Language of document : ECLI:EU:C:2024:6

Rechtssache C537/22

Global Ink Trade Kft.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék)

 Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 11. Januar 2024

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug – Verpflichtungen des Steuerpflichtigen – Sorgfaltspflicht – Beweislast – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit – Vorrang des Unionsrechts – Widerspruch zwischen der Rechtsprechung eines nationalen Gerichts und dem Unionsrecht“

1.        Unionsrecht – Vorrang – Entscheidungen des obersten Gerichts eines Mitgliedstaats, die im Widerspruch zur Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch den Gerichtshof stehen – Nationale Regelung, die die Gerichte dieses Mitgliedstaats verpflichtet, diese Entscheidungen zu beachten – Unzulässigkeit – Auslegung durch den Gerichtshof in Form eines mit Gründen versehenen Beschlusses gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung anstelle eines Urteils – Keine Auswirkung – Nationale Regelung, die die Gerichte dieses Mitgliedstaats verpflichtet, jede Abweichung von der Beurteilung des obersten Gerichts zu begründen – Zulässigkeit

(Art. 267 AEUV)

(vgl. Rn. 23-30, Tenor 1)

2.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug – Recht auf Vorsteuerabzug – Maßnahmen des Mitgliedstaats, die dazu dienen, eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden – Zulässigkeit – Voraussetzung – Achtung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit – Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht des Steuerpflichtigen in Bezug auf diese Maßnahmen – Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug

(Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a, Art. 273 Abs. 1)

(vgl. Rn. 35, 36, 41-46, 49, 50, 52, Tenor 2)

Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug – Versagung mit der Begründung, dass aufgrund von Betrügereien und Unregelmäßigkeiten keine tatsächlich bewirkte Lieferung von Gegenständen vorliege – Beweiserhebung – Rückgriff auf die Beweisregeln des nationalen Rechts – Grenze – Wahrung der Wirksamkeit des Unionsrechts

(vgl. Rn. 38)

Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug – Recht auf Vorsteuerabzug – Versagung wegen Beteiligung eines Steuerpflichtigen an einer Steuerhinterziehung – Mehrwertsteuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells – Beweisanforderungen – Steuerbehörde, die sich auf die Feststellung beschränkt, dass der betreffende Umsatz Teil von Karussellfakturierungen sei – Unzulässigkeit – Verpflichtungen, die die Steuerbehörde erfüllen muss, um die Steuerhinterziehung rechtlich hinreichend nachzuweisen – Genaue Bestimmung der Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung – Nachweis betrügerischer Handlungen und der aktiven Beteiligung an der Steuerhinterziehung

(vgl. Rn. 58, Tenor 3)

Zusammenfassung

Im Rahmen eines Rechtsstreits wegen der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug präzisiert der Gerichtshof die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts im Fall von Differenzen zwischen den nationalen Gerichten hinsichtlich der Konsequenzen, die aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, einschließlich der in Form von Beschlüssen nach Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, zu ziehen sind. Der Gerichtshof weist auch auf die Erkenntnisse seiner Rechtsprechung zur Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug hin.

Im Rahmen ihrer Großhandelstätigkeit erwarb das Unternehmen Global Ink Trade verschiedene Büromaterialien, v. a. bei einem Lieferer namens Office Builder Kft.

Infolge von Prüfungen gelangte die Steuerverwaltung zu der Auffassung, dass dieser Lieferer keine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt habe und seinen steuerlichen Pflichten nicht nachgekommen sei. Sie vertrat die Ansicht, wegen der unklaren tatsächlichen Identität dieses Lieferers hätten die der Global Ink Trade in Rechnung gestellten Lieferungen von Gegenständen nicht stattgefunden und seien die von Global Ink Trade vorgelegten Rechnungen daher nicht glaubhaft. Folglich versagte sie Global Ink Trade das Recht auf Abzug der in diesen Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuer u. a. mit der Begründung, dass Global Ink Trade bei der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt habe, indem sie es versäumt habe, sich ausreichend über die tatsächliche Identität ihres Lieferers und die Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten durch diesen zu informieren. Die Steuerverwaltung war in diesem Zusammenhang der Ansicht, Global Ink Trade habe sich der passiven Steuerhinterziehung schuldig gemacht.

Global Ink Trade erhob Klage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem vorlegenden Gericht.

Das vorlegende Gericht fühlt sich an die von der Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) zuvor in Anwendung der nationalen Regelung vorgenommenen rechtlichen Beurteilungen gebunden, die seiner Ansicht nach das Recht auf Vorsteuerabzug einschränken, indem sie jeden Steuerpflichtigen verpflichteten, komplexe und umfassende Überprüfungen in Bezug auf seine Lieferer vorzunehmen, u. a. dazu, ob diese ihren eigenen Verpflichtungen zur Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer nachgekommen seien.

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2006/112(1) vom Gerichtshof in ähnlichen Rechtssachen(2) ausgelegt worden seien, woraus hervorgehe, dass diese Prüfungen nicht dem Steuerpflichtigen auferlegt werden dürften, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausübe. Trotz dieser Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof wende die Kúria jedoch weiterhin ihre diesen Entscheidungen vorausgehende Rechtsprechung an, und zwar mit der Begründung, dass die Entscheidungen des Gerichtshofs, die in Form von Beschlüssen nach Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ergangen seien, keine neuen Gesichtspunkte für die Auslegung des Unionsrechts enthielten.

In diesem Zusammenhang wende auch die Steuerverwaltung weiterhin Anforderungen an, die sowohl mit den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof als auch mit von dieser Steuerverwaltung veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen unvereinbar seien.

Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht beschlossen, den Gerichtshof zu befragen, ob:

–        erstens der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die rechtlichen Beurteilungen eines höheren nationalen Gerichts für die Untergerichte, die verpflichtet sind, jede Abweichung von diesen Beurteilungen zu begründen, bindend sind, obwohl diese nationalen Untergerichte unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts der Auffassung sind, dass diese Beurteilungen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind;

–        zweitens Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis entgegenstehen, mit der die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug für den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen mit der Begründung versagt, dass Rechnungen für diese Erwerbe aufgrund von Umständen, die einen diesem Steuerpflichtigen zuzurechnenden Mangel an Sorgfalt belegen, nicht glaubhaft seien, wobei diese Umstände grundsätzlich anhand der von der Steuerverwaltung veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen beurteilt werden;

–        drittens die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass sie, wenn die Steuerverwaltung beabsichtigt, einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung zu versagen, dass dieser an einer Mehrwertsteuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells beteiligt gewesen sei, dem entgegensteht, dass sich die Steuerverwaltung auf die Feststellung beschränkt, dass dieser Umsatz Teil von Karussellfakturierungen sei, ohne alle an dieser Steuerhinterziehung beteiligten Akteure und deren jeweilige Handlungen anzugeben.

Würdigung durch den Gerichtshof

Was erstens die Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts betrifft, weist der Gerichtshof darauf hin, dass dieser Grundsatz das nationale Gericht verpflichtet, die rechtlichen Beurteilungen eines höheren nationalen Gerichts unberücksichtigt zu lassen, wenn es in Anbetracht der Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch den Gerichtshof der Auffassung ist, dass diese Beurteilung nicht dem Unionsrecht entspricht, indem es gegebenenfalls die nationale Vorschrift, die es verpflichtet, den Entscheidungen dieses höheren Gerichts nachzukommen, unangewendet lässt.

Um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, muss das nationale Gericht daher gegebenenfalls eine gefestigte Rechtsprechung abändern, die auf einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Auslegung des nationalen Rechts beruht, und eine Auslegung des Unionsrechts vornehmen, die sich aus einer klaren Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ohne dass es darauf ankommt, ob diese Rechtsprechung in Form eines mit Gründen versehenen Beschlusses gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung ergeht, da dieser dieselbe Tragweite und dieselbe Wirkung wie ein Urteil hat. Somit darf ein nationales Gericht einen Beschluss nicht mit der Begründung unberücksichtigt lassen, dass dieser anders als ein Urteil vermeintlich keine neuen Gesichtspunkte für die Auslegung des Unionsrechts enthalte.

Was zweitens die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug wegen angeblich mangelnder Sorgfalt des Steuerpflichtigen betrifft, stellt der Gerichtshof klar, dass eine solche Versagung nicht nur dann zulässig ist, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Mehrwertsteuerhinterziehung begeht, sondern auch dann, wenn objektiv feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit dem Erwerb der Gegenstände oder Dienstleistungen, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, an einem Umsatz teilnahm, der in eine solche Steuerhinterziehung einbezogen war.

Da die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts eine Ausnahme von dem Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, müssen die Steuerbehörden unter der Kontrolle der nationalen Gerichte die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige an einer solchen Steuerhinterziehung beteiligt ist, unter Beachtung der Beweisregeln des nationalen Rechts rechtlich hinreichend nachweisen.

In diesem Zusammenhang ist allein das vorlegende Gericht für die Beurteilung der Frage zuständig, ob der betreffende Steuerpflichtige in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hinreichend sorgfältig gehandelt und die Maßnahmen ergriffen hat, die von ihm vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass er sich mit seinem Erwerb nicht an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen war.

Insoweit können die Mitgliedstaaten Leitlinien erlassen, um das erforderliche Maß an Sorgfalt zu präzisieren und der Steuerverwaltung eine Orientierungshilfe für ihre Beurteilung zu geben, sofern diese Leitlinien das Recht auf Vorsteuerabzug und damit die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht systematisch in Frage stellen und die Wirksamkeit des Unionsrechts in Bezug auf die Beweiserhebung beim Mehrwertsteuerbetrug nicht beeinträchtigen.

Insbesondere kann die Steuerverwaltung in solchen Leitlinien vom Steuerpflichtigen nicht verlangen, dass er komplexe und umfassende Überprüfungen in Bezug auf seinen Lieferer vornimmt, und insbesondere prüft, ob dieser seinen Verpflichtungen zur Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer nachgekommen ist, was zur Folge hätte, dass die Durchführung von grundsätzlich der Steuerverwaltung obliegenden Kontrollmaßnahmen mittelbar auf diesen Steuerpflichtigen übertragen würde.

Zudem müssen solche Leitlinien mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang stehen. Somit hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die von der Steuerverwaltung veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen eindeutig formuliert waren, ob ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar war und ob die von der Steuerverwaltung bei der Ausübung ihrer Befugnisse angewandten Anforderungen nicht gegen diese Leitlinien verstießen.

Was drittens die Frage der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug gegenüber einem Steuerpflichtigen im Zusammenhang mit einer Mehrwertsteuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells anbelangt, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Steuerverwaltung genügend Beweise vorlegen muss, die es ermöglichen, das Vorliegen der Steuerhinterziehung und der betrügerischen Handlungen des Steuerpflichtigen objektiv festzustellen, was den Rückgriff auf Vermutungen oder Annahmen verbietet.

Folglich kann sich die Steuerverwaltung nicht auf den Nachweis beschränken, dass der vom Steuerpflichtigen bewirkte Umsatz Teil von Karussellfakturierungen sei. Der Nachweis der Steuerhinterziehung und der Beteiligung des Steuerpflichtigen an dieser Hinterziehung bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass alle an der Steuerhinterziehung beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären.


1      Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie)


2      Beschlüsse vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó (C‑610/19, EU:C:2020:673), und Crewprint (C‑611/19, EU:C:2020:674).