehen werden kann, zu vergewissern haben, dass dieser Beschluss nach einer Prüfung in der Sache und nicht aus rein verfahrensrechtlichen Gründen erlassen wurde. Wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann nämlich die Voraussetzung der Prüfung in der Sache nur dann als durch den Beschluss erfüllt angesehen werden, wenn dieser eine Beurteilung der materiell-rechtlichen Elemente der mutmaßlichen Straftat enthält, wie insbesondere die Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von NR als mutmaßliche Täterin.

53      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bedarf es, um davon ausgehen zu können, dass eine Person wegen der ihr zur Last gelegten Taten im Sinne von Art. 50 der Charta „wegen einer Straftat … rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen“ worden ist, der Vergewisserung, dass diese Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2023, Bezirkshauptmannschaft Feldkirch, C‑55/22, EU:C:2023:670, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Diese Auslegung wird zum einen durch den Wortlaut von Art. 50 der Charta bestätigt, da die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe „Verurteilung“ und „Freispruch“ notwendigerweise implizieren, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit der betreffenden Person geprüft wurde und eine Entscheidung darüber ergangen ist (Urteil vom 16. Dezember 2021, AB u. a. [Rücknahme einer Amnestie], C‑203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 57).

55      Zum anderen steht diese Auslegung im Einklang mit dem legitimen Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit von Personen, die eine Straftat begangen haben, einem Ziel, das sich in den Kontext des in Art. 3 Abs. 2 EUV vorgesehenen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, einfügt (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2021, AB u. a. [Rücknahme einer Amnestie], C‑203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann die Feststellung, dass es eine Beurteilung einer Strafsache in der Sache, insbesondere bezüglich der Schuld oder Unschuld der betreffenden Person, gegeben hat, vom Fortschritt des Verfahrens in dieser Strafsache gestützt werden. Wenn strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden und eine Beschuldigung gegen die betreffende Person erhoben wurde, der Geschädigte vernommen wurde, die Beweise von der zuständigen Behörde zusammengetragen und geprüft wurden und eine begründete Entscheidung auf der Grundlage dieser Beweise ergangen ist, liegen somit Faktoren vor, die zu der Feststellung führen können, dass eine Prüfung der Strafsache in der Sache stattgefunden hat (vgl. in diesem Sinne EGMR, 8. Juli 2019, Mihalache/Rumänien, CE:ECHR:2019:0708JUD005401210, § 98).

57      Damit davon ausgegangen werden kann, dass eine solche Prüfung in der Sache von der entscheidenden Behörde vorgenommen wurde, muss diese Behörde die zu den Akten gereichten Beweise geprüft oder bewertet und die Beteiligung der betreffenden Person an einem Ereignis oder an allen Ereignissen beurteilt haben, die zur Befassung der Ermittlungsorgane geführt haben, um festzustellen, ob eine „strafrechtliche“ Verantwortlichkeit dieser Person begründet wurde (vgl. in diesem Sinne EGMR, 8. Juli 2019, Mihalache/Rumänien, CE:ECHR:2019:0708JUD005401210, § 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Aus dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich, dass, wenn die zuständige Behörde eine Sanktion als Folge des dem Betroffenen vorgeworfenen Verhaltens verhängt hat, vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass die zuständige Behörde zuvor die Umstände der Rechtssache und die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Betroffenen beurteilt hat (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C‑412/21, EU:C:2023:234, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Außerdem ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Entscheidung der Justiz eines Mitgliedstaats, mit der ein Angeklagter aus Mangel an Beweisen rechtskräftig freigesprochen wird, als aufgrund einer Prüfung in der Sache ergangen anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. September 2006, Van Straaten, C‑150/05, EU:C:2006:614, Rn. 60 und 61).

60      Der Gerichtshof hat ferner für Recht erkannt, dass ein Einstellungsbeschluss ohne Verweisung an das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht aufgrund Mangels an Beweisen nach einem Ermittlungsverfahren, in dessen Zuge verschiedene Beweismittel zusammengetragen und geprüft wurden, als nach einer in der betreffenden Strafsache erfolgten Prüfung in der Sache ergangen anzusehen ist, soweit er eine endgültige Entscheidung dahin enthält, dass diese Beweise nicht ausreichen, und jede Möglichkeit ausschließt, dass das Verfahren auf der Grundlage desselben Bündels von Indizien wieder aufgenommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 17 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, klargestellt hat, dass, wenn eine Entscheidung auf das Fehlen oder die Unzulänglichkeit von Beweisen gestützt wird, die Feststellung, dass diese Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist, voraussetzt, dass dem Erlass der Entscheidung eingehende Ermittlungen vorausgegangen sind.

62      Ohne solche eingehenden Ermittlungen, in deren Rahmen die verschiedenen vorhandenen Beweise zusammengetragen und geprüft werden, kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass einem Einstellungsbeschluss eine Prüfung in der Sache vorausgegangen ist. Der Gerichtshof hat insbesondere festgestellt, dass die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz für das Fehlen solcher eingehender Ermittlungen darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 48, 53 und 54.

63      Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass sich der Staatsanwalt für den Erlass des in Rede stehenden Einstellungsbeschlusses auf einen diesem Beschluss als Anlage beigefügten Bericht der Polizeibehörde gestützt hat, NR und die Anzeigenerstatter des Ausgangsverfahrens vernommen hat und sich u. a. eine CD beschafft hat, die die Tonaufzeichnung der Sitzung der Generalversammlung der Genossenschaft BX vom 30. April 2015 enthielt. Diese Beweise deuten darauf hin, dass im Zuge der Ermittlungen verschiedene Beweismittel zusammengetragen und gewürdigt wurden, die in der Sache geprüft wurden. Die fehlende Vernehmung von AX, BD, CH, FX und LM, die ebenfalls an dieser Sitzung teilgenommen haben, könnte jedoch ein Indiz für eine fehlende Prüfung der Rechtsstellung von NR als strafrechtlich für die die verfolgte Straftat begründenden Taten Verantwortliche sein.

64      Unter diesen Umständen hat sich das vorlegende Gericht zu vergewissern, dass dem in Rede stehenden Einstellungsbeschluss eine Prüfung in der Sache in der Strafsache 673/P/2016 vorausging und dass er nicht aus rein verfahrensrechtlichen Gründen erlassen wurde.

 Zur Voraussetzung „idem“

65      Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (Urteil vom 23. März 2023, Generalstaatsanwaltschaft Bamberg [Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem], C‑365/21, EU:C:2023:236, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Der Erlass einer Entscheidung, mit der eine Person im Sinne von Art. 50 der Charta „rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen“ wird, setzt voraus, dass zuvor ein Strafverfahren gegen den Betroffenen eingeleitet wurde. Insoweit hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass der Grundsatz ne bis in idem nur auf Personen Anwendung findet, die in einem Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt worden sind (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 25. Juli 2018, AY [Haftbefehl – Zeuge], C‑268/17, EU:C:2018:602, Rn. 43 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat im Sinne von Art. 50 der Charta handelt, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend ist, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Diese Bestimmung verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteil vom 12. Oktober 2023, INTER CONSULTING, C‑726/21, EU:C:2023:764, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ebenfalls, dass die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich sind, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteil vom 12. Oktober 2023, INTER CONSULTING, C‑726/21, EU:C:2023:764, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      Im vorliegenden Fall geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass zwar in der Strafsache 47/P/2016 ein Strafverfahren wegen der Straftat der Bestechlichkeit gegen NR persönlich eingeleitet wurde, das Strafverfahren in der Strafsache 673/P/2016 wegen der Straftat der Erpressung jedoch gegen unbekannt geführt wurde.

70      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in Anbetracht der in Rn. 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und soweit feststeht, dass diese beiden Strafsachen denselben Sachverhalt betrafen, der Umstand, dass die in diesen Strafsachen eingeleiteten Strafverfahren verschiedene Straftatbestände betrafen, für die Beurteilung, ob dieselbe „Straftat“ im Sinne von Art. 50 der Charta vorliegt, unerheblich ist.

71      Dagegen kann der Umstand, dass das Strafverfahren in der Strafsache 673/P/2016, in der der in Rede stehende Einstellungsbeschluss ergangen ist, gegen unbekannt eingeleitet wurde, für diese Beurteilung nicht als unerheblich angesehen werden, da aus den Erläuterungen der rumänischen Regierung in der mündlichen Verhandlung hervorgeht, dass NR im Rahmen der Strafsache 673/P/2016 nicht förmlich als Verdächtige eingestuft wurde und nur als Zeugin vernommen wurde.

72      Die rumänische Regierung scheint sich somit auf die Voraussetzung der Identität der Person zu beziehen, die nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen weder vom vorlegenden Gericht noch von der Înalta Curte de Casație şi Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) im Strafurteil vom 21. September 2021 in Frage gestellt wurde.

73      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 94 und 95 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat und wie sich aus der in den Rn. 54, 56 und 57 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, kann nur dann davon ausgegangen werden, dass eine Person „wegen einer Straftat … rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen“ worden ist, wenn aus der erlassenen Entscheidung klar hervorgeht, dass bei den dieser Entscheidung vorausgegangenen Ermittlungen, unabhängig davon, ob diese Ermittlungen auf der Grundlage des nationalen Rechts gegen unbekannt oder gegen eine konkrete Person eingeleitet wurden, ihre Rechtsstellung als strafrechtlich für die die verfolgte Straftat begründenden Taten Verantwortliche geprüft wurde und, im Fall eines Einstellungsbeschlusses durch eine Staatsanwaltschaft, ausgeschlossen wurde.

74      Sollte dies nicht der Fall sein, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, könnte der in Rede stehende Einstellungsbeschluss kein Hindernis für die Einleitung eines neuen Strafverfahrens gegen NR wegen derselben Tat darstellen.

75      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass eine Person nicht infolge eines Einstellungsbeschlusses einer Staatsanwaltschaft, der ohne Prüfung der Rechtsstellung dieser Person als strafrechtlich für die die verfolgte Straftat begründenden Taten verantwortliche Person ergangen ist, als im Sinne dieses Art. 50 rechtskräftig freigesprochen angesehen werden kann.

 Kosten

76      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz ne bis in idem

ist dahin auszulegen, dass

eine Person nicht infolge eines Einstellungsbeschlusses einer Staatsanwaltschaft, der ohne Prüfung der Rechtsstellung dieser Person als strafrechtlich für die die verfolgte Straftat begründenden Taten verantwortliche Person ergangen ist, als im Sinne dieses Art. 50 rechtskräftig freigesprochen angesehen werden kann.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Rumänisch.