Language of document : ECLI:EU:C:2024:29

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 11. Januar 2024(1)

Rechtssache C20/23

SF

gegen

MV,

Instituto da Segurança Social IP,

Autoridade Tributária e Aduaneira,

Codifis SA – Sucursal em Portugal,

Beteiligter:

José da Costa Araújo als Insolvenzverwalter

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal da Relação do Porto [Berufungsgericht Porto, Portugal])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Richtlinie (EU) 2019/1023 – Insolvenzverfahren – Antrag auf Entschuldung – Ausschluss von Schulden bei der Finanzverwaltung und der Sozialversicherung – Erforderlichkeit einer Rechtfertigung“






I.      Einleitung

1.        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz)(2) sowie von Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(3).

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen SF, einer zahlungsunfähig gewordenen natürlichen Person (im Folgenden: Schuldner), und u. a. dem Instituto da Segurança Social IP (Sozialversicherungsanstalt, Portugal) und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) wegen eines von SF in seinem Insolvenzverfahren gestellten Antrags auf Entschuldung.

3.        Auf Ersuchen des Gerichtshofs werde ich mich in meiner Würdigung auf die zweite Vorlagefrage konzentrieren, also auf die Frage, ob die Mitgliedstaaten Steuer- und Sozialversicherungsforderungen von der vollen Entschuldung ausschließen können.

4.        Ich werde dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass die Mitgliedstaaten Steuer- und Sozialversicherungsforderungen von der in Art. 20 der Richtlinie 2019/1023 vorgesehenen vollen Entschuldung ausschließen können, indem sie sich auf Art. 23 Abs. 4 dieser Richtlinie stützen, sofern dies ausreichend gerechtfertigt ist, und dass sich diese Rechtfertigung im nationalen Recht auch an anderer Stelle als in der Regelung zur Umsetzung dieser Richtlinie befinden kann.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Art. 23 („Ausnahmeregelungen“) Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung ausschließen, den Zugang zur Entschuldung beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist festlegen, wenn solche Ausschlüsse, Beschränkungen oder längeren Fristen ausreichend gerechtfertigt sind, etwa im Falle von

a)      besicherten Schulden,

b)      aus strafrechtlichen Sanktionen entstandenen oder damit in Verbindung stehenden Schulden;

c)      aus deliktischer Haftung entstandenen Schulden,

d)      Schulden bezüglich Unterhaltspflichten, die auf einem Familien‑, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen,

e)      Schulden, die nach dem Antrag auf ein zu einer Entschuldung führendes Verfahren oder nach dessen Eröffnung entstanden sind, und

f)      Schulden, die aus der Verpflichtung, die Kosten des zur Entschuldung führenden Verfahrens zu begleichen, entstanden sind.“

B.      Portugiesisches Recht

1.      CIRE

6.        Im portugiesischen Rechtssystem wurde die Möglichkeit des Zugangs zur Entschuldung im Jahr 2004 im Rahmen des Insolvenzverfahrens für natürliche Personen durch das Decreto-Lei n.o 53/2004 (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 53/2004)(4) vom 18. März 2004 eröffnet, womit der Código da Insolvência e da Recuperação de Empresas (Insolvenz- und Unternehmenssanierungsordnung) (im Folgenden: CIRE) eingeführt wurde.

7.        Art. 235 CIRE, der den allgemeinen Grundsatz der Entschuldung aufstellt, bestimmt:

„Ist der Schuldner eine natürliche Person, so kann er unter den in diesem Kapitel genannten Voraussetzungen von den Insolvenzforderungen befreit werden, die im Insolvenzverfahren oder in den drei Jahren nach dessen Abschluss nicht vollständig erfüllt sind.“

8.        Speziell zum Bereich der Entschuldung bestimmt Art. 245 Abs. 2 Buchst. d CIRE in der Fassung des Decreto-Lei n.o 84/2019 (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 84/2019)(5) vom 28. Juni 2019, mit dem die Vorschriften für die Ausführung des Haushaltsplans 2019 festgelegt wurden, dass sich die Entschuldung nicht auf „Steuer- und Sozialversicherungsforderungen“ erstreckt.

9.        Im Jahr 2022 wurde durch die Lei n.o 9/2022 (Gesetz Nr. 9/2022)(6) vom 11. Januar 2022, mit der die Richtlinie 2019/1023 umgesetzt wurde, die Liste der von der Entschuldung ausgeschlossenen Schuldenkategorien nicht geändert; insbesondere blieb die Regelung für Schulden bei der Steuerverwaltung und der Sozialversicherung unverändert. In diesem Gesetz wurde keine Rechtfertigung für diesen Ausschluss eingeführt.

2.      LGT

10.      Rechtsgrundlage des portugiesischen Rechtsrahmens für die Steuerfestsetzung ist das Decreto-Lei n.° 398/98 (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 398/98)(7) vom 17. Dezember 1998, mit dem die Lei Geral Tributária (Allgemeines Steuergesetz) (im Folgenden: LGT) genehmigt wurde, die die allgemeinen Grundsätze des portugiesischen Steuerrechts und die Befugnisse der Steuerverwaltung sowie die Garantien der Steuerzahler festlegt und definiert.

11.      Art. 5 Abs. 1 und 2 LGT bestimmt:

„(1)      Ziel der Besteuerung ist es, den Finanzbedarf des Staates und anderer öffentlicher Einrichtungen zu decken und die soziale Gerechtigkeit, die Chancengleichheit und die erforderlichen Korrekturen von Ungleichheiten bei der Verteilung von Wohlstand und Einkommen zu fördern.

(2)      Die Besteuerung erfolgt im Einklang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit, der Gleichheit, der Gesetzmäßigkeit und der materiellen Gerechtigkeit.“

12.      Art. 30 Abs. 2 und 3 LGT lautet:

„(2)      Die Steuerschuld ist unabdingbar und die Voraussetzungen für ihre Herabsetzung oder ihr Erlöschen können nur unter Beachtung des Grundsatzes der Gleichheit und der Gesetzmäßigkeit der Steuer festgesetzt werden.

(3)      Die Bestimmungen des vorstehenden Absatzes haben Vorrang vor jeglicher Sondergesetzgebung.“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

13.      Mit rechtskräftigem Urteil vom 18. Juni 2018 wurde der Schuldner für zahlungsunfähig erklärt.

14.      Am 23. Januar 2019 erklärte das erstinstanzliche Gericht den Antrag des Schuldners auf Entschuldung vorläufig für zulässig.

15.      Am 29. Juli 2022 legte der Insolvenzverwalter eine abschließende Stellungnahme vor, in der er die Auffassung vertrat, dass dem Schuldner eine Entschuldung gewährt werden müsse.

16.      Am 3. Oktober 2022 wurde der Schuldner gemäß Art. 245 Abs. 2 CIRE von der Restschuld mit Ausnahme der Steuer- und Sozialversicherungsforderungen befreit.

17.      Der Schuldner legte gegen diese Entscheidung beim Tribunal da Relação do Porto (Berufungsgericht Porto, Portugal) ein Rechtsmittel ein. Zur Stützung seines Rechtsmittels machte er geltend, dass Art. 245 Abs. 2 CIRE nicht mit Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 vereinbar sei, da der Ausschluss von Steuer- und Sozialversicherungsforderungen von der Entschuldung entgegen dieser Bestimmung nicht „ausreichend gerechtfertigt“ sei.

18.      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass das Gesetz Nr. 9/2022, mit dem die Richtlinie 2019/1023 in nationales Recht umgesetzt worden sei, keine Rechtfertigung für den Ausschluss von Steuer- und Sozialversicherungsforderungen enthalte und dass eine solche Rechtfertigung auch im Entwurf dieses Gesetzes nicht in Betracht gezogen worden sei. Dieses Gericht weist darauf hin, dass es abgesehen von Zweifeln an der Vereinbarkeit von Art. 245 Abs. 2 CIRE mit dieser Richtlinie auch Zweifel hege, ob der in dieser Bestimmung vorgesehene Ausschluss den mit der Richtlinie und dem AEU-Vertrag verfolgten Zielen und der Wirksamkeit des Unionsrechts entgegenstehe.

19.      Unter diesen Umständen hat das Tribunal da Relação do Porto (Berufungsgericht Porto) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 dahin auszulegen, dass der Ausschluss von anderen (als den in den Unterabsätzen aufgeführten) Schulden nur zulässig ist, wenn er „ausreichend gerechtfertigt“ ist?

2.      Ist die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, bestimmte Schuldenkategorien von der Entschuldung auszuschließen (sofern ein solcher Ausschluss ausreichend gerechtfertigt ist, wie in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 vorgesehen), dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten erlaubt, (in der betreffenden Norm nicht aufgeführte) Steuerforderungen auszuschließen und sich damit selbst zu privilegieren?

3.      Falls diese Fragen bejaht werden, ist zu klären, welche Kriterien diesem Rechtfertigungserfordernis im Sinne des Unionsrechts genügen würden, damit sie (diese Rechtfertigungen) den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und dem Grundrechtsschutz, die der Unionsgesetzgeber und der nationale Gesetzgeber zu beachten haben („Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ [Art. 18 AEUV] und „unternehmerische Freiheit“ [Art. 16 der Charta] sowie die wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarktes), entsprechen.

4.      Falls diese Frage zu verneinen ist, ist zu klären, ob die Definition (im Sinne des Unionsrechts und für die Zwecke der Auslegung der Richtlinie 2019/1023) von „aus strafrechtlichen Sanktionen entstandenen oder damit in Verbindung stehenden Schulden“ und von „aus deliktischer Haftung entstandenen Schulden“ auch Steuerschulden umfasst, wie es im nationalen Gesetzgebungsakt zur Umsetzung [dieser] Richtlinie … (Gesetz Nr. 9/2022) vorgesehen ist.

20.      Der Schuldner, die Sozialversicherungsanstalt, die portugiesische und die spanische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

21.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Mitgliedstaaten bestimmte Schuldenkategorien, insbesondere Steuer- und Sozialversicherungsforderungen, von der Entschuldung ausschließen und sich damit selbst privilegieren können.

22.      Sowohl die Kommission als auch die portugiesische und die spanische Regierung erkennen in ihren Erklärungen an, dass die Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 nicht erschöpfend ist, da sie vorsieht, dass von der Entschuldung bestimmte Schuldenkategorien ausgeschlossen werden können, und zwar insbesondere sechs Schuldenkategorien, die im weiteren Verlauf dieses Absatzes aufgelistet werden.

23.      Zweifel könnten durch die ursprüngliche spanische Sprachfassung dieses Artikels entstanden sein, in der es hieß, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Schuldenkategorien „von der Entschuldung ausschließen [können], … im Falle von“(8). Diese Formulierung wurde jedoch durch „etwa im Falle von“(9) ersetzt, als diese Richtlinie berichtigt(10) und die spanische Fassung an die anderen Sprachfassungen angepasst wurde.

24.      Daher ist ohne zu zögern zu sagen: die Verwendung der Wendung „[d]ie Mitgliedstaaten können … von der Entschuldung ausschließen“ und des Adverbs „etwa“ bedeutet, dass die Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 sehr wohl eine nicht erschöpfende Liste von Schuldenkategorien darstellt, die von der Entschuldung ausgeschlossen werden können, und dass sie von den Mitgliedstaaten ergänzt werden kann. Dies wird durch den 81. Erwägungsgrund dieser Richtlinie in Verbindung mit den Erörterungen im Rat der Europäischen Union bekräftigt(11), woraus hervorgeht, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben sollten, in ausreichend gerechtfertigten Fällen andere Schuldenkategorien auszuschließen.

25.      Ganz allgemein ist hinsichtlich des Ermessensspielraums, über den die Mitgliedstaaten beim Ausschluss bestimmter Schuldenkategorien von der Möglichkeit der Entschuldung verfügen, zwischen dem Grundsatz des Ausschlusses einer Schuldenkategorie und den Voraussetzungen für diesen Ausschluss zu unterscheiden.

26.      Zum grundsätzlichen Ausschluss von Steuer- und Sozialversicherungsforderungen ist festzustellen, dass Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 sechs Arten von Schuldenkategorien aufzählt, die die Mitgliedstaaten von der Entschuldung ausschließen können oder für die sie den Zugang zur Entschuldung beschränken oder eine längere Entschuldungsfrist festlegen können. Es handelt sich um folgende Kategorien: besicherte Schulden, aus strafrechtlichen Sanktionen entstandene oder damit in Verbindung stehende Schulden, aus deliktischer Haftung entstandene Schulden, Unterhaltsschulden, Schulden, die nach der Einleitung oder Eröffnung des Entschuldungsverfahrens entstanden sind, und Schulden, die sich auf die Kosten dieses Verfahrens beziehen.

27.      In ihren Erklärungen macht die Kommission geltend, dass zwischen diesen verschiedenen Schuldenkategorien eine Kohärenz bestehe, die es rechtfertige, den Mitgliedstaaten, die aufgrund der Art der betreffenden Schuld Ausnahmen vom Grundsatz der vollen Entschuldung einführen wollten, kein vollständiges Ermessen einzuräumen.

28.      Diese Kohärenz sei auf die Sorge um materielle Gerechtigkeit zurückzuführen: erstens sollte sich der Schuldner den finanziellen Folgen von Handlungen, die nicht mit dem normalen Geschäftsleben zusammenhingen (Schulden aus familienrechtlicher, strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Haftung), nicht entziehen können. Zweitens könnten Schulden, die im Rahmen des Schuldenbereinigungsverfahrens oder später entstanden seien, nicht Gegenstand einer Entschuldung sein, um die Effizienz dieses Verfahrens zu gewährleisten. Drittens könnten auch besicherte Schulden ausgeschlossen werden, da sie speziell mit dem Ziel besichert worden seien, die Folgen einer Insolvenz zu vermeiden.

29.      Es gibt jedoch mehrere Gesichtspunkte, die gegen dieses Vorbringen sprechen.

30.      Zunächst sieht bereits der Wortlaut von Art. 23 der Richtlinie 2019/1023 eine Anpassung der Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der möglichen Ausschlüsse vom Grundsatz der vollen Entschuldung vor. Nach Abs. 1 müssen alle Mitgliedstaaten einen Ausschluss des unredlichen oder bösgläubigen Schuldners vorsehen. Dagegen heißt es in den Abs. 3 und 5, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten, genau aufgezählten Fällen längere Entschuldungsfristen bzw. längere Verbotsfristen festlegen können. Abs. 4, um dessen Auslegung ersucht wird, sieht wie Abs. 2 vor, dass die Mitgliedstaaten Ausnahmen vom Grundsatz der vollen Entschuldung vorsehen können, wenn sie ausreichend gerechtfertigt sind, wobei diese Möglichkeit durch eine nicht erschöpfende Liste von Beispielen veranschaulicht wird. Das Verfahren der vollen Entschuldung kann daher je nach den Entscheidungen der einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich funktionieren und einen sehr unterschiedlichen Umfang haben. Man kann daher schwerlich behaupten, dass es das Ziel der Harmonisierung dieses Entschuldungsverfahrens rechtfertigt, den Ausschluss bestimmter Schuldenkategorien von dieser Entschuldung grundsätzlich nicht zuzulassen.

31.      Sodann lässt sich aus den Diskussionen vor dem Erlass der Richtlinie 2019/1023 keineswegs ableiten, dass Steuer- und Sozialversicherungsforderungen nicht von der Entschuldung ausgeschlossen werden können. In dem Richtlinienvorschlag hieß es nämlich zu Art. 22 (jetzt Art. 23 der erlassenen Richtlinie) eindeutig, dass die Mitgliedstaaten „einen großen Ermessensspielraum bei der Festlegung von Einschränkungen in Bezug auf den Zugang zu Entschuldung und auf Entschuldungsfristen [haben], sofern diese Einschränkungen klar festgelegt und zum Schutz eines allgemeinen Interesses erforderlich sind“(12).

32.      Dieser Wille, den Mitgliedstaaten genügend Flexibilität einzuräumen, wurde in den Diskussionen im Rat bestätigt(13). Während der Verhandlungen innerhalb dieses Organs wurden Ausschlüsse von der Entschuldung ohne besondere Kommentare hinzugefügt(14) und es wurde klargestellt, dass die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften auch bestimmte Schuldenkategorien ausschließen können, ohne deren Art näher zu bestimmen(15). Am Ende der Verhandlungen im Rat gab Portugal eine Erklärung ab, worin zum einen festgestellt wurde, dass der Wortlaut im Wesentlichen ausreichend Flexibilität beinhalte, um den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, bestimmte Bestimmungen beizubehalten oder einzuführen, die die Möglichkeit einer steuerlichen Entschuldung ausschlössen oder beschränkten, weil solche Maßnahmen aufgrund der Besonderheit von Steuerschulden als ausreichend gerechtfertigt anzusehen seien, und zum anderen, dass sich Portugal diesen Standpunkt hinsichtlich der Regelung des Zugangs zur Löschung von Steuerschulden vorbehalten möchte, wenn es die Richtlinie umsetze(16).

33.      Der um Stellungnahme ersuchte Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments schlug dem mit der Sache befassten Rechtsausschuss vor, einen Erwägungsgrund und einen Absatz zu ändern und die ausdrückliche Möglichkeit des Ausschlusses öffentlich-rechtlicher Forderungen vorzusehen und dabei den Mitgliedstaaten aufzugeben, das notwendige Gleichgewicht zwischen dem Allgemeininteresse und der Förderung des Unternehmertums zu berücksichtigen(17).

34.      Schließlich ist offensichtlich, dass es sich bei der Richtlinie 2019/1023 um eine Richtlinie zur Mindestharmonisierung in Bezug auf die volle Entschuldung handelt, deren Ziel die Schaffung eines solchen Verfahrens in jedem Mitgliedstaat und nicht die Schaffung eines harmonisierten Entschuldungsverfahrens ist. Die Verhandlungen boten den Mitgliedstaaten die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass dieses Verfahren, ob es nun für die einzelnen Mitgliedstaaten neu war oder nicht, ausreichend angepasst werden muss, damit nicht in effizient funktionierende nationale Systeme eingegriffen wird, da ein solches Verfahren in einem Zusammenhang mit anderen Bereichen des nationalen Rechts steht und die Wirtschaftslage und die rechtlichen Strukturen vor Ort von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind(18).

35.      In Bezug auf die Voraussetzungen für den Ausschluss einer Schuldenkategorie sieht Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 vor, dass die „Ausschlüsse, Beschränkungen oder längeren Fristen ausreichend gerechtfertigt“ sein müssen. Folglich ist der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten zwar hinsichtlich der Art der bestimmten Schuldenkategorien, die ausgeschlossen werden können, nicht begrenzt, wohl aber hinsichtlich der Rechtfertigung, die sie für diesen Ausschluss anführen müssen.

36.      Außerdem haben die Mitgliedstaaten von diesem Ermessensspielraum Gebrauch gemacht, um bestimmte Kategorien von Forderungen auszuschließen, die nicht in der Liste in Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 aufgeführt sind. In Frankreich sind von der Entschuldung u. a. Forderungen von Arbeitnehmern und Forderungen aus Klagen auf Vermögenswerte, die im Rahmen eines während des Verfahrens eröffneten Nachlasses erworben werden, ausgeschlossen(19). In den Niederlanden sind u. a. Forderungen im Zusammenhang mit Studiendarlehen ausgeschlossen(20). In Spanien sind u. a. Forderungen von Arbeitnehmern und öffentlich-rechtliche Forderungen ausgeschlossen(21).

37.      Mit der Formulierung „sich damit selbst zu privilegieren“ meint das vorlegende Gericht offenbar, dass die Portugiesische Republik dadurch, dass sie es ablehnt, sich selbst bei der Behandlung der vollen Entschuldung die gleiche Behandlung wie den anderen Gläubigern angedeihen zu lassen, die Gläubiger ungleichbehandelt, da sie Steuer- und Sozialversicherungsforderungen von dieser Entschuldung ausschließt. Im Kollektivverfahren, dem ein Verfahren der vollen Entschuldung wegen seiner Auswirkungen auf die Gläubiger gleichgestellt werden kann, wird aber nicht die Gleichbehandlung aller Gläubiger angestrebt, sondern die Gleichbehandlung der Gläubiger, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. So sieht Art. 10 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2019/1023 in Bezug auf die Restrukturierung vor, dass Gläubiger mit ausreichenden gemeinsamen Interessen gleich und im Verhältnis zu ihren Forderungen behandelt werden. Ebenso heißt es im 52. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten infolge des Kriteriums des Gläubigerinteresses vorsehen könnten, dass der Plan keinen vollständigen oder teilweisen Erlass der ausstehenden Forderungen von öffentlichen institutionellen Gläubigern, die nach nationalem Recht einen privilegierten Status genießen, vorschreiben kann. Im 44. Erwägungsgrund der Richtlinie wird darauf hingewiesen, dass zum einen gewährleistet sein muss, dass im Wesentlichen ähnliche Rechte fair behandelt werden und dass Restrukturierungspläne angenommen werden können, ohne die Rechte betroffener Parteien in unangemessener Weise zu beeinträchtigen, wobei die betroffenen Parteien in unterschiedlichen Klassen behandelt werden sollten, die den Kriterien für die Klassenbildung nach nationalem Recht entsprechen, und dass zum anderen Mitgliedstaaten auch gesonderte Klassen für andere Arten von Gläubigern ohne ausreichende gemeinsame Interessen schaffen können sollten, wie Steuerbehörden oder Sozialversicherungsträger.

38.      Diese Regeln stehen im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unternehmerischen Freiheit, die durch Art. 16 der Charta geschützt ist. Er hat nämlich entschieden, dass es zwar zutrifft, dass die Verfassungsordnung aller Mitgliedstaaten das Eigentum schützt und in ähnlicher Weise die Freiheit der Arbeit, des Handels und anderer Berufstätigkeiten gewährleistet. Die so garantierten Rechte sind aber weit davon entfernt, uneingeschränkt Vorrang zu genießen; sie müssen im Hinblick auf die soziale Funktion der geschützten Rechtsgüter und Tätigkeiten gesehen werden. Aus diesem Grunde werden Rechte dieser Art in der Regel nur unter dem Vorbehalt von Einschränkungen geschützt, die im öffentlichen Interesse liegen(22).

39.      Indem die Portugiesische Republik Steuer- und Sozialversicherungsforderungen vom Verfahren der vollen Entschuldung ausschließt, beeinträchtigt sie daher per se weder die Gleichbehandlung der Gläubiger, wie sie in diesem Bereich durchzuführen ist, noch die unternehmerische Freiheit.

40.      Zu den Modalitäten der Rechtfertigung dieses Ausschlusses vertritt die Kommission die Auffassung, dass in diesem Zusammenhang keine Pro-forma-Erklärung ausreiche und dass der portugiesische Gesetzgeber diesen Ausschluss von Steuer- und Sozialversicherungsforderungen nicht gerechtfertigt habe, auch nicht rein formal.

41.      Wie ich jedoch zuvor ausgeführt habe, hat Portugal bei den Verhandlungen im Rahmen der Richtlinie 2019/1023 eine genaue Erklärung zum Ausschluss von Steuerforderungen abgegeben(23). Im Übrigen weist die portugiesische Regierung in ihren Erklärungen darauf hin, dass zum einen Art. 103 Abs. 1 der Constituição da República Portuguesa (Verfassung der Portugiesischen Republik) vorsehe, dass es das Ziel des portugiesischen Steuersystems sei, den Finanzbedarf des Staates und anderer öffentlicher Einrichtungen zu decken und die Einkommen sowie den Wohlstand fair zu verteilen, und dass zum anderen die Art. 5 und 30 LGT Regeln und Grundsätze für die Rechtfertigung dieses Ausschlusses festlegten, wie die Deckung des Finanzbedarfs des Staates, die Förderung der sozialen Gerechtigkeit und der Chancengleichheit sowie die erforderlichen Korrekturen von Ungleichheiten bei der Verteilung von Wohlstand und Einkommen unter Wahrung der Grundsätze der Allgemeinheit, der Gleichheit, der Gesetzmäßigkeit, der materiellen Gerechtigkeit und der Unabdingbarkeit der Steuerschuld.

42.      Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 sagt nichts über die Form der erforderlichen Rechtfertigung, doch wird im 81. Erwägungsgrund klargestellt, dass im nationalen Recht ein ausreichend begründeter Grund vorliegen muss. Meines Erachtens ist es nicht erforderlich, dass die Rechtfertigung in dem Rechtsakt zur Umsetzung dieser Richtlinie selbst zu finden ist, wenn sie bereits in den nationalen Rechtsvorschriften (Verfassung, Gesetz, Verordnung) enthalten ist oder im Rahmen der Verhandlungen über diese Richtlinie genannt wurde, was das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller anwendbaren Rechtsvorschriften und ihrer Kohärenz zu prüfen haben wird.

43.      Im Ergebnis ist festzustellen, dass es sich bei der Richtlinie 2019/1023 um eine Richtlinie zur Mindestharmonisierung handelt, deren Ziel darin besteht, in jedem Mitgliedstaat ein Entschuldungsverfahren einzuführen, dessen Konturen hinsichtlich der Art der Forderungen, die davon ausgeschlossen werden können, weitgehend auf den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten verweisen, sofern die Ausschlüsse – auch außerhalb des Umsetzungsrechtsakts – ausreichend gerechtfertigt sind.

44.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof die folgende Antwort vor: Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1023 ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltene Liste nicht erschöpfend ist und dass bestimmte andere Schuldenkategorien als die in dieser Liste aufgeführten Gegenstand einer Entschuldung, einer beschränkten Entschuldung oder einer längeren Entschuldungsfrist sein können, sofern dies im nationalen Recht – auch außerhalb der Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie – ausreichend gerechtfertigt ist.

V.      Ergebnis

45.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Tribunal da Relação do Porto (Berufungsgericht Porto, Portugal) wie folgt zu beantworten:

Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz)

ist dahin auszulegen, dass

die darin enthaltene Liste nicht erschöpfend ist und dass bestimmte andere Schuldenkategorien als die in dieser Liste aufgeführten Gegenstand einer Entschuldung, einer beschränkten Entschuldung oder einer längeren Entschuldungsfrist sein können, sofern dies im nationalen Recht – auch außerhalb der Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie – ausreichend gerechtfertigt ist.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2019, L 172, S. 18.


3      Im Folgenden: Charta.


4      Diário da República, Serie I-A, Nr. 66 vom 18. März 2004.


5      Diário da República, Serie I, Nr. 122 vom 28. Juni 2019.


6      Diário da República, Serie I, Nr. 7 vom 11. Januar 2022.


7      Diário da República, Serie I-A, Nr. 290 vom 17. Dezember 1998.


8      „en los siguientes casos“.


9      „como en los siguientes casos“.


10      ABl. 2022, L 43, S. 94.


11      Vgl. Vermerk des Vorsitzes vom 16. Mai 2018 an den Ausschuss der Ständigen Vertreter zum Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU – Partielle allgemeine Ausrichtung (Dokument 8830/18 ADD 1), insbesondere Fn. 14, wonach in den Erwägungsgründen präzisiert werden soll, dass Art. 22 Abs. 1 und 3 (jetzt Art. 23 Abs. 2 und 4 der erlassenen Richtlinie) nicht erschöpfend sind.


12      Vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU (COM[2016] 723 final), S. 26.


13      Vgl. Rn. 5 des Vermerks des Vorsitzes vom 19. Mai 2017 an den AStV/Rat zum Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU – Orientierungsaussprache (Dokument 9316/17): „Die Ziele des Vorschlags sind während des informellen Treffen des Rates (Justiz und Inneres) am 27. Januar 2017 bei den Ministerinnen und Ministern grundsätzlich auf breite Unterstützung gestoßen. In den während dieses Treffens geführten Gesprächen wurde hervorgehoben, wie wichtig es sei, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den Interessen von Schuldnern und Gläubigern herzustellen und ein gewisses Maß an Flexibilität einzuräumen, damit nicht in effizient funktionierende nationale Systeme eingegriffen wird. Bei den Beratungen in der Gruppe ‚Zivilrecht‘ (Insolvenz) hat sich gezeigt, dass die Ziele des Vorschlags allgemeine Zustimmung finden. Die Delegationen haben jedoch auch betont, dass die vorgeschlagene Richtlinie wegen des Zusammenhangs mit anderen Bereichen des nationalen Rechts sehr komplex sei und dass deswegen den Mitgliedstaaten genügend Flexibilität eingeräumt werden müsse, damit sie die Vorschriften der [Union] an die Wirtschaftslage und die rechtlichen Strukturen vor Ort anpassen können.“


14      Vgl. Vermerk des bulgarischen Vorsitzes und des künftigen österreichischen Vorsitzes vom 16. März 2018 an die Gruppe „Zivilrecht“ (Insolvenz) zum Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU – Überarbeitete Fassung der Artikel 19, 20 und 22 des Titels III und zugehörige Begriffsbestimmungen (Dokument 7150/18), S. 6.


15      Vgl. Vermerk des Vorsitzes vom 24. Mai 2018 an den Rat zum Vorschlag für eine Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU – Partielle allgemeine Ausrichtung (Dokument 9236/18 ADD 1), S. 9.


16      Vgl. Vermerk des Generalsekretärs des Rates vom 21. Mai 2019 an den Ausschuss der Ständigen Vertreter/Rat zum Entwurf einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (erste Lesung) – Annahme des Gesetzgebungsakts – Erklärungen (Dokument 9170/2/19 REV 2 ADD 1), S. 1 und 2.


17      Vgl. Stellungnahme des Ausschusses für Wirtschaft und Währung vom 7. Dezember 2017 an den Rechtsausschuss zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, Verfasser der Stellungnahme: Enrique Calvet Chambon, Änderungsvorschläge 22 und 94.


18      Vgl. Fn. 13 der vorliegenden Schlussanträge.


19      Vgl. Art. L. 645-11 des französischen Handelsgesetzbuchs.


20      Vgl. Art. 299a des Faillissementswet (Konkursgesetz).


21      Vgl. Art. 489 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 der Ley 22/2003 Concursal (Konkursgesetz 22/2003).


22      Vgl. Urteil vom 14. Mai 1974, Nold/Kommission (4/73, EU:C:1974:51, Rn. 14).


23      Vgl. Fn. 16 der vorliegenden Schlussanträge.