Language of document : ECLI:EU:C:2024:79

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 25. Januar 2024(1)

Verbundene Rechtssachen C112/22 und C223/22

Strafverfahren gegen CU (C112/22),

ND (C223/22),

Beteiligte:

Procura della Repubblica Tribunale di Napoli,

Ministero dell’Economia e delle Finanze,

Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS)


(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Napoli [Gericht Neapel, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/109/EG – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Art. 11 Abs. 1 Buchst. d – Gleichbehandlung – Sozialhilfe – Voraussetzung des Wohnsitzes von mindestens zehn Jahren ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren“






1.        Es ist weithin anerkannt, dass die Wirtschaftskrisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten erheblich verstärkt haben. Um dem zu begegnen, entschieden sich mehrere europäische Regierungen für eine Umverteilungspolitik, die in Italien hauptsächlich in Form des „Mindesteinkommens für Staatsangehörige“ umgesetzt wurde. Die Thematik des Mindesteinkommens für Staatsangehörige weist somit eine starke politische Dimension auf, die den unbestreitbaren Hintergrund der vorliegenden Rechtssachen bildet.

2.        Auf ihre rein rechtliche Dimension reduziert, geben die vorliegenden Rechtssachen, die auf zwei Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Napoli (Gericht Neapel, Italien) beruhen, dem Gerichtshof die Gelegenheit, sich zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen(2) zu äußern, und insbesondere zu der Frage, ob ein Wohnsitz während einer Dauer von zehn Jahren im italienischen Hoheitsgebiet ohne Unterbrechung in den beiden Jahren vor der Antragstellung als Voraussetzung für die Gewährung des Mindesteinkommens für Staatsangehörige mit dieser Bestimmung in Einklang steht.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

3.        Für die vorliegenden Rechtssachen sind die Art. 4 bis 7 sowie die Art. 9 bis 11 der Richtlinie 2003/109 sowie Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) relevant.

B.      Italienisches Recht

4.        Art. 2 („Begünstigte“) des Decreto-legge n. 4 „Disposizioni urgenti in materia di reddito di cittadinanza e di pensioni“ (Gesetzesdekret Nr. 4 zur Festlegung dringender Bestimmungen zum Mindesteinkommen für Staatsangehörige und zu den Renten) vom 28. Januar 2019 (GURI Nr. 23 vom 28. Januar 2019), in Gesetzesform überführt durch die Legge n. 26 „Conversione in legge, con modificazioni, del decreto-legge 28 gennaio 2019, n. 4, recante disposizioni urgenti in materia di reddito di cittadinanza e di pensioni“ (Gesetz Nr. 26 zur Überführung des Gesetzesdekrets Nr. 4 vom 28. Januar 2019 zur Festlegung dringender Bestimmungen zum Mindesteinkommen für Staatsangehörige und zu den Renten in ein Gesetz unter Vornahme von Änderungen) vom 28. März 2019 (GURI Nr. 75 vom 29. März 2019) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 4/2019) bestimmt in seinem Abs. 1:

„Das [Mindesteinkommen für Staatsangehörige] wird Haushalten gewährt, die zum Zeitpunkt der Antragstellung und während der gesamten Dauer des Leistungsbezugs kumulativ die folgenden Voraussetzungen erfüllen:

a)      Hinsichtlich der Voraussetzungen der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes und des Aufenthalts muss die Person im Haushalt, die die Leistung beantragt, kumulativ:

1.      im Besitz der italienischen Staatsangehörigkeit oder der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder [ein] Familienangehöriger einer solchen Person im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Decreto legislativo 6 febbraio 2007, n. 30 [(Gesetzesdekret Nr. 30 vom 6. Februar 2007)] [sein], der ein Aufenthaltsrecht oder ein Recht auf Daueraufenthalt hat, oder [ein] Drittstaatsangehöriger [sein], der im Besitz einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung‑EU ist;

2.      seit mindestens zehn Jahren in Italien wohnen, und zwar ununterbrochen während der letzten beiden Jahre zum Zeitpunkt der Antragstellung sowie während der gesamten Dauer des Leistungsbezugs.

…“

5.        Art. 7 („Sanktionen“) Abs. 1 dieses Gesetzesdekrets sieht vor:

„Sofern die Tat keine schwerere Straftat darstellt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren bestraft, wer falsche Erklärungen abgibt oder verwendet oder Dokumente herstellt oder verwendet, die falsch sind oder Unwahres bescheinigen, oder wer erforderliche Angaben vorenthält, um die in Art. 3 genannte Leistung unrechtmäßig zu erlangen.“

II.    Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

6.        Aus den Antworten des vorlegenden Gerichts auf das Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung geht hervor, dass CU und ND Drittstaatsangehörige sind, die in Italien die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erworben haben. Diese Personen werden vom Pubblico Ministero della Procura della Repubblica presso il Tribunale di Napoli (Staatsanwaltschaft beim Gericht Neapel, Italien) angeklagt, jeweils die in Art. 7 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 genannte Straftat begangen zu haben. Sie unterzeichneten am 27. August 2020 bzw. am 9. Oktober 2020 Anträge auf das Mindesteinkommen für Staatsangehörige und bescheinigten in diesen Anträgen fälschlicherweise, dass sie die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung und insbesondere die in dem genannten Gesetzesdekret vorgesehene Voraussetzung eines Wohnsitzes während einer Dauer von mindestens zehn Jahren in Italien erfüllten. CU bzw. ND sollen dadurch unrechtmäßig einen Betrag von 3 414,40 Euro bzw. 3 186,66 Euro erlangt haben.

7.        Das Tribunale di Napoli (Gericht Neapel) äußert Zweifel daran, dass das Gesetzesdekret Nr. 4/2019 mit dem Unionsrecht vereinbar ist, da dieses als Voraussetzung für den Bezug des Mindesteinkommens für Staatsangehörige, das als Sozialhilfeleistung zur Sicherung eines Mindestlebensunterhalts eingestuft wird, einen Mindestaufenthalt von zehn Jahren in Italien ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren vorsieht. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass dieses Gesetzesdekret Drittstaatsangehörige, einschließlich derjenigen, die einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzen, einer anderen Behandlung als italienische Staatsangehörige unterwerfe.

8.        Dem vorlegenden Gericht zufolge fällt die als „Mindesteinkommen für Staatsangehörige“ bezeichnete Leistung in einen der drei in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 genannten Bereiche, nämlich die soziale Sicherheit, die Sozialhilfe und den Sozialschutz im Sinne des nationalen Rechts. Des Weiteren sei Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da es den Anschein habe, dass der italienische Staat beim Erlass der betreffenden nationalen Regelung nicht den Willen zum Ausdruck gebracht habe, die in diesem Art. 11 vorgeschriebene Gleichbehandlung im Bereich der Sozialhilfe und des Sozialschutzes auf die Kernleistungen zu beschränken. Selbst wenn eine solche Beschränkung vorgenommen worden wäre, wäre sie jedenfalls nicht mit dem genannten Art. 11 vereinbar gewesen, da das Mindesteinkommen für Staatsangehörige nach dem letzten Satz von Art. 1 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 das Mindestniveau der Leistungen im Rahmen der verfügbaren Mittel gewährleiste.

9.        Die Auslegung des Unionsrechts sei für die Entscheidung in den Ausgangsverfahren erforderlich, da der Tatbestand der in Rede stehenden Straftaten entfalle, wenn die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 enthaltene Voraussetzung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

10.      Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass es der Ansicht sei, dass die Voraussetzung eines Wohnsitzes während einer Dauer von zehn Jahren in Italien ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren Drittstaatsangehörige benachteilige, die einen besonderen Schutz nach der Unionsregelung genössen, wie etwa langfristig Aufenthaltsberechtigte, die nach einem fünfjährigen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Union ein Recht auf Daueraufenthalt in diesem Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 2003/109 erworben hätten. Das Gleiche gelte für italienische Staatsangehörige, die nach einer Zeit des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat nach Italien zurückkehrten. Durch die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Vorschrift würden auch Personen mit Flüchtlingsstatus diskriminiert, die nach Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) die erforderliche Sozialhilfe unter denselben Bedingungen erhalten müssten, wie sie für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten gälten.

11.      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Napoli (Gericht Neapel) beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 18 AEUV, Art. 45 AEUV, Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1), Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109, Art. 29 der Richtlinie 2011/95, Art. 34 der Charta und die Art. 30 und 31 der Europäischen Sozialcharta, einer nationalen Regelung entgegen, wie sie in Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 enthalten ist, soweit diese Regelung den Zugang zum Mindesteinkommen für Staatsangehörige von der Voraussetzung eines Wohnsitzes während mindestens zehn Jahren (davon die letzten beiden Jahre vor der Antragstellung und während der gesamten Dauer des Leistungsbezugs ununterbrochen) in Italien abhängig macht und damit italienische Staatsangehörige, Unionsbürger mit Aufenthaltsrecht oder Daueraufenthaltsrecht oder langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige, die seit weniger als zehn Jahren oder seit zehn Jahren, aber in den letzten beiden Jahren nicht ununterbrochen, in Italien ansässig sind, gegenüber den gleichen Gruppen von Personen, die seit zehn Jahren, davon die letzten beiden Jahre ununterbrochen, dort ansässig sind, schlechter behandelt?

Falls die erste Frage bejaht wird:

2.      Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 18 AEUV, Art. 45 AEUV, Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109, Art. 29 der Richtlinie 2011/95, Art. 34 der Charta und die Art. 30 und 31 der Europäischen Sozialcharta, einer nationalen Regelung entgegen, wie sie in Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 enthalten ist, soweit diese Regelung langfristig Aufenthaltsberechtigte, die nach einem Aufenthalt von fünf Jahren im Aufnahmemitgliedstaat ein Daueraufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat der Union erwerben können, und langfristig Aufenthaltsberechtigte, die seit zehn Jahren, davon die letzten beiden Jahre ununterbrochen, in Italien ansässig sind, unterschiedlich behandelt?

3.      Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 18 AEUV, Art. 45 AEUV, Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 und Art. 29 der Richtlinie 2011/95, einer nationalen Regelung entgegen, wie sie in Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 enthalten ist, die für den Bezug des Mindesteinkommens für Staatsangehörige für italienische Staatsangehörige, Unionsbürger und Drittstaatsangehörige das Erfordernis eines Wohnsitzes von zehn Jahren (in den letzten beiden Jahren ununterbrochen) vorsieht?

4.      Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 18 AEUV, Art. 45 AEUV, Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109, Art. 29 der Richtlinie 2011/95, Art. 34 der Charta und die Art. 30 und 31 der Europäischen Sozialcharta, einer nationalen Regelung entgegen, wie sie in Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 enthalten ist, soweit sie von italienischen Staatsangehörigen, Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen die Erklärung verlangt, zehn Jahre lang, davon in den letzten beiden Jahren ununterbrochen, ihren Wohnsitz in Italien gehabt zu haben, um in den Genuss der Leistung des Mindesteinkommens für Staatsangehörige zu kommen, wobei die Abgabe einer falschen Erklärung schwerwiegende strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht?

12.      Die italienische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Dieselben Beteiligten sowie CU und ND haben in der Sitzung vom 3. Oktober 2023 mündlich verhandelt.

III. Würdigung

A.      Rechtlicher Rahmen der Würdigung

13.      In seiner Generalversammlung vom 2. Mai 2023 hat der Gerichtshof beschlossen, gemäß Art. 101 der Verfahrensordnung ein Ersuchen um Klarstellung an das vorlegende Gericht zu richten, in dem dieses gebeten worden ist, die Rechtsstellung der Personen anzugeben, die von den Strafverfahren der Ausgangsverfahren betroffen sind, sowie den Rechtsakt des Unionsrechts, den es bei diesen Personen für anwendbar hält, und die spezifischen Bestimmungen dieses Rechtsakts, deren Auslegung es für die Zwecke der Entscheidung der bei ihm anhängigen Streitsachen für erforderlich hält, zu benennen.

14.      In seinen Antworten auf dieses Ersuchen, die dem Gerichtshof am 9. Juni 2023 in der Rechtssache C‑223/22 und am 13. Juni 2023 in der Rechtssache C‑112/22 übermittelt worden sind, hat das vorlegende Gericht angegeben, dass die betroffenen Personen beide Drittstaatsangehörige seien, die die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten in Italien hätten. In seiner Antwort betreffend die Rechtssache C‑112/22 hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass die Bestimmung, deren Auslegung für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von Bedeutung sei, Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 sei. In seiner Antwort betreffend die Rechtssache C‑223/22 hat das vorlegende Gericht hingegen nochmals bekräftigt, dass es notwendig sei, alle Bestimmungen auszulegen, die in den dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen genannt worden seien.

15.      Unter Berücksichtigung dieser Klarstellungen wird die rechtliche Würdigung wie folgt gegliedert sein. Ich werde zunächst zu den Einwänden der Beteiligten gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs und die Zulässigkeit der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen Stellung nehmen (Unterabschnitte B und C). Sodann werde ich insbesondere die Frage untersuchen, ob die in der einschlägigen italienischen Regelung vorgesehene Wohnsitzvoraussetzung mit der Richtlinie 2003/109 in Einklang steht (Unterabschnitt D).

B.      Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

16.      Wie aus den Akten hervorgeht, besteht das Mindesteinkommen für Staatsangehörige gemäß dem Gesetzesdekret Nr. 4/2019 aus einer Ergänzung des Familieneinkommens bis zu einer Obergrenze von 6 000 Euro, zu der ein Einkommenszuschlag für Haushalte, die zur Miete wohnen, bis zu einem Höchstbetrag von 3 360 Euro pro Jahr hinzukommen kann. Diese Leistung wird für einen fortlaufenden Zeitraum von höchstens 18 Monaten gewährt und kann verlängert werden.

17.      Voraussetzung für die Gewährung des Mindesteinkommens für Staatsangehörige ist eine Erklärung der volljährigen Mitglieder des betreffenden Haushalts, in der sie bestätigen, dass sie ab sofort für eine Arbeit zur Verfügung stehen, sowie die Teilnahme an einem personalisierten Programm zur Begleitung auf dem Weg zu einer Beschäftigung und zu sozialer Eingliederung, das Tätigkeiten im Dienste der Gemeinschaft, eine Umschulung, den Abschluss eines Studiums und andere von den zuständigen Stellen festgelegte Verpflichtungen umfasst, die auf die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und die soziale Eingliederung abzielen. Dieses Programm erhält durch den Abschluss der Beschäftigungsvereinbarung, die in erster Linie die aktive Suche nach Arbeit und die Annahme geeigneter Angebote zum Gegenstand hat, oder der Vereinbarung zur sozialen Eingliederung, die in den mit der Armutsbekämpfung betrauten kommunalen Stellen unterzeichnet wird, eine offizielle Form.

18.      In ihren schriftlichen Erklärungen hat die italienische Regierung die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der vorgelegten Fragen mit der Begründung in Frage gestellt, dass die nationale Regelung des Mindesteinkommens für Staatsangehörige in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. Ihrer Ansicht nach stellt das Mindesteinkommen für Staatsangehörige keine Maßnahme der Sozialhilfe oder des Sozialschutzes dar, die darauf abzielt, ein bestimmtes Einkommensniveau für die betroffenen Personen zu gewährleisten. Stattdessen handele es sich um eine komplexe Maßnahme, die ein umfassenderes Ziel der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung verfolge. Da das Unionsrecht auf die Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei, solle sich der Gerichtshof im vorliegenden Fall für unzuständig erklären.

19.      In diesem Zusammenhang hat die italienische Regierung die Einordnung des Mindesteinkommens für Staatsangehörige durch das vorlegende Gericht beanstandet. Diese Beanstandung stützt sich im Wesentlichen auf das Urteil der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) Nr. 19/2022 vom 10. Januar 2022.

20.      In der Rechtssache, die diesem Urteil zugrunde lag, hatte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) über die Verfassungsmäßigkeit von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Nr. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 zu entscheiden, der als eine der verschiedenen Voraussetzungen für den Bezug des Mindesteinkommens für Staatsangehörige verlangt, dass Drittstaatsangehörige eine langfristige Aufenthaltsberechtigung‑EU besitzen. Im Einzelnen war dieses Gericht insbesondere mit der Frage befasst, ob eine solche Einschränkung des Kreises der Empfänger dieser Leistung mit dem in Art. 3 der italienischen Verfassung verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar ist, da das Mindesteinkommen für Staatsangehörige auf die Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse abzielt.

21.      In ihrem Urteil erinnerte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) daran, dass sie bereits festgestellt habe, dass „die Regeln für das Mindesteinkommen für Staatsangehörige einen Weg zur Wiedereingliederung in die Arbeitswelt definieren, der über die rein wirtschaftliche Unterstützung hinausgeht“, und dass diese Leistung „keinen reinen Sozialhilfecharakter hat, gerade weil [sie] mit einem Ausbildungs- und Eingliederungsprogramm einhergeht, das präzise Verpflichtungen beinhaltet, deren Nichteinhaltung in verschiedenen Formen den Ausschluss von diesem Programm zur Folge hat“.

22.      Anschließend befand sie, dass „das Mindesteinkommen für Staatsangehörige zwar auch die Merkmale einer Maßnahme zur Armutsbekämpfung aufweist, sich aber nicht als Sozialhilfeleistung zur Befriedigung der Grundbedürfnisse des Einzelnen darstellt, sondern andere und strukturiertere Ziele der aktiven Beschäftigungspolitik und der sozialen Integration verfolgt“, und stellte somit fest, dass die ihr vorgelegte Frage zur Verfassungsmäßigkeit nicht begründet sei.

23.      Diese Beurteilung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) hinsichtlich der Einordnung des Mindesteinkommens für Staatsangehörige scheint mir nicht geeignet, die Unanwendbarkeit von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 und folglich die Unzuständigkeit des Gerichtshofs für die vorliegenden Vorabentscheidungsfragen zu begründen.

24.      Diese Bestimmung verweist nämlich für die Definition der Begriffe „soziale Sicherheit“, „Sozialhilfe“ und „Sozialschutz“ auf das nationale Recht. Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass eine solche Verweisung bedeutet, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu beurteilen, ob eine bestimmte nationale Maßnahme eine Leistung darstellt, die zu den dort genannten Kategorien gehört(3). Diese letztgenannte Feststellung ist nur eine spezifische Ausprägung der allgemeinen Regel, die auf dem Erfordernis einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Rahmen von Vorabentscheidungsersuchen beruht, wonach der Gerichtshof nicht zur Auslegung des nationalen Rechts befugt ist, da allein das nationale Gericht, das das Vorabentscheidungsersuchen einreicht, dafür zuständig ist, die genaue Bedeutung der innerstaatlichen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zu bestimmen(4). Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht eindeutig angegeben, dass das Mindesteinkommen für Staatsangehörige unter eine der drei in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 aufgeführten Kategorien falle, so dass die Anwendbarkeit dieses Artikels nicht in Frage gestellt werden kann.

25.      Es trifft zwar zu, dass der Gerichtshof, um dem nationalen Gericht zweckdienliche Antworten zu geben, nach gefestigter Rechtsprechung auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens sowie der vor ihm abgegebenen schriftlichen und mündlichen Erklärungen Hinweise geben kann, insbesondere zu den Gesichtspunkten, die von diesem Gericht bei seiner Entscheidung in dieser Rechtssache zu berücksichtigen sind(5). Allerdings ist es dem Gerichtshof nach dieser Rechtsprechung ausschließlich erlaubt, solche Aspekte des nationalen Rechts in seiner Antwort zu thematisieren, die geeignet sind, dem oben genannten Zweck zu dienen, ohne dabei eine Auslegung dieses Rechts vorzunehmen.

26.      Der Gerichtshof ist nur befugt, über die Auslegung des Unionsrechts im Hinblick auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, wie er vom vorlegenden Gericht beschrieben wird, zu entscheiden, ohne diesen in Frage stellen oder seine Richtigkeit anhand des Urteils eines nationalen Gerichts, selbst wenn es das höchste ist, überprüfen zu können.

27.      Nach alledem ist an der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Einordnung der in Rede stehenden Maßnahme festzuhalten und das Mindesteinkommen für Staatsangehörige mithin als eine Leistung zu behandeln, die unter den Begriff der „Sozialhilfe“ fällt, wie er in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 genannt ist. Da diese Richtlinie somit auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, muss sich der Gerichtshof meines Erachtens für zuständig erklären, über die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden.

C.      Zur Zulässigkeit

28.      Die italienische Regierung und die Kommission haben in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebracht, dass die Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs unzulässig seien.

29.      Insbesondere haben beide Parteien geltend gemacht, dass die Vorlageentscheidungen in Bezug auf die Rechtsstellung der Personen, die in den Strafverfahren der Ausgangsverfahren vor das vorlegende Gericht gestellt worden seien, lückenhaft seien. In der Tat erklärt das vorlegende Gericht in der Begründung, in der es die von ihm vorgeschlagenen Antworten auf die Vorlagefragen entwickelt, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Wohnsitzvoraussetzung zu einer Diskriminierung zum Nachteil langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger, eigener Staatsangehöriger und Unionsbürger sowie von Drittstaatsangehörigen, die internationalen Schutz genössen, führe, obwohl die Vorlagefragen auf Rechtsakte gerichtet sind, die sich auf alle diese Personengruppen beziehen. Es handelt sich jedoch um miteinander unvereinbare Rechtsstellungen, die die in den vorliegenden Fällen betroffenen Personen nicht gleichzeitig innehaben können.

30.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht nach ständiger Rechtsprechung gemäß Art. 94 der Verfahrensordnung verpflichtet ist, ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang zu geben, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstellt(6).

31.      Im vorliegenden Fall ist in Anbetracht der Antworten des vorlegenden Gerichts auf das Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung festzustellen, dass die vorliegenden Vorlagefragen zulässig sind, soweit sie auf die Auslegung der Richtlinie 2003/109 gerichtet sind(7).

D.      Zur Begründetheit

32.      Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Zugang langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger zu einer Maßnahme der Sozialhilfe von der Voraussetzung eines Wohnsitzes während mindestens zehn Jahren in dem betreffenden Mitgliedstaat ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren abhängig macht und die eine strafrechtliche Sanktion für den Fall vorsieht, dass eine falsche Erklärung in Bezug auf diese Voraussetzung abgegeben wird.

33.      Zunächst sind einige Präzisierungen erforderlich, um den rechtlichen Rahmen zu definieren, in den die sekundärrechtliche Bestimmung, die der Gerichtshof auslegen soll, eingebettet ist.

34.      Als Schlüsselinstrument des unionsrechtlichen Rahmens im Bereich der legalen Migration verfolgt die Richtlinie 2003/109, wie in den Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 12 dargelegt, das Ziel, die Integration von Drittstaatsangehörigen sicherzustellen, die in den Mitgliedstaaten langfristig und rechtmäßig ansässig sind, und zu diesem Zweck die Rechte dieser Drittstaatsangehörigen an die Rechte anzugleichen, über die die Unionsbürger verfügen, u. a. dadurch, dass die Gleichbehandlung mit den Unionsbürgern in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen herbeigeführt wird(8).

35.      Die Richtlinie 2003/109 legt die Bedingungen für die Gewährung und den Entzug der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten und die damit verbundenen Rechte sowie die Bedingungen für den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, die diese Rechtsstellung besitzen, in anderen Mitgliedstaaten fest. Eine solche Rechtsstellung entspricht der höchsten Integrationsstufe für einen Drittstaatsangehörigen, es sei denn, er erwirbt die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats.

36.      Es sind die Bestimmungen dieser Richtlinie aufzuführen, die für den vorliegenden Fall relevant sind.

37.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen und rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen. Art. 5 legt die Bedingungen für die Zuerkennung dieser Rechtsstellung fest. Gemäß Abs. 1 Buchst. a und b dieses Artikels muss der Drittstaatsangehörige nachweisen, dass er über ausreichende Einkünfte und eine Krankenversicherung verfügt, um zu vermeiden, dass er dem betreffenden Mitgliedstaat zur Last fällt(9). Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 bestimmt, dass die in Rede stehende Rechtsstellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit versagt werden kann. Art. 7 legt Verfahrensregeln für die Prüfung des Antrags auf Zuerkennung der genannten Rechtsstellung fest, und Art. 9 regelt die Bedingungen für den Entzug und den Verlust dieser Rechtsstellung.

38.      Wie ich oben erwähnt habe, bedeutet die Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten, sobald sie erlangt wird, insbesondere, dass Drittstaatsangehörige neben einem verstärkten Ausweisungsschutz auch die Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats genießen.

39.      Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 erstreckt sich diese Gleichbehandlung auf die dort aufgeführten Bereiche, insbesondere auf die soziale Sicherheit, die Sozialhilfe und den Sozialschutz (Buchst. d) im Sinne des nationalen Rechts, vorbehaltlich der Ausnahmen, die die Mitgliedstaaten gemäß den Abs. 2, 3 und 4 dieses Artikels festlegen können.

40.      Da die im vorliegenden Fall in Rede stehende Maßnahme nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zu einem dieser Bereiche im Sinne des nationalen Rechts gehört, fällt das Mindesteinkommen für Staatsangehörige unter Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109.

41.      Das Gebot der Gleichbehandlung findet somit im vorliegenden Fall Anwendung.

42.      Vor Prüfung der Frage, ob die Gleichbehandlung gewahrt ist, möchte ich klarstellen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 aufgrund der unterschiedlichen Natur der Freizügigkeitsrechte und der Rechte von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen im vorliegenden Fall nicht entsprechend anwendbar ist.

43.      Die erstgenannten Rechte werden den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch den Vertrag verliehen. Der Gedanke, der der oben angeführten Rechtsprechung zugrunde liegt, ist nämlich, dass Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 „eine besondere Ausprägung des in Art. 45 Abs. 2 AEUV enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen und daher ebenso auszulegen [ist] wie Art. 45 Abs. 2 AEUV“(10). Wenn sich die Frage der Gleichbehandlung von Arbeitnehmern, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, und inländischen Arbeitnehmern in Bezug auf soziale und steuerliche Vergünstigungen stellt, ist daher zu prüfen, ob die aus einer nationalen Maßnahme resultierende Ungleichbehandlung ein legitimes Ziel verfolgt und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

44.      Die zweitgenannten Rechte ergeben sich aus einem Instrument des Sekundärrechts, nämlich der Richtlinie 2003/109. In den Urteilen, in denen sich der Gerichtshof zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie geäußert hat, hat er diese Bestimmung nämlich nicht als „besondere Ausprägung“ eines Artikels des Vertrags betrachtet(11).

45.      Da der Unionsgesetzgeber die Situationen, in denen die Mitgliedstaaten von der Gleichbehandlung von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen und eigenen Staatsangehörigen Ausnahmen machen können, in der Richtlinie 2003/109 bereits abschließend geregelt hat(12), stellt eine Ungleichbehandlung dieser beiden Kategorien von Staatsangehörigen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, als solche einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie dar.

46.      Daher kann die Rechtsprechung zur Freizügigkeit von Arbeitnehmern meines Erachtens nur dazu dienen, zu überprüfen, ob langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige anders behandelt werden als Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats und ob ihre Situationen vergleichbar sind.

47.      Im vorliegenden Fall ist im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der Situationen dieser beiden Kategorien von Staatsangehörigen anzumerken, dass die italienische Regierung darauf hingewiesen hat, dass das Mindesteinkommen für Staatsangehörige aus administrativer Sicht eine besonders komplexe Maßnahme sei, da bei seiner Umsetzung spezifische Vereinbarungen für jeden betroffenen Haushalt eingehalten und deren Umsetzung ständig überwacht werden müssten sowie die Auszahlung erheblicher Beträge aus öffentlichen Mitteln erforderlich sei. Aus diesem Grund hat der nationale Gesetzgeber nach Ansicht dieser Regierung den Anspruch auf diese Leistung folgerichtig allein auf Staatsangehörige beschränkt, die eine starke und dauerhafte Verwurzelung sowohl auf dem italienischen Arbeitsmarkt als auch allgemein in der italienischen Gesellschaft haben.

48.      Nimmt man an, dass die italienische Regierung damit auf verwaltungsmäßige und wirtschaftliche Schwierigkeiten hinweist, ist festzustellen, dass diese in keiner Weise erklären, warum Drittstaatsangehörige nicht als Personen anzusehen sind, die sich in einer vergleichbaren Situation wie Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats mit demselben wirtschaftlichen Bedarf befinden, wenn sie nach Abschluss des Verfahrens und Erfüllung der in der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Bedingungen die durch diese Richtlinie gewährte Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangt haben(13). Ich möchte hinzufügen, dass der Gerichtshof in einem jüngeren Urteil entschieden hat, dass diese beiden Kategorien von Staatsangehörigen auch nicht wegen ihrer jeweiligen Bindungen zum Aufnahmemitgliedstaat als in einer unterschiedlichen Situation befindlich angesehen werden können, da eine solche Feststellung im Widerspruch zu der Einschätzung des Unionsgesetzgebers steht, dass die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten das Recht auf Gleichbehandlung mit eigenen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 eröffnet(14).

49.      Was die Frage betrifft, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Voraussetzung eine Ungleichbehandlung zwischen diesen gleichen Kategorien von Staatsangehörigen schafft, scheint mir dies notwendigerweise bejaht werden zu müssen.

50.      Es stimmt zwar, dass diese Bedingung von allen Personen erfüllt werden muss, die einen Anspruch auf das Mindesteinkommen für Staatsangehörige haben, unabhängig davon, ob es sich um langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige oder um eigene Staatsangehörige handelt. Es ist jedoch zu konstatieren, dass Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 keinen Hinweis darauf enthält, dass die dort genannte Gleichbehandlung nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit des betreffenden Staatsangehörigen (unmittelbare Diskriminierungen) verbietet. Diese Gleichbehandlung erstreckt sich nämlich auf alle versteckten Formen von Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungskriterien faktisch zum selben Ergebnis führen (mittelbare Diskriminierungen).

51.      Hierzu geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass jegliche Unterscheidung aufgrund des Wohnsitzes, wie sie im vorliegenden Fall durch die in Rede stehende Voraussetzung vorgenommen wird, wahrscheinlich eher zugunsten der eigenen Staatsangehörigen wirkt, da Gebietsfremde meist Ausländer sind(15). Das Gleiche gilt für eine Unterscheidung aufgrund der Dauer des Wohnsitzes, wenn die Behandlung von Inländern mit der Behandlung von Drittstaatsangehörigen verglichen wird, die nach einem ordnungsgemäßen Aufenthalt von fünf Jahren im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erworben haben.

52.      In der mündlichen Verhandlung hat die italienische Regierung geltend gemacht, dass langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige gut in die italienische Gesellschaft integriert seien, wenn sie die gleichen Rechte wie italienische Staatsangehörige (mit Ausnahme der politischen Rechte) genössen, über ein Mindesteinkommen und eine Wohnung verfügten und die italienische Sprache hinreichend beherrschten. Somit entspricht die Fähigkeit dieser Staatsangehörigen, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Voraussetzung zu erfüllen, nach Ansicht dieser Regierung im Wesentlichen derjenigen der italienischen Staatsangehörigen. Ich sehe jedoch nicht, inwiefern dieses Argument geeignet wäre, die in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge getroffene Feststellung zu entkräften.

53.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Wohnsitzvoraussetzung auch italienische Staatsangehörige betreffen könne, die nach Italien zurückkehrten, nachdem sie in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt hätten. Auch dieser Umstand scheint mir nicht geeignet, die Schlussfolgerung, zu der hier gelangt worden ist, in Frage zu stellen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass eine Maßnahme, um als mittelbar diskriminierend qualifiziert werden zu können, nicht bewirken muss, dass alle Inländer begünstigt werden oder dass unter Ausschluss der Inländer nur die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten benachteiligt werden(16).

54.      Schließlich wird sich der Gerichtshof mit der Frage befassen müssen, ob eine nationale Bestimmung wie Art. 7 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019, die eine Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren u. a. für den Fall einer falschen Erklärung hinsichtlich der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 dieses Dekrets festgelegten Voraussetzung vorsieht, mit der Richtlinie 2003/109 in Einklang steht.

55.      Die rechtliche Regelung einer solchen Sanktion ist in der Richtlinie 2003/109 nicht vorgesehen und fällt daher unter das nationale Recht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Regelung mit der fraglichen Richtlinie vereinbar ist.

56.      Denn es ist daran zu erinnern, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Voraussetzung ein Tatbestandsmerkmal der Straftat darstellt, dessen Verwirklichung die Verhängung der in Rede stehenden Sanktion bedingt.

57.      Daraus folgt, dass, wenn der Gerichtshof, wie von mir vorgeschlagen, entscheiden würde, dass diese Voraussetzung gegen Unionsrecht, insbesondere Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109, verstößt, das nationale Gericht verpflichtet wäre, sowohl Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 als auch dessen Art. 7 Abs. 1 unangewendet zu lassen.

58.      Wie das vorlegende Gericht im Wesentlichen ausführt, hat die Nichtanwendung der nationalen Bestimmung, die diese Voraussetzung festlegt, nämlich zur Folge, dass bei der Erklärung der vor das Strafgericht gestellten Person dieses Tatbestandsmerkmal der Straftat und folglich die Straftat in ihrer Gesamtheit entfällt. Insbesondere führt die Unanwendbarkeit der Bestimmung, die diese Voraussetzung enthält, dazu, dass der Inhalt der falschen Erklärung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 keine Auswirkungen hat.

59.      Daher verstößt auch die strafrechtliche Sanktion für eine falsche Erklärung in Bezug auf die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Voraussetzung gegen das Unionsrecht(17).

60.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Fragen des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Zugang zu einer nationalen Sozialhilfemaßnahme von der Voraussetzung eines Wohnsitzes während mindestens zehn Jahren in dem betreffenden Mitgliedstaat ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren abhängig macht und die eine strafrechtliche Sanktion für den Fall vorsieht, dass eine falsche Erklärung in Bezug auf diese Voraussetzung abgegeben wird.

IV.    Ergebnis

61.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Tribunale di Napoli (Gericht Neapel, Italien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Zugang zu einer nationalen Sozialhilfemaßnahme von der Voraussetzung eines Wohnsitzes während mindestens zehn Jahren in dem betreffenden Mitgliedstaat ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren abhängig macht und die eine strafrechtliche Sanktion für den Fall vorsieht, dass eine falsche Erklärung in Bezug auf diese Voraussetzung abgegeben wird.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2004, L 16, S. 44.


3      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. April 2012, Kamberaj (C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 77 und 81), und vom 28. Oktober 2021, ASGI u. a. (C‑462/20, EU:C:2021:894, Rn. 30).


4      Vgl. Urteil vom 13. Juli 2023, Ferrovienord (C‑363/21 und C‑364/21, EU:C:2023:563, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).


5      Vgl. Urteil vom 8. Juni 2023, Fastweb u. a. (Zeitrahmen für die Abrechnung) (C‑468/20, EU:C:2023:447, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6      Urteil vom 18. September 2019, Ortiz Mesonero (C‑366/18, EU:C:2019:757, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


7      Ich weise darauf hin, dass Art. 34 Abs. 3 der Charta, da sich der Gerichtshof auf ihn ausschließlich als Auslegungshilfe für den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109 bezieht (vgl. insoweit Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 81 und 92), nicht relevant erscheint, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Frage, ob diese Richtlinie Anwendung finden soll, bereits bejaht worden ist. Was die Art. 30 und 31 der Europäischen Sozialcharta betrifft, so hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass er für deren Auslegung nicht zuständig ist. Vgl. in diesem Zusammenhang Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi (C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 70).


8      Vgl. Urteil vom 20. Januar 2022, Landeshauptmann von Wien (Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten) (C‑432/20, EU:C:2022:39, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


9      Vgl. auch siebter Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109.


10      Vgl. insbesondere Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411, Rn. 35).


11      Urteile vom 24. April 2012, Kamberaj (C‑571/10, EU:C:2012:233, insbesondere Rn. 75), und vom 25. November 2020, Istituto nazionale della previdenza sociale (Familienleistungen für langfristig Aufenthaltsberechtigte) (C‑303/19, EU:C:2020:958, insbesondere Rn. 34).


12      Vgl. Urteil vom 21. Juni 2017, Martinez Silva (C‑449/16, EU:C:2017:485, Rn. 29).


13      Vgl. zu den verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj (C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 75).


14      Urteil vom 25. November 2020, Istituto nazionale della previdenza sociale (Familienleistungen für langfristig Aufenthaltsberechtigte) (C‑303/19, EU:C:2020:958, Rn. 34).


15      Vgl. insbesondere Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants (Kind des Ehegatten eines Grenzgängers) (C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 56).


16      Vgl. entsprechend Urteil vom 23. Januar 2019, Zyla (C‑272/17, EU:C:2019:49, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      Vgl. zur Unionsrechtswidrigkeit einer Sanktionsregelung, die verhängt wird, um die Einhaltung einer Verpflichtung zu gewährleisten, die selbst nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, Urteil vom 26. April 2022, Landespolizeidirektion Steiermark (Höchstdauer von Kontrollen an den Binnengrenzen) (C‑368/20 und C‑369/20, EU:C:2022:298, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. hierzu auch Urteil vom 29. April 1999, Ciola (C‑224/97, EU:C:1999:212, Rn. 33).