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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

22. Juni 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Entscheidung, den Aufenthalt der betroffenen Person aus Gründen der öffentlichen Ordnung zu beenden – Präventive Maßnahmen zur Vermeidung jeglicher Fluchtgefahr der betroffenen Person während der ihr für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats gesetzten Frist – Nationale Vorschriften, die denjenigen ähnlich sind, die nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115/EG für Drittstaatsangehörige gelten – Höchstdauer der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung – Nationale Vorschrift, die sich mit der für Drittstaatsangehörige geltenden deckt“

In der Rechtssache C‑718/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 18. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 27. September 2019, in dem Verfahren

Ordre des barreaux francophones et germanophone,

Association pour le droit des Étrangers ASBL,

Coordination et Initiatives pour et avec les Réfugiés et Étrangers ASBL,

Ligue des Droits de l’Homme ASBL,

Vluchtelingenwerk Vlaanderen ASBL

gegen

Conseil des ministres

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan (Berichterstatter) und N. Piçarra sowie der Richter M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi und des Richters I. Jarukaitis,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. November 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Association pour le droit des Étrangers ASBL, der Coordination et Initiatives pour et avec les Réfugiés et Étrangers ASBL, der Ligue des Droits de l’Homme ASBL und der Vluchtelingenwerk Vlaanderen ASBL, vertreten durch M. Van den Broeck, advocaat, sowie durch P. Delgrange und S. Benkhelifa, avocates,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von D. Matray, C. Decordier, S. Matray und C. Piront, avocats, sowie von T. Bricout, advocaat,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, P. Jespersen und M. S. Wolff als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigten,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Februar 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung in ABl. 2004, L 229, S. 35).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ordre des barreaux francophones et germanophone, der Association pour le droit des Étrangers ASBL, der Coordination et Initiatives pour et avec les Refugiés et Étrangers ASBL, der Ligue des Droits de l’Homme ASBL und der Vluchtelingenwerk Vlaanderen ASBL auf der einen Seite und dem Conseil des ministres (Ministerrat, Belgien) auf der anderen Seite wegen einer nationalen Regelung, die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen zum einen ähnliche Maßnahmen anwendet wie jene, die für Drittstaatsangehörige zur Vermeidung jeglicher Fluchtgefahr während der Frist gelten, die ihnen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats nach Erlass einer Rückkehrentscheidung gesetzt wurde, und zum anderen eine gleiche Höchstdauer der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung wie für diese Drittstaatsangehörigen festlegt.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2004/38

3        In den Erwägungsgründen 1 bis 3 und 31 der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„(1)      Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im [AEU‑]Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

(2)      Die Freizügigkeit von Personen stellt eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts dar, der einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem diese Freiheit gemäß den Bestimmungen des [AEU‑]Vertrags gewährleistet ist.

(3)      Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.

(31)      Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und ‑freiheiten und den Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. …“

4        Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“

5        Art. 4 („Recht auf Ausreise“) sieht in Abs. 1 vor:

„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.“

6        Art. 27 („Allgemeine Grundsätze“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2)      Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

(4)      Der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, lässt den Inhaber des Dokuments, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit aus einem anderen Mitgliedstaat ausgewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird.“

7        Art. 30 („Mitteilung der Entscheidungen“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1)      Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.

(3)      In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“

 Richtlinie 2008/115/EG

8        Die Erwägungsgründe 2, 4 und 24 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) haben folgenden Wortlaut:

„(2)      Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

(4)      Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.

(24)      Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.“

9        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des [Unions‑] und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

10      Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 3 der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf Personen, die das [Recht] auf freien Personenverkehr nach Artikel 2 Absatz 5 des Schengener Grenzkodex genießen.“

11      Art. 6 („Rückkehrentscheidung“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

12      Art. 7 („Freiwillige Ausreise“) Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Den Betreffenden können für die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise bestimmte Verpflichtungen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr auferlegt werden, wie eine regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, das Einreichen von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.“

13      Kapitel IV („Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung“) dieser Richtlinie enthält deren Art. 15 bis 18.

14      Art. 15 („Inhaftnahme“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(5)      Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6)      Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)      mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)      Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“

 Belgisches Recht

15      Art. 44ter der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und die [Ausweisung] von Ausländern, Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 14584) in ihrer im Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) sieht vor:

„§ 1.      Hat ein Unionsbürger oder sein Familienmitglied nicht oder nicht mehr das Recht, sich im Staatsgebiet aufzuhalten, so kann ihm der Minister oder sein Beauftragter gemäß Artikel 7 Absatz 1 eine Anweisung erteilen, das Staatsgebiet zu verlassen.

Beabsichtigt der Minister oder sein Beauftragter, eine Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, zu erteilen, so berücksichtigt er die Dauer des Aufenthalts des Unionsbürgers oder seines Familienmitglieds im Staatsgebiet des Königreichs, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Königreich und die Enge seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.

§ 2.      Die Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, die einem Unionsbürger oder seinem Familienmitglied ausgestellt worden ist, gibt die Frist an, innerhalb deren der Betreffende das Staatsgebiet des Königreichs zu verlassen hat. Außer im ordnungsgemäß mit Gründen versehenen Dringlichkeitsfall darf diese Frist nicht unter einem Monat ab der Notifizierung des Beschlusses liegen.

Die in Absatz 1 erwähnte Frist kann vom Minister oder seinem Beauftragten verlängert werden, wenn:

1.      die freiwillige Rückkehr nicht binnen dieser Frist erfolgen kann oder

2.      besondere Umstände in Bezug auf die Lage des Betreffenden dies rechtfertigen.

Der Antrag auf Verlängerung der Frist für das Verlassen des Staatsgebiets des Königreichs muss vom Unionsbürger beziehungsweise seinem Familienmitglied beim Minister oder seinem Beauftragten eingereicht werden.“

16      Mit den Art. 28 bis 31 des Gesetzes vom 24. Februar 2017 zur Änderung des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und die [Ausweisung] von Ausländern im Hinblick auf die Stärkung des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit (Moniteur belge vom 19. April 2017, S. 51890) (im Folgenden: Gesetz vom 24. Februar 2017) wurden in das Gesetz vom 15. Dezember 1980 die Art. 44quater bis 44septies eingefügt, die wie folgt lauten:

„Art. 44quater. Solange die in Artikel 44ter erwähnte Frist läuft, darf der Unionsbürger beziehungsweise sein Familienmitglied nicht unter Zwang [ausgewiesen] werden.

Um eine Flucht während der in Artikel 44 erwähnten Frist zu vermeiden, können dem Unionsbürger beziehungsweise seinem Familienmitglied präventive Maßnahmen auferlegt werden. Der König ist befugt, diese Maßnahmen durch einen im Ministerrat beratenen Erlass zu bestimmen.

Art. 44quinquies. § 1. Der Minister oder sein Beauftragter ergreift alle erforderlichen Maßnahmen, um die Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, auszuführen, wenn:

1.      dem Unionsbürger oder seinem Familienmitglied keine Frist für das Verlassen des Staatsgebiets des Königreichs gewährt worden ist;

2.      der Unionsbürger oder sein Familienmitglied das Staatsgebiet des Königreichs nicht binnen der ihm gewährten Frist verlassen hat;

3.      bei dem Unionsbürger oder seinem Familienmitglied vor Ablauf der gewährten Frist für das Verlassen des Staatsgebiets des Königreichs eine Fluchtgefahr besteht, der Betreffende die auferlegten präventiven Maßnahmen nicht eingehalten hat oder er eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt.

§ 2.      Widersetzt sich der Unionsbürger beziehungsweise sein Familienmitglied seiner [Ausweisung] oder stellt der Betreffende während seiner [Ausweisung] eine Gefahr dar, wird seine Rückführung vorgenommen, gegebenenfalls unter Begleitung. Unter Berücksichtigung der Artikel 1 und 37 des Gesetzes vom 5. August 1992 über das Polizeiamt [(Moniteur belge vom 22. Dezember 1992, S. 27124)] dürfen dann Zwangsmaßnahmen gegen ihn ergriffen werden.

Wird die [Ausweisung] auf dem Luftweg ausgeführt, werden die Maßnahmen gemäß den gemeinsamen Leitlinien für Rückführungen auf dem Luftweg – Anhang zur [Entscheidung 2004/573/EG des Rates vom 29. April 2004 betreffend die Organisation von Sammelflügen zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die individuellen Rückführungsmaßnahmen unterliegen, aus dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten (ABl. 2004, L 261, S. 28)] erlassen.

§ 3.      Der König bestimmt durch einen im Ministerrat beratenen Erlass die Instanz, die mit der Kontrolle der Maßnahmen zur Rückführung beauftragt ist, und legt die Modalitäten dieser Kontrolle fest. Diese Instanz ist unabhängig von den in Sachen [Ausweisung] zuständigen Behörden.

Art. 44sexies. Wenn es die jeweiligen Umstände des Einzelfalls rechtfertigen, kann der Minister oder sein Beauftragter die [Ausweisung] vorübergehend aufschieben. Er setzt den Betreffenden davon in Kenntnis.

Um eine Flucht zu vermeiden, können dem Unionsbürger beziehungsweise seinem Familienmitglied präventive Maßnahmen auferlegt werden. Der König ist befugt, diese Maßnahmen durch einen im Ministerrat beratenen Erlass zu bestimmen.

Für die Zeit, die für die Ausführung dieser Maßnahme notwendig ist, kann der Minister oder sein Beauftragter dem Unionsbürger beziehungsweise seinem Familienmitglied in denselben Fällen einen Aufenthaltsort zuweisen.

Art. 44septies. § 1. Wenn Gründe der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit oder der Volksgesundheit dies erfordern und wenn keine anderen weniger intensiven Maßnahmen wirksam angewandt werden können, können Unionsbürger und ihre Familienmitglieder im Hinblick auf die Gewährleistung der Ausführung der [Ausweisungsmaßnahme] für die Zeit, die für die Ausführung der Maßnahme unbedingt notwendig ist, festgehalten werden, ohne dass die Dauer der Festhaltung zwei Monate überschreiten darf.

Der Minister oder sein Beauftragter kann jedoch die Dauer dieser Festhaltung um Zeiträume von jeweils zwei Monaten verlängern, wenn die nötigen Schritte zur [Ausweisung] des Ausländers binnen sieben Werktagen nach Festhaltung des Unionsbürgers beziehungsweise seines Familienmitglieds unternommen worden sind, wenn sie mit der erforderlichen Sorgfalt fortgeführt werden und wenn die effektive [Ausweisung] des Betreffenden binnen einer annehmbaren Frist immer noch möglich ist.

Nach einer ersten Verlängerung kann der Beschluss, die Dauer der Festhaltung zu verlängern, nur noch vom Minister gefasst werden.

Nach fünf Monaten muss der Unionsbürger beziehungsweise sein Familienmitglied freigelassen werden. Wenn der Schutz der öffentlichen Ordnung oder die nationale Sicherheit es erfordert, kann die Festhaltung jeweils um einen Monat verlängert werden, ohne dass dadurch die Gesamtdauer der Festhaltung acht Monate überschreiten darf.

§ 2.      Der in § 1 erwähnte Unionsbürger beziehungsweise sein darin erwähntes Familienmitglied kann gemäß Artikel 71 und folgende gegen den Beschluss zu seiner Festhaltung Einspruch einlegen.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

17      Bei der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) wurden zwei Klagen auf vollständige oder teilweise Nichtigerklärung des Gesetzes vom 24. Februar 2017 eingereicht, die erste vom Ordre des barreaux francophones et germanophone und die zweite von der Association pour le droit des Étrangers, der Coordination et Initiatives pour et avec les Réfugiés et Étrangers, der Ligue des Droits de l’Homme und dem Vluchtelingenwerk Vlaanderen. Die beiden entsprechenden Rechtssachen wurden vom vorlegenden Gericht verbunden.

18      Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung soll mit diesem Gesetz eine wirksame Ausweisungspolitik für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gewährleistet werden, indem sichergestellt wird, dass diese Politik human ist und unter vollständiger Achtung ihrer Grundrechte und ihrer Menschenwürde verfolgt wird. Die Bestimmungen dieses Gesetzes, die auch den Unionsbürgern und ihren Familienmitgliedern eine Ausweisungsregelung garantieren sollen, die nicht weniger günstig ist als jene für Drittstaatsangehörige, ermöglichen es somit, die Maßnahmen zu klären, die gegenüber Unionsbürgern und ihren Familienmitgliedern getroffen werden können, um ihre Ausweisung aus dem belgischen Staatsgebiet sicherzustellen.

19      Erstens hegt dieses Gericht Zweifel, ob mit dem Unionsrecht jene nationalen Bestimmungen vereinbar sind, die die Möglichkeit vorsehen, dem Unionsbürger oder seinem Familienmitglied, dem eine Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, aus Gründen der öffentlichen Ordnung erteilt wurde, während der ihm für das Verlassen des Staatsgebiets gewährten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist präventive Maßnahmen aufzuerlegen, um jegliche Fluchtgefahr der betroffenen Person zu vermeiden. Diese Bestimmungen ermächtigen den König, diese Maßnahmen durch einen im Ministerrat beratenen Erlass zu bestimmen, und sehen vor, dass der zuständige Minister (im Folgenden: Minister) oder sein Beauftragter dem Betroffenen einen Aufenthaltsort zuweisen kann, falls die Ausweisung vorübergehend aufgeschoben wird.

20      Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen u. a. geltend, das Unionsrecht stehe der Verhängung von Maßnahmen gegen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen zur Vermeidung der Fluchtgefahr während der ihnen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist entgegen.

21      Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Richtlinie 2008/115, die nur für Drittstaatsangehörige gelte, die Möglichkeit vorsehe, solche Maßnahmen zu verhängen, während die Richtlinie 2004/38, die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen anwendbar sei, insoweit keine Bestimmungen enthalte. Nach den Materialien zu den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Vorschriften stellten die Bestimmungen zur Vermeidung der Fluchtgefahr keine Umsetzung der Richtlinie 2008/115 in belgisches Recht dar, seien aber weitgehend dadurch inspiriert.

22      Unabhängig von der Natur der betreffenden Maßnahmen hätten Letztere zwangsläufig eine Auswirkung auf die Rechte und Freiheiten des betreffenden Unionsbürgers oder seines Familienangehörigen, da sie gerade den Zweck hätten, ihn an einer Flucht und somit daran zu hindern, sich gegebenenfalls in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, und schließlich seine erzwungene Ausreise aus dem belgischen Staatsgebiet sicherzustellen.

23      Zwar ergebe sich aus der auf das Urteil des Gerichtshofs vom 14. September 2017, Petrea (C‑184/16, EU:C:2017:684), zurückgehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das Unionsrecht dem Erlass einer Ausweisungsverfügung gegen einen Unionsbürger durch dieselben Behörden und nach demselben Verfahren wie eine Rückkehrentscheidung gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht entgegenstehe, wenn die Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38 in das nationale Recht für diesen Unionsbürger günstiger seien. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen zielten jedoch nicht darauf ab, die für den Erlass einer Ausweisungsverfügung gegen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen zuständige Behörde zu bestimmen, und enthielten auch keine Verfahrensvorschriften, sondern beträfen Beschränkungen der Grundrechte der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, die in der Richtlinie 2004/38 nicht vorgesehen seien.

24      Das vorlegende Gericht hegt daher Zweifel, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 über Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtgefahr im Falle der Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen entsprechend auf Unionsbürger anwendbar sind.

25      Zweitens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob mit dem Unionsrecht nationale Bestimmungen vereinbar sind, nach denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die einer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erlassenen Ausweisungsverfügung nicht nachgekommen sind, in Haft genommen werden dürfen, um den Vollzug dieser Entscheidung zu gewährleisten, insbesondere während eines Zeitraums von höchstens acht Monaten, wenn die Wahrung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit eine solche Unterbringung erfordert.

26      Die Kläger des Ausgangsverfahrens rügen, dass die betreffende nationale Bestimmung u. a. eine übermäßig lange und daher unverhältnismäßige Dauer der Haft und keine klaren Kriterien vorsehe, die es gestatteten, objektiv die Zeit zu bestimmen, die für die Durchführung der Ausweisungsverfügung notwendig sei, und zu bestimmen, worin eine sorgfältige Behandlung durch die mit der Durchführung dieser Verfügung betraute Behörde bestehe.

27      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die betreffende nationale Bestimmung für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen die Regelung des nationalen Rechts für Drittstaatsangehörige wiedergebe. Diese Bestimmung begründe somit eine Gleichbehandlung der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigen, insbesondere hinsichtlich der Höchstdauer der Inhaftnahme im Hinblick auf die Abschiebung des Betroffenen.

28      Außerdem stelle sich die Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung mit der Freizügigkeit vereinbar sei, die den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen in den Art. 20 und 21 AEUV sowie in der Richtlinie 2004/38 garantiert werde, aus denen abgeleitet werden könne, dass die Dauer der Inhaftnahme auf den Zeitraum beschränkt sei, der für die Durchführung der Ausweisungsverfügung unbedingt erforderlich sei.

29      Unter diesen Umständen hat die Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind das Unionsrecht und insbesondere die Art. 20 und 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die auf Unionsbürger und ihre Familienmitglieder ähnliche Bestimmungen anwenden wie diejenigen, die bezüglich Drittstaatsangehöriger die Umsetzung von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 darstellen, d. h. Bestimmungen, mit denen der Unionsbürger oder sein Familienmitglied gezwungen werden kann, sich an präventive Maßnahmen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr während der Frist, die ihm für das Verlassen des Staatsgebiets gewährt wurde, nachdem ein Beschluss zur Beendigung des Aufenthalts aus Gründen der öffentlichen Ordnung ergangen ist, oder während der Verlängerung dieser Frist zu halten?

2.      Sind das Unionsrecht und insbesondere die Art. 20 und 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die auf Unionsbürger und ihre Familienmitglieder, die sich nicht an einen Beschluss zur Beendigung des Aufenthalts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gehalten haben, die gleiche Bestimmung anwenden, die auf Drittstaatsangehörige in der gleichen Situation angewandt wird, was die Höchstdauer der Festhaltung zum Zweck der Ausweisung betrifft, d. h. acht Monate?

 Zu den Vorlagefragen

30      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen,

–        die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen innerhalb der ihnen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats nach einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung ergangenen Ausweisungsverfügung gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist Bestimmungen zur Vermeidung der Fluchtgefahr anwendet, die ähnlich jenen sind, die in Bezug auf Drittstaatsangehörige der Umsetzung von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 dienen sollen, und

–        die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach Ablauf der gesetzten Frist oder der Verlängerung dieser Frist einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergangenen Ausweisungsverfügung nicht nachgekommen sind, eine Haftmaßnahme für eine Höchstdauer von acht Monaten für Zwecke der Abschiebung anwendet, wobei diese Dauer gleich lang ist wie jene, die im nationalen Recht für Drittstaatsangehörige gilt, die einer nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 aus solchen Gründen erlassenen Rückkehrentscheidung nicht nachgekommen sind.

31      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit beschränken dürfen. Zwar betreffen die vorgelegten Fragen Sachverhalte, in denen eine Ausweisungsverfügung auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassen wurde, sie beziehen sich jedoch nicht auf die Prüfung einer solchen Entscheidung anhand des Unionsrechts, sondern die Prüfung von Maßnahmen zur Sicherstellung ihres Vollzugs.

32      Nach dieser Klarstellung ist im Hinblick auf die Beantwortung der Vorlagefragen erstens zu prüfen, ob die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Richtlinie 2004/38 von vornherein nationalen Vorschriften, die für den Vollzug einer gegen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen ergangenen Ausweisungsverfügung gelten, entgegenstehen, wenn sie sich inhaltlich mit den Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie 2008/115 über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in das nationale Recht decken oder diesen ähnlich sind. Ist dies nicht der Fall, wird zweitens zu prüfen sein, ob die in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen vorgesehenen spezifischen Maßnahmen Beschränkungen der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts darstellen können, und gegebenenfalls drittens geprüft werden müssen, ob solche Beschränkungen gerechtfertigt sein können.

 Zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften, die sich inhaltlich mit den für Drittstaatsangehörige geltenden decken oder ihnen ähnlich sind, auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen

33      Es ist darauf hinzuweisen, dass Kapitel VI der Richtlinie 2004/38 u. a. Vorschriften über die Ausweisung nur von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen enthält. Diese Richtlinie enthält jedoch weder genaue Bestimmungen darüber, welche Möglichkeit die Mitgliedstaaten haben, während der diesen Personen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtgefahr zu erlassen, noch darüber, ob die Betroffenen in Haft genommen werden können, wenn sie einer Ausweisungsverfügung nicht innerhalb dieser Frist oder deren Verlängerung nachgekommen sind.

34      In Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung ist es Sache der Mitgliedstaaten, Vorschriften vorzusehen, die es ihnen ermöglichen, Maßnahmen zur Sicherstellung der Durchführung einer auf Art. 27 der Richtlinie 2004/38 gestützten Ausweisungsverfügung zu erlassen, wenn keine Unionsvorschrift dem entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2017, Petrea, C‑184/16, EU:C:2017:684, Rn. 52).

35      Nur unter Beachtung dieser Voraussetzung können sich die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115, insbesondere ihrem Art. 7 Abs. 3 und ihren Art. 15 bis 18, leiten lassen, um zum einen Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtgefahr von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen während der ihnen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist zu erlassen und zum anderen Haftmaßnahmen zu ergreifen, wenn sie einer Ausweisungsverfügung nicht innerhalb dieser Frist oder deren Verlängerung nachgekommen sind.

36      Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie sieht nämlich für die Mitgliedstaaten die Möglichkeit vor, einem Drittstaatsangehörigen Verpflichtungen zur Vermeidung der Fluchtgefahr während der Frist für die freiwillige Ausreise aufzuerlegen, wobei die dort ausdrücklich aufgezählten Verpflichtungen in einer regelmäßigen Meldepflicht bei den Behörden, der Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, dem Einreichen von Papieren oder der Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, bestehen. Ebenso sieht ein gesamtes Kapitel dieser Richtlinie, nämlich ihr Kapitel IV („Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung“), das die Art. 15 bis 18 der Richtlinie enthält, die Möglichkeit vor, einen Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in Haft zu nehmen, und regelt detailliert die Garantien, die den Drittstaatsangehörigen sowohl hinsichtlich der Abschiebungsentscheidung als auch hinsichtlich der Haftentscheidung gewährt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2013, G. und R., C‑383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 31).

37      Insbesondere bestimmt Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie 2008/115 u. a., dass die Haftdauer sechs Monate nicht überschreiten darf, während Art. 15 Abs. 6 dieser Richtlinie vorsieht, dass die Mitgliedstaaten den in Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie genannten Zeitraum nicht verlängern dürfen; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder von Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum um höchstens zwölf Monate verlängern.

38      Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass der Zweck der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung darin besteht, den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen eine Ausweisungsregelung zu garantieren, die nicht weniger günstig ist als die für Drittstaatsangehörige geltende. Was speziell die nationalen Bestimmungen zur Verhinderung der Fluchtgefahr der betroffenen Person betrifft, so orientieren sie sich weitgehend an den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115. Die nationale Bestimmung über die Inhaftnahme des Betroffenen für die Zwecke der Abschiebung gibt die im nationalen Recht für Drittstaatsangehörige vorgesehene Regelung wieder und begründet damit eine Gleichbehandlung der Unionsbürger sowie ihrer Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigen, gegen die ein Rückführungsverfahren nach dieser Richtlinie anhängig ist, insbesondere hinsichtlich der im Hinblick auf die Abschiebung der betroffenen Person vorgesehenen Höchsthaftdauer.

39      Daher verstößt der bloße Umstand, dass der Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen des Vollzugs einer Ausweisungsverfügung für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen geltende nationale Regelungen vorsieht, die sich an jenen orientieren, die auf die Rückführung von Drittstaatsangehörigen anwendbar sind und der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 in nationales Recht dienen sollen, für sich genommen zwar nicht gegen das Unionsrecht. Solche Regelungen müssen jedoch mit dem Unionsrecht vereinbar sein. Dem Ersuchen des vorlegenden Gerichts an den Gerichtshof entsprechend sind diese Regelungen anhand der spezifischen Bestimmungen zu prüfen, die für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen im Bereich der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts gelten, nämlich die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38.

 Zum Vorliegen von Beschränkungen der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts

40      Was erstens die präventiven Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtgefahr für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen während der ihnen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist betrifft, ist festzustellen, dass sie in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit Ausnahme der Möglichkeit einer Zuweisung eines Aufenthaltsorts der betroffenen Person, wenn die Ausweisung vorübergehend aufgeschoben wird, nicht festgelegt sind. Im Übrigen ist der König befugt, diese Maßnahmen durch einen im Ministerrat beratenen Erlass zu bestimmen.

41      Aus dem Wortlaut der Vorlagefragen ergibt sich jedoch, dass die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang auferlegt werden können, den in Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen und in Rn. 36 des vorliegenden Urteils dargelegten Maßnahmen ähnlich sind. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass solche Maßnahmen, da sie gerade die Bewegungsfreiheit des Betroffenen einschränken sollen, zwangsläufig eine Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts des Betroffenen während der ihm für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats gesetzten Frist bewirken, insbesondere wenn der betroffenen Person ein Aufenthaltsort zugewiesen wird.

42      Was zweitens die Möglichkeit betrifft, den Unionsbürger und seine Familienangehörigen für eine Höchstdauer von acht Monaten für die Zwecke der Abschiebung in Haft zu nehmen, ist mit dem Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge festzustellen, dass eine solche Maßnahme schon ihrem Wesen nach eine Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts der betroffenen Person darstellt.

43      Zwar können sich Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergangenen Ausweisungsverfügung nach Ablauf der festgesetzten Frist oder der Verlängerung dieser Frist nicht nachgekommen sind, nicht auf ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats berufen, solange diese Entscheidung weiterhin Wirkungen entfaltet (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Wirkungen einer Ausweisungsverfügung], C‑719/19, Rn. 104). Das Vorliegen einer solchen Entscheidung ändert jedoch nichts am beschränkenden Charakter einer Haftmaßnahme, die die Bewegungsfreiheit der betroffenen Person über die sich aus der Ausweisungsverfügung selbst ergebenden Beschränkungen hinaus beschränkt, indem sie während der gesamten Haft der betroffenen Person deren Möglichkeiten einschränkt, sich außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats aufzuhalten und sich dort frei zu bewegen. Eine solche Haftmaßnahme stellt somit eine Beschränkung des Ausreiserechts nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dar, der ausdrücklich vorsieht, dass jeder Unionsbürger, der einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führt, das Recht hat, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben (Urteil vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 19).

44      Folglich ist davon auszugehen, dass nationale Bestimmungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, d. h. sowohl solche, die die Möglichkeit vorsehen, präventive Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtgefahr der betroffenen Person zu verhängen, als auch jene über die Höchstdauer ihrer Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung, Beschränkungen des in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV und in Art. 21 Abs. 1 AEUV verankerten und in der Richtlinie 2004/38 näher geregelten Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen darstellen.

 Zum Vorliegen von Rechtfertigungsgründen für die Beschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt

45      Zum etwaigen Vorliegen von Rechtfertigungsgründen für Beschränkungen wie die in der vorstehenden Randnummer festgestellten ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich bereits aus dem Wortlaut der Art. 20 und 21 AEUV ergibt, das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auf Aufenthalt in der Union nicht uneingeschränkt besteht, sondern den im AEU‑Vertrag und in den Bestimmungen zu seiner Durchführung vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Insoweit ist daran zu erinnern, dass die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen, wie sich aus den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils ergibt, von der Prämisse ausgehen, dass die Ausweisungsverfügung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erlassen wurde.

47      Daher sind hinsichtlich der Rechtssache des Ausgangsverfahrens die Maßnahmen zum Vollzug einer solchen Entscheidung, d. h. die Maßnahmen zur Vermeidung der Fluchtgefahr des Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen und die Haftmaßnahmen bis zu einer Höchstdauer von acht Monaten, im Hinblick auf Art. 27 der Richtlinie 2004/38 zu prüfen. Nach Art. 27 Abs. 2 dieser Richtlinie muss bei Maßnahmen, mit denen das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder eines seiner Familienangehörigen eingeschränkt wird, insbesondere solchen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein.

48      Was erstens die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen betrifft, mit denen die Gefahr einer Flucht der betroffenen Person während der ihr für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist verhindert werden soll, bezwecken diese Maßnahmen, wie aus Rn. 18 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Sicherstellung einer wirksamen Ausweisungspolitik für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen.

49      Eine Maßnahme, die in einem Fall wie dem in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten die Gefahr einer Flucht der betroffenen Person verhindern soll, trägt zwangsläufig zur Wahrung der öffentlichen Ordnung bei, da sie letztlich sicherstellen soll, dass eine Person, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung des Aufnahmemitgliedstaats darstellt, aus dessen Hoheitsgebiet ausgewiesen wird, so dass diese Maßnahme mit dem Gegenstand der Ausweisungsverfügung selbst zusammenhängt.

50      Im Übrigen spricht, wie die Europäische Kommission geltend macht, im Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nichts dagegen, dass die in dieser Bestimmung genannten Maßnahmen, die die Freizügigkeit und den Aufenthalt beschränken, während der dem Betroffenen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats nach einer gegen ihn ergangenen Ausweisungsverfügung gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist angewandt werden können.

51      Daher kann von Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtgefahr der betroffenen Person, wie sie Gegenstand der Vorlagefragen sind, angenommen werden, dass sie die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht „aus Gründen der öffentlichen Ordnung“ im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 beschränken, so dass sie grundsätzlich nach dieser Bestimmung gerechtfertigt sein können.

52      Außerdem können diese Maßnahmen nicht allein deshalb als gegen Art. 27 der Richtlinie 2004/38 verstoßend angesehen werden, weil sie jenen ähnlich sind, die in Bezug auf Drittstaatsangehörige der Umsetzung von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 in nationales Recht dienen sollen. In beiden Fällen besteht das Ziel der Maßnahmen nämlich darin, die Flucht der betroffenen Person zu verhindern und damit letztlich sicherzustellen, dass die gegen sie ergangene Ausweisungsverfügung oder Rückkehrentscheidung tatsächlich vollzogen wird.

53      Allerdings haben die Richtlinien 2004/38 und 2008/115 nicht nur einen jeweils anderen Gegenstand, sondern die Berechtigten der ersten Richtlinie genießen einen Status und Rechte ganz anderer Art als die Berechtigten der Richtlinie 2008/115.

54      Insbesondere verleiht die Unionsbürgerschaft, wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat und aus den Erwägungsgründen 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 hervorgeht, jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften festgelegten Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten, wobei die Freizügigkeit von Personen im Übrigen eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts darstellt und in Art. 45 der Charta verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, EU:C:2011:277, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Im Übrigen soll die Richtlinie 2004/38, wie sich aus ihrem dritten Erwägungsgrund ergibt, die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem AEU‑Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und bezweckt insbesondere, dieses Recht zu verstärken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, EU:C:2011:277, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Da außerdem die Freizügigkeit zu den Grundlagen der Europäischen Union gehört, sind die Bestimmungen, in denen sie verankert ist, weit, die Ausnahmen und Abweichungen von ihr dagegen eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juni 1986, Kempf, 139/85, EU:C:1986:223, Rn. 13, und vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 23).

57      In Anbetracht des grundlegenden Status der Unionsbürger dürfen Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtgefahr, die im Rahmen der Ausweisung dieser Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auferlegt werden können, nicht ungünstiger sein als die Maßnahmen, die im nationalen Recht vorgesehen sind, um die Gefahr zu vermeiden, dass Drittstaatsangehörige, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Rückkehrverfahren nach der Richtlinie 2008/115 anhängig ist, während der Frist für die freiwillige Ausreise fliehen (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2017, Petrea, C‑184/16, EU:C:2017:684, Rn. 51, 54 und 56). Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte scheint sich zwar zu ergeben, dass im vorliegenden Fall eine solche ungünstigere Behandlung nicht in Rede steht und sich diese beiden Personengruppen in Bezug auf eine Fluchtgefahr in einer vergleichbaren Situation befinden, doch ist diese Beurteilung Sache des vorlegenden Gerichts.

58      Schließlich ist, wie die Kommission vorträgt, bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zur Vermeidung der Fluchtgefahr im Einzelfall insbesondere die Art der Gefahr für die öffentliche Ordnung zu berücksichtigen, die den Erlass der Ausweisungsverfügung gegen die betroffene Person gerechtfertigt hat. Vermögen mehrere Maßnahmen das angestrebte Ziel zu erreichen, so sollte der am wenigsten einschränkenden Maßnahme der Vorzug gegeben werden.

59      Was zweitens die Möglichkeit betrifft, Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, falls sie aus dem Aufnahmemitgliedstaat nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist oder deren Verlängerung ausreisen sollten, für die Zwecke der Abschiebung für die Dauer von höchstens acht Monaten in Haft zu nehmen, was sich mit dem deckt, was im nationalen Recht für Drittstaatsangehörige gilt, gegen die ein Rückführungsverfahren nach der Richtlinie 2008/115 anhängig ist, so ist darauf hinzuweisen, dass es, wie den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, in den Vorlagefragen um den Fall von Unionsbürgern oder ihren Familienangehörigen geht, die einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergangenen Ausweisungsverfügung innerhalb der gesetzten Frist oder der Verlängerung dieser Frist nicht nachgekommen sind. Im Übrigen sieht die einschlägige Bestimmung des nationalen Rechts vor, dass Haft während eines Zeitraums von acht Monaten nur angewandt werden kann, wenn dies zur Wahrung der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit erforderlich ist. Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Begriff „nationale Sicherheit“ im Sinne dieser Bestimmung dem Begriff „öffentliche Sicherheit“ in Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 entspricht.

60      Auch wenn die nach der betreffenden nationalen Bestimmung vorgesehene Haft folglich auf Gründe gestützt zu sein scheint, die die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen gemäß Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 beschränken können, muss sie jedoch im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig sein. Dies impliziert die Prüfung, ob die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Haftdauer in angemessenem Verhältnis zu dem in den Rn. 18 und 48 des vorliegenden Urteils dargelegten Ziel steht, eine wirksame Ausweisungspolitik für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen sicherzustellen.

61      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung zwar die Umstände regelt, unter denen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen für eine Dauer von höchstens acht Monaten für die Zwecke der Abschiebung in Haft gehalten werden können, wobei hierfür verschiedene Verfahrensgarantien ausdrücklich vorgesehen sind.

62      Insbesondere geht aus den Erklärungen der belgischen Regierung hervor, dass die Dauer der Haft zunächst zwei Monate nicht überschreiten darf und ausdrücklich u. a. von der Bedingung abhängt, dass es keine anderen, weniger intensiven Zwangsmaßnahmen gibt, die wirksam angewandt werden könnten, um den Vollzug der Ausweisungsmaßnahme sicherzustellen. Die Möglichkeit, die Dauer dieser Haft um jeweils zwei Monate zu verlängern, hängt ebenfalls von mehreren Voraussetzungen ab, insbesondere davon, dass die für die Ausweisung des Betroffenen erforderlichen Schritte mit der gebotenen Sorgfalt unternommen werden und immer noch die Möglichkeit besteht, ihn innerhalb einer angemessenen Frist tatsächlich abzuschieben. Nach einer ersten Verlängerung kann der Beschluss, die Dauer der Haft der betroffenen Person zu verlängern, nur noch vom Minister gefasst werden. Schließlich kann, wenn der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen nach fünf Monaten freizulassen sind, die Haft der betroffenen Person um jeweils einen Monat verlängert werden, wenn dies zur Wahrung der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit erforderlich ist, wobei jedoch die Gesamtdauer der Haft acht Monate nicht überschreiten darf.

63      Weiter ergibt sich daraus, dass die Haft von Unionsbürgern oder ihren Familienangehörigen während eines Zeitraums von höchstens acht Monaten, der in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmung vorgesehen ist, eine individuelle Prüfung der spezifischen Situation der betroffenen Person erfordert, um sicherzustellen, dass diese Haft nicht über den Zeitraum hinausgeht, der für den Vollzug der gegen sie ergangenen Ausweisungsverfügung unbedingt erforderlich ist, und dass Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ihre Inhaftnahme rechtfertigen.

64      Die in dieser Weise in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Regelung rechtfertigt es jedoch nicht, eine Höchsthaftdauer wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende vorzusehen, die für die Zwecke der aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit angeordneten Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen gilt und sich mit jener deckt, die auf die Abschiebung von Drittstaatsangehörigen nach den zur Umsetzung der Richtlinie 2008/115 in nationales Recht erlassenen Bestimmungen anwendbar ist.

65      Was nämlich speziell die Dauer des Abschiebungsverfahrens betrifft, befinden sich Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die in dieser Eigenschaft in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38 fallen, nicht in einer Situation, die mit der von Drittstaatsangehörigen, die unter die Richtlinie 2008/115 fallen, vergleichbar wäre.

66      Insbesondere verfügen die Mitgliedstaaten, wie auch der Generalanwalt in Nr. 94 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, über Mechanismen der Zusammenarbeit und Möglichkeiten im Rahmen der Abschiebung eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen in einen anderen Mitgliedstaat, über die sie im Rahmen der Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen in ein Drittland nicht unbedingt verfügen. Wie nämlich die Kommission in der mündlichen Verhandlung zutreffend ausgeführt hat, dürften die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, die auf der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit und dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen, nicht zu gleichartigen Schwierigkeiten führen, wie sie bei der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern auftreten können.

67      Ebenso sollten die praktischen Schwierigkeiten bei der Organisation der Rückreise des Betroffenen im Fall der Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen im Allgemeinen nicht dieselben sein wie jene, die mit der Organisation der Rückreise von Drittstaatsangehörigen in ein Drittland einhergehen, insbesondere wenn diese Rückkehr in ein auf dem Luftweg schwer erreichbares Drittland erfolgen soll.

68      Im Übrigen dürfte die Zeit, die für die Feststellung der Staatsangehörigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, gegen die ein Ausweisungsverfahren nach der Richtlinie 2004/38 anhängig ist, benötigt wird, im Allgemeinen kürzer sein als die Zeit, die erforderlich ist, um die Staatsangehörigkeit illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, gegen die ein Rückkehrverfahren nach der Richtlinie 2008/115 anhängig ist, zu ermitteln. Die Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten machen nämlich nicht nur die Überprüfung der Staatsangehörigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen einfacher. Sind die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 auf eine Person anwendbar, bedeutet dies vielmehr grundsätzlich auch, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ebenfalls ausgeführt hat, dass diese Person bereits als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats oder als Familienangehöriger eines Unionsbürgers, dessen Staatsangehörigkeit bekannt ist, identifiziert worden ist.

69      Außerdem wird die Rückkehr des Unionsbürgers in das Hoheitsgebiet seines Herkunftsmitgliedstaats gegebenenfalls auch durch Art. 27 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 erleichtert, wonach der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, den Inhaber des Dokuments, der u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit aus einem anderen Mitgliedstaat ausgewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen lassen muss, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird.

70      Dem ist hinzuzufügen, dass, wie sich aus Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 ableitet, selbst im Fall der Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen nach der Richtlinie 2008/115 die Haftdauer für die Zwecke der Abschiebung sechs Monate nur in Fällen überschreiten darf, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz der angemessenen Bemühungen des Aufnahmemitgliedstaats aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder von Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird.

71      Unabhängig von der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Haft eines Drittstaatsangehörigen, gegen den ein Rückkehrverfahren nach der Richtlinie 2008/115 anhängig ist, während eines Zeitraums von höchstens acht Monaten als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen werden kann, ergibt sich aus den in der vorstehenden Randnummer dargelegten spezifischen Voraussetzungen, dass es gerade die praktischen Schwierigkeiten insbesondere im Zusammenhang mit der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen von Drittstaaten sind, die eine solche Haft im Fall der betroffenen Personen grundsätzlich rechtfertigen können.

72      Aus den Erwägungen in den Rn. 66 bis 71 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass sich Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die in dieser Eigenschaft unter die Richtlinie 2004/38 fallen, nicht in einer Situation befinden, die mit der von Drittstaatsangehörigen, gegen die ein Rückführungsverfahren nach der Richtlinie 2008/115 anhängig ist, hinsichtlich der Dauer des Abschiebungsverfahrens vergleichbar ist, so dass es nicht gerechtfertigt ist, all diese Personen in Bezug auf die Höchstdauer der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung gleich zu behandeln. Daraus folgt, dass eine Höchsthaftdauer für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die in dieser Eigenschaft unter die Richtlinie 2004/38 fallen, wie sie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung vorsieht, über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist.

73      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass

–        sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen innerhalb der ihnen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats nach einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung ergangenen Ausweisungsverfügung gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist Bestimmungen zur Verhinderung von Fluchtgefahr anwendet, die ähnlich jenen sind, die in Bezug auf Drittstaatsangehörige der Umsetzung von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 dienen sollen, sofern erstere Bestimmungen die allgemeinen Grundsätze nach Art. 27 der Richtlinie 2004/38 wahren und nicht weniger günstig sind als letztere Bestimmungen;

–        sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach Ablauf der gesetzten Frist oder der Verlängerung dieser Frist einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergangenen Ausweisungsverfügung nicht nachgekommen sind, eine Haftmaßnahme für eine Höchstdauer von acht Monaten für die Zwecke der Abschiebung anwendet, wobei diese Dauer gleich lang ist wie jene, die im nationalen Recht für Drittstaatsangehörige gilt, die einer aus solchen Gründen nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 erlassenen Rückkehrentscheidung nicht nachgekommen sind.

 Kosten

74      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sind dahin auszulegen, dass

–        sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen innerhalb der ihnen für das Verlassen des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats nach einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung ergangenen Ausweisungsverfügung gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist Bestimmungen zur Verhinderung von Fluchtgefahr anwendet, die ähnlich jenen sind, die in Bezug auf Drittstaatsangehörige der Umsetzung von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger dienen sollen, sofern erstere Bestimmungen die allgemeinen Grundsätze nach Art. 27 der Richtlinie 2004/38 wahren und nicht weniger günstig sind als letztere Bestimmungen;

–        sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach Ablauf der gesetzten Frist oder der Verlängerung dieser Frist einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergangenen Ausweisungsverfügung nicht nachgekommen sind, eine Haftmaßnahme für eine Höchstdauer von acht Monaten für die Zwecke der Abschiebung anwendet, wobei diese Dauer gleich lang ist wie jene, die im nationalen Recht für Drittstaatsangehörige gilt, die einer aus solchen Gründen nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 erlassenen Rückkehrentscheidung nicht nachgekommen sind.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.