Language of document : ECLI:EU:C:2022:543

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 7. Juli 2022(1)

Rechtssache C166/21

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Verbrauchsteuern auf Ethylalkohol und alkoholische Getränke – Richtlinie 92/83/EWG – Befreiung von der harmonisierten Steuer – Art. 27 Abs. 1 Buchst. d – Zur Herstellung von Arzneimitteln verwendeter Alkohol – Art. 27 Abs. 6 – Voraussetzung der Beförderung eines Erzeugnisses im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung – Verhältnismäßigkeit – Beweislast“






I.      Einleitung

1.        Nach Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83/EWG vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke(2) ist Ethylalkohol, der zur Herstellung von Arzneimitteln verwendet wird, von der Verbrauchsteuer befreit.

2.        Zur einfachen Anwendung dieser Steuerbefreiung sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch macht die Republik Polen diese Steuerbefreiung von der Voraussetzung abhängig, dass das vorgenannte Erzeugnis in einem Verfahren der Steueraussetzung befördert wird(3).

3.        Die Europäische Kommission ist der Ansicht, dass diese Voraussetzung mit Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 unvereinbar sei und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, da sie den einzigen Weg darstelle, auf dem diese Steuerbefreiung in Anspruch genommen werden könne. Sie hat daher gegen die Republik Polen ein Verfahren nach Art. 258 AEUV mit dem Antrag auf Feststellung eingeleitet, dass dieser Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen habe.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Die Erwägungsgründe 19, 20, 22 und 23 der Richtlinie 92/83 lauten:

„Auf Gemeinschaftsebene ist festzulegen, welche Befreiungen auf Waren, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen verbracht werden, anwendbar sind.

Den Mitgliedstaaten kann jedoch die Möglichkeit eingeräumt werden, Befreiungen für Waren, die in ihrem Hoheitsgebiet ihrer endgültigen Verwendung zugeführt werden, anzuwenden.

Den Mitgliedstaaten darf nicht die Möglichkeit genommen werden, [Steuerflucht], Steuerhinterziehung oder Missbrauch im Zusammenhang mit Steuerbefreiungen gegebenenfalls zu bekämpfen.

Den Mitgliedstaaten sollte gestattet werden, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen im Wege einer Rückerstattung zu regeln.“

5.        Nach Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 erheben die Mitgliedstaaten nach Maßgabe dieser Richtlinie eine Verbrauchsteuer auf Ethylalkohol(4).

6.        Abschnitt VII („Steuerbefreiungen“) der Richtlinie 92/83 bestimmt in Art. 27 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 6:

„(1)      Die Mitgliedstaaten befreien die von dieser Richtlinie erfassten Erzeugnisse von der harmonisierten Verbrauchsteuer nach Maßgabe von Bedingungen, die sie zur Sicherstellung einer korrekten und einfachen Anwendung solcher Steuerbefreiungen sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch festlegen, sofern die betreffenden Erzeugnisse

d)      zur Herstellung von Arzneimitteln im Sinne der Richtlinie 65/65/EWG verwendet werden;

(6)      Es steht den Mitgliedstaaten frei, die vorgenannten Steuerbefreiungen im Wege einer Verbrauchsteuerrückerstattung zu regeln.“

B.      Polnisches Recht

7.        Nach Art. 30 Abs. 9 Nr. 4 der Ustawa o podatku akcyzowym (Verbrauchsteuergesetz) vom 6. Dezember 2008 (Dz. U. 2009, Nr. 254, Position 11) in ihrer konsolidierten Fassung (Dz. U. 2019, Position 864) (im Folgenden: Verbrauchsteuergesetz) „[wird] von der Verbrauchsteuer … Ethylalkohol, der in Arzneimitteln im Sinne der [Ustawa – Prawo farmaceutyczne (Arzneimittelgesetz)] vom 6. September 2001 enthalten ist, [befreit]“.

8.        Soweit für die vorliegenden Schlussanträge relevant, bestimmt Art. 32 des Verbrauchsteuergesetzes:

„1.      Die folgenden verbrauchsteuerpflichtigen Waren sind aufgrund ihres Bestimmungszwecks von der Verbrauchsteuer befreit:

3.      Die Befreiung von der Verbrauchsteuer nach Absatz 1 gilt für die betreffenden Erzeugnisse nur in folgenden Fällen:

1)      Abgabe an den Verwender aus einem Steuerlager im Inland oder

4)      innergemeinschaftlicher Erwerb durch einen registrierten Empfänger, sofern nicht dieser Empfänger über eine Zulassung für den einmaligen Erwerb verbrauchsteuerpflichtiger Waren als registrierter Empfänger zur Verwendung durch diesen Empfänger als Verwender verfügt, oder

8)      Verwendung durch den Betreiber des Steuerlagers als Verwender oder

….

4.      Ebenfalls aufgrund ihres Bestimmungszwecks von der Verbrauchsteuer befreit sind:

3)      alkoholische Getränke, die verwendet werden:

b)      zur Herstellung von Arzneimitteln im Sinne von Art. 30 Abs. 9 Nr. 4,

–      dies gilt nur in den Fällen des Abs. 3 Nrn. 1, 4 oder 8, wenn die Voraussetzungen der Abs. 5 bis 6b, 12 und 13 erfüllt sind …

5.      Die Befreiung von der Verbrauchsteuer aufgrund des Bestimmungszwecks der verbrauchsteuerpflichtigen Waren hängt ferner von folgenden Voraussetzungen ab:

1)      Die unter die Steuerbefreiung fallenden verbrauchsteuerpflichtigen Waren sind von der Sicherheitsleistung für die Verbrauchsteuer oder, soweit es sich um Einfuhren handelt, von einer nach Maßgabe der Sicherheitsleistung für Zölle nach den zollrechtlichen Bestimmungen erbrachten Sicherheit abgedeckt, die von dem Betreiber des Steuerlagers, dem Vermittler oder dem registrierten Empfänger (sofern nicht der Letztere über eine Zulassung für den einmaligen Erwerb verbrauchsteuerpflichtiger Waren als registrierter Empfänger verfügt) bis zur Höhe der Steuerschuld geleistet worden ist, die sich aus derjenigen Verwendung der betreffenden Waren ergibt, die nicht dem verbrauchsteuerbefreiten Zweck entspricht, oder die sich daraus ergibt, dass die Voraussetzungen für die Befreiung erst erfüllt sind, wenn der Empfang der verbrauchsteuerpflichtigen Waren entweder durch den Verwender oder den Vermittler bestätigt worden ist; diese Voraussetzung gilt nicht in den Fällen des Abs. 3 Nrn. 4 oder 8;

2)      die verbrauchsteuerpflichtigen Waren befinden sich aufgrund eines e-DD [elektronischer Frachtbrief] oder eines den e-DD ersetzenden Dokuments im Verkehr, und dieser endet nach Art. 46b Abs. 2 und innerhalb des Zeitraums nach Art. 46b Abs. 3;

…“

9.        Art. 40 Abs. 1 des Verbrauchsteuergesetzes bestimmt:

„Das Verfahren der Verbrauchsteueraussetzung findet Anwendung auf:

1)      verbrauchsteuerpflichtige Waren, die

a)      sich in einem Steuerlager befinden, auch nachdem sie vom Vermittler oder Verwender dorthin zurück verbracht worden sind,

b)      sich im Verkehr zwischen im Inland belegenen Steuerlagern befinden,

c)      sich zum Zweck ihrer Ausfuhr im Verkehr zwischen einem im Inland belegenen Steuerlager und einer im Inland belegenen Zollstelle befinden, die ihre tatsächliche Verbringung aus dem Gebiet der Europäischen Union überwacht,

d)      die sich im Verkehr zwischen dem im Inland belegenen Steuerlager und dem Verbrauchsteuerpflichtigen, der die Befreiung von der Verbrauchsteuer nach Art. 31 Abs. 1 in Anspruch nimmt, befinden;

…“

III. Vorverfahren und Anträge

10.      Die Kommission richtete am 8. Dezember 2016 ein förmliches Mahnschreiben an die Republik Polen, mit dem sie geltend machte, dass bestimmte Vorschriften des Verbrauchsteuergesetzes gegen Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstießen. In ihrer Erwiderung vom 7. Februar 2017 erläuterte die Republik Polen, warum sie mit der Ansicht der Kommission nicht übereinstimme.

11.      Die Kommission übermittelte der Republik Polen am 7. Juni 2019 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie ihre im Mahnschreiben dargelegte Ansicht wiederholte. Mit dem Schreiben wurde dieser Mitgliedstaat aufgefordert, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sein nationales Recht mit dieser Stellungnahme in Einklang zu bringen. Mit Schreiben an die Kommission vom 31. Juli 2019 hielt die Republik Polen an ihrer Ansicht fest.


IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

12.      Die Kommission hat am 30. Oktober 2020 die vorliegende Klage erhoben. Sie beantragt, festzustellen, dass die Republik Polen gegen ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, und ihr die Kosten aufzuerlegen. In ihrer Klagebeantwortung beantragt die Republik Polen, die Klage als unbegründet abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

13.      Die Tschechische Republik ist am 22. Juli 2021 als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Republik Polen zugelassen worden. Die Parteien haben in der Sitzung vom 4. Mai 2022 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

V.      Vorbringen der Beteiligten

A.      Kommission

14.      Die Kommission geht von dem Ausgangspunkt aus, dass das Ziel der Steuerbefreiungen nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 darin bestehe, die Auswirkungen der Verbrauchsteuern auf Ethylalkohol als bei der Herstellung anderer Erzeugnisse verwendeten Zwischenbestandteil zu neutralisieren. Die Anwendung dieser Steuerbefreiungen durch die Mitgliedstaaten hänge somit von der endgültigen Verwendung der betreffenden Ware ab(5).

15.      Die Kommission erkennt an, dass Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 in Verbindung mit ihrem 22. Erwägungsgrund ausdrücklich vorsehe, dass die Mitgliedstaaten Bedingungen zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der in dieser Bestimmung geregelten Steuerbefreiungen sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch festlegen könnten. Sie hebt jedoch hervor, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei den von Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 erfassten Erzeugnissen die Steuerbefreiung die Regel und die Versagung einer solchen Befreiung die Ausnahme sei. Die Ausübung der den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung eingeräumten Befugnis könne die Unbedingtheit der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befreiungsverpflichtung nicht in Frage stellen(6).

16.      Daraus ergebe sich, dass es bei der Ausübung der durch Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 gewährten Befugnis den Mitgliedstaaten obliege, die konkreten, objektiven und nachprüfbaren Anhaltspunkte anzuführen, die für das Vorliegen einer ernst zu nehmenden Gefahr von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch sprächen, und dass die festgelegten Bedingungen nicht über das zur Erreichung der in dieser Bestimmung genannten Ziele Erforderliche hinausgehen dürften(7). Folglich dürften die Mitgliedstaaten die Anwendung der Steuerbefreiung nach Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 nicht von der Einhaltung von Bedingungen abhängig machen, für die nicht aufgrund konkreter, objektiver und nachprüfbarer Anhaltspunkte erwiesen sei, dass sie zur Sicherstellung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Steuerbefreiung sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch erforderlich seien.

17.      Nach polnischem Recht könne die Steuerbefreiung nach Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 nur in Anspruch genommen werden, wenn das betreffende Erzeugnis im Rahmen eines Verfahrens der Verbrauchsteueraussetzung befördert werde. Diese Bedingung entziehe Wirtschaftsteilnehmern, die Ethylalkohol bei der Herstellung von Arzneimitteln verwendeten, den Vorteil dessen, was als eine bedingungslose Befreiung anzusehen sei, soweit dieses Erzeugnis von ihnen nicht im Rahmen eines Verfahrens der Verbrauchsteueraussetzung befördert werde. Die Republik Polen habe nicht durch konkrete, objektive und nachprüfbare Anhaltspunkte dargetan, dass die Voraussetzung der Anwendung eines Verfahrens der Steueraussetzung erforderlich sei, um eine korrekte und einfache Anwendung der Befreiung sicherzustellen und Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch zu vermeiden.

18.      Außerdem verstoße das Verfahren der Verbrauchsteueraussetzung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch auch vermieden werden könnten, ohne dass Wirtschaftsteilnehmer zur Tragung der zusätzlichen Kosten für die Beförderung eines Erzeugnisses im Rahmen dieses Verfahrens verpflichtet würden. Befinde sich das Erzeugnis, wie etwa im Rahmen einer Erstattungsregelung, nach Entrichtung der Verbrauchsteuer im Verkehr, bestehe keine Betrugsgefahr mehr. Diese eventuelle Betrugsgefahr könne dadurch vermieden werden, dass Wirtschaftsteilnehmer Dokumente und Bescheinigungen zum Nachweis der erfolgten Verwendung des Erzeugnisses vorlegen müssten.

19.      Die Kommission erkennt in ihrer Erwiderung an, dass das von der Republik Polen angewendete Verfahren der Verbrauchsteueraussetzung die Voraussetzungen von Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 selbst erfülle. Um dem Verstoß gegen ihre Verpflichtungen abzuhelfen, müsse die Republik Polen jedoch ein paralleles System einführen, wonach Wirtschaftsteilnehmer, die eine Verbrauchsteuerbefreiung nach dieser Bestimmung nicht in Anspruch nehmen könnten, weil das betreffende Erzeugnis nicht im Rahmen eines Verfahrens der Verbrauchsteueraussetzung befördert worden sei, diese Befreiung im Wege einer Verbrauchsteuerrückerstattung in Anspruch nehmen könnten.

B.      Republik Polen und Tschechische Republik

20.      Die Republik Polen, unterstützt durch die Tschechische Republik, stimmt mit der Kommission darin überein, dass Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 eine unbedingte Befreiung von der Verbrauchsteuer vorsehe. Gleichwohl trägt die Republik Polen vor, dass es nach dieser Richtlinie Sache der Mitgliedstaaten sei, die Bedingungen zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch festzulegen. Art. 27 Abs. 6 dieser Richtlinie sehe ausdrücklich vor, dass es den Mitgliedstaaten freistehe, die Steuerbefreiung im Wege eines Erstattungssystems zu regeln. Ein Mitgliedstaat sei nach dieser Bestimmung zur Einführung eines Systems der Verbrauchsteuerrückerstattung eindeutig nicht verpflichtet.

21.      Das von der Republik Polen angewendete System beruhe auf der Unionsregelung für die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren im Rahmen eines Verfahrens der Verbrauchsteueraussetzung, das seinem Sinn und Zweck nach auch der Betrugsvermeidung diene(8). Die Waren würden zwischen Steuerlagern befördert, die von zugelassenen Personen betrieben würden, die viele Pflichten erfüllen und ein hohes Maß an Professionalität und Sorgfalt nachweisen müssten(9). Die Steuerbehörden verfolgten den Warenverkehr innerhalb des Systems mit Hilfe elektronischer Dokumente, was eine Intervention erleichtere, wenn eine konkrete Betrugsgefahr bestehe. Die Voraussetzung, dass die Steuerbefreiung für Ethylalkohol, der zur Herstellung von Arzneimitteln verwendet werde, nur dann in Anspruch genommen werden könne, wenn er im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung befördert werde, schließe eine Inanspruchnahme dieser Steuerbefreiung durch Wirtschaftsteilnehmer somit in keiner Weise aus. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Angaben gehe ferner eindeutig hervor, dass das in Polen praktizierte System die Gefahr von Steuerflucht, Steuerhinterziehung und Missbrauch praktisch ausschließe. Im konkreten Zusammenhang der Steuerbefreiung für Ethylalkohol, der bei der Herstellung von Arzneimitteln verwendet werde, habe die Republik Polen Daten ihres Finanzministers vorgelegt, um zu belegen, dass im Jahr 2019 165, im Jahr 2020 545 und im Jahr 2021 194 Zoll- und Steuerkontrollen durchgeführt worden seien. In zwei Fällen seien Unregelmäßigkeiten gemeldet worden. Angesichts der ernst zu nehmenden Betrugsgefahr bei verbrauchsteuerbefreitem Ethylalkohol würden mit der Voraussetzung, dass zur Herstellung von Arzneimitteln verwendeter Ethylalkohol im Rahmen eines Steueraussetzungsverfahrens befördert werden müsse, die Anforderungen der Richtlinie 92/83 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt.

22.      Auf das Argument der Kommission, dass ein Verfahren der Steueraussetzung Wirtschaftsteilnehmer mit höheren Kosten belaste, erwidert die Republik Polen, dass im Rahmen eines solchen Verfahrens zu keinem Zeitpunkt Verbrauchsteuer entrichtet werde. Dagegen könne das einem System der Steuererstattung wesenseigene Erfordernis, diese Verbrauchsteuer im Voraus zu entrichten, für Wirtschaftsteilnehmer belastende Auswirkungen auf die Liquidität haben. Das Steueraussetzungsverfahren sei somit verwaltungstechnisch vorteilhaft, bringe die Steuerbefreiung korrekt zur Anwendung und vermeide gleichzeitig Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch.

23.      Die Tschechische Republik trägt ergänzend vor, dass die Voraussetzung der Beförderung von Erzeugnissen im Rahmen eines Verfahrens der Verbrauchsteueraussetzung sich grundlegend von denjenigen Bedingungen unterscheide, die der Gerichtshof wegen fehlenden Zusammenhangs mit dem Ziel der Betrugsvermeidung für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt habe. Die Tschechische Republik beanstandet, dass die Kommission die von der Republik Polen aufgestellten Bedingungen allein deshalb als unverhältnismäßig ansehe, weil die Letztere kein Erstattungssystem vorsehe. Die Kommission habe nicht dargetan, dass das von ihr bevorzugte System Wirtschaftsteilnehmer weniger belaste als das Verfahren der Steueraussetzung.

24.      Nach Ansicht der Republik Polen würde die Forderung der Kommission, parallel zu dem von ihr praktizierten Verfahren der Steueraussetzung ein Erstattungssystem einzuführen, ihr die in der Richtlinie 92/83 ausdrücklich vorgesehene Freiheit nehmen, die Bedingungen für die Anwendung der in Art. 27 der Richtlinie aufgeführten Steuerbefreiungen festzulegen. Sie sei auch nicht verpflichtet, Wirtschaftsteilnehmern verschiedene Mechanismen zur Wahl zu stellen, nach denen sie die Steuerbefreiung in Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 in Anspruch nehmen könnten. Würde ein solches paralleles System praktiziert, würde dies vielmehr an sich schon zu einer Beeinträchtigung der Betrugsbekämpfung führen.

VI.    Rechtliche Würdigung

A.      Verstoß gegen Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83

1.      Art. 27 Abs. 1 Buchst. d

25.      Der Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 ist eindeutig. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten („Die Mitgliedstaaten befreien …“), die von der Richtlinie 92/83 erfassten Erzeugnisse von der harmonisierten Verbrauchsteuer zu befreien. Die Mitgliedstaaten erfüllen diese Verpflichtung, indem sie zu zwei Zwecken Bedingungen regeln („festlegen“), nämlich zur Sicherstellung einer korrekten und einfachen Anwendung der Steuerbefreiungen sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch. In diesem Sinne lautet auch der 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 92/83, wonach den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit genommen werden darf, Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch im Zusammenhang mit Steuerbefreiungen gegebenenfalls zu bekämpfen. Art. 27 Abs. 1 dieser Richtlinie enthält sodann eine Liste konkreter Steuerbefreiungen, u. a. Buchst. d für Ethylalkohol, der zur Herstellung von Arzneimitteln verwendet wird.

26.      Die Richtlinie 92/83 schafft für die Mitgliedstaaten somit eine in der Rechtsprechung als unbedingt charakterisierte Hauptpflicht(10), die darin aufgeführten Steuerbefreiungen zu gewähren, sowie eine Nebenpflicht, die Bedingungen für die Umsetzung dieser Hauptpflicht zu regeln. Die Unbedingtheit der Steuerbefreiung steht somit neben der Nebenpflicht der Mitgliedstaaten zur Regelung solcher Bedingungen und schmälert sie daher nicht.

27.      Der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist offenbar zu entnehmen, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnis, die Bedingungen für die Umsetzung dieser Hauptpflicht nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 zu regeln, konkrete, objektive und nachprüfbare Anhaltspunkte anführen müssen, die für das Vorliegen einer ernst zu nehmenden Gefahr von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch sprechen. Diese Bedingungen dürfen nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgehen(11).

28.      Mir erscheint aus zwei Gründen fraglich, ob die Anforderung, wonach die Mitgliedstaaten unter den besonderen Umständen der vorliegenden Rechtssache zur Regelung von Bedingungen nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 konkrete, objektive und nachprüfbare Anhaltspunkte anführen müssen, die für das Vorliegen einer ernst zu nehmenden Gefahr von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch sprechen, über die Anforderungen dieser Bestimmung hinausgeht.

29.      Erstens findet sich für ein solches Erfordernis im Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 kein Hinweis, wo die Rede davon ist, dass die Mitgliedstaaten Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch vermeiden, und somit geregelt ist, dass den Mitgliedstaaten ein gewisser Ermessensspielraum im Hinblick auf die Form und den Inhalt der von ihnen zu regelnden Bedingungen eingeräumt wird.

30.      Zweitens hat der Gerichtshof seine in Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Feststellung in Rn. 51 seines Urteils Repertoire Culinaire(12) auf ein früheres Urteil gestützt, nämlich auf das Urteil Italien/Kommission(13), dem eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung 98/617/EG zugrunde lag(14). Nach Art. 27 Abs. 5 der Richtlinie 92/83 kann ein Mitgliedstaat die Befreiung versagen oder die bereits gewährte Befreiung zurückziehen, wenn er feststellt, dass ein gemäß Art. 27 Abs. 1 Buchst. a oder b der Richtlinie befreites Erzeugnis zu Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch führt. Der Mitgliedstaat unterrichtet die Kommission, die diese Mitteilung an die anderen Mitgliedstaaten weitergibt. Es ergeht dann eine endgültige Entscheidung nach dem Verfahren des Art. 24 der Richtlinie 92/12/EWG(15). In jener Rechtssache wollte Italien eine Pflicht zur Verwendung reinen Alkohols für die Herstellung von Parfüms und kosmetischen Mitteln einführen, die Kommission entschied jedoch, dass die Richtlinie 92/83 an keiner Stelle verlange, dass Erzeugnisse im Sinne von Art. 27 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie aus reinem Alkohol hergestellt sein müssten. Die Verwendung von unreinem Alkohol zur Herstellung von Erzeugnissen, die unter die Steuerbefreiung nach dieser Bestimmung fielen, sei auch nicht als Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch anzusehen. Die von Italien beabsichtigte Steuerbefreiung war somit nicht von den Bedingungen umfasst, die die Mitgliedstaaten nach Art. 27 Abs. 1 dieser Richtlinie regeln konnten.

31.      Das Urteil Italien/Kommission(16)erging somit in einem Fall, in dem Italien sich zur Begründung der Versagung der Steuerbefreiung für bestimmte Erzeugnisse auf eine Entscheidung der Kommission gestützt hatte. Der Gerichtshof entschied, dass Italien gegenüber der Kommission die Darlegungslast dafür habe, dass seine Rechtsanwendung berechtigt sei(17). Die Kommission hat jedoch nicht erläutert, warum diese Verteilung der Beweislast auf den gänzlich unterschiedlichen Fall übertragbar sein sollte, dass ein Mitgliedstaat eine ihm rechtmäßig übertragene Befugnis ausübt. Unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit(18) lässt sich die Ansicht vertreten, dass die Kommission dann, wenn sie eine dem Anschein nach gültige Ausübung einer solchen Befugnis anfechten will, zumindest die Nachweislast dafür haben sollte, dass hierfür schlüssige Erfolgsaussichten bestehen(19).

32.      In der vorliegenden Rechtssache erkennt die Kommission jedoch an, dass die Anwendung eines Verfahrens der Steueraussetzung durch die Republik Polen die Anforderungen von Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 erfüllt. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, warum die Republik Polen verpflichtet sein sollte, konkrete, objektive und nachprüfbare Anhaltspunkte anzuführen, die für das Vorliegen einer ernst zu nehmenden Gefahr von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch sprechen, zumal im Rahmen eines Verfahrens, in dem die Kommission die Beweislast trägt(20).

33.      Im Übrigen sprechen die Urteile des Gerichtshofs, auf die die Kommission in ihrem Vorbringen verweist, nicht für die Annahme, dass die Republik Polen durch das von ihr aufgestellte Erfordernis, dass das Erzeugnis im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung befördert werden muss, die Grenzen der ihr durch Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 übertragenen Befugnisse überschreitet.

34.      Im Urteil Repertoire Culinaire(21) bestanden die Bedingungen gemäß der geprüften nationalen Regelung in einer Beschränkung des zur Verbrauchsteuererstattung berechtigten Personenkreises, einer Frist von vier Monaten für die Stellung eines Antrags und in dem Erfordernis eines Mindestbetrags der Erstattung. Mangels konkreter, objektiver und nachprüfbarer Anhaltspunkte dafür, dass diese Bedingungen zur Sicherstellung einer korrekten und einfachen Anwendung der Steuerbefreiung nach Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/83 zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch erforderlich waren, stellte der Gerichtshof fest, dass diese Bedingungen nicht von der den Mitgliedstaaten nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 eingeräumten Befugnis umfasst waren(22).

35.      Aus denselben Gründen wie im Urteil Repertoire Culinaire(23) stellte der Gerichtshof auch im Beschluss Asprod(24) fest, dass eine nationale Regelung, wonach eine Steuerbefreiung mit der Begründung versagt wurde, dass der Wirtschaftsteilnehmer nicht über einen Bescheid der Finanzbehörden über die Festsetzung der bei der Herstellung von Süßwaren verwendeten zulässigen Verbrauchsmengen an alkoholischen Getränken verfügte, nicht von der den Mitgliedstaaten nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 eingeräumten Befugnis umfasst war(25).

36.      Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96/EG des Rates(26) hat einen Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 sehr ähnlichen Wortlaut(27). Im Urteil Polihim-SS(28) entschied der Gerichtshof, dass eine Versagung der Verbrauchsteuerbefreiung für schwere Heizöle durch die nationalen Behörden allein aufgrund des Umstands, dass die vom zugelassenen Lagerinhaber als deren Empfänger ausgewiesene Person nicht die Eigenschaft eines Endverbrauchers hatte, der nach nationalem Recht zum Empfang verbrauchsteuerbefreiter Energieerzeugnisse berechtigt war, ohne dass überprüft wurde, ob die verlangten materiellen Anforderungen für die Verwendung dieser schweren Heizöle zu Zwecken, die einen Anspruch auf Befreiung begründeten, erfüllt waren, über das hinausging, was erforderlich war, um eine korrekte und einfache Anwendung der Befreiungen sicherzustellen und Steuerhinterziehung und ‑vermeidung oder Missbrauch zu verhindern.

37.      Schließlich wurde im Urteil Vakarų Baltijos laivų statykla(29), wo der Gerichtshof wiederum Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 auslegte, entschieden, dass eine nationale Regelung, wonach eine Steuerbefreiung von der Erfüllung formeller Anforderungen abhängig ist, die weder etwas mit der Verwendung der betreffenden Energieerzeugnisse noch mit den in dieser Richtlinienbestimmung festgelegten materiellen Voraussetzungen zu tun haben, die Unbedingtheit der vorgeschriebenen Verpflichtung zur Steuerbefreiung in Frage stellt und gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt.

38.      In jedem dieser Urteile stellte der Gerichtshof fest, dass der betreffende Mitgliedstaat die Grenzen seiner Befugnis zur Regelung von Bedingungen für die Verbrauchsteuerbefreiung von Waren überschritten hatte, weil die Bedingungen, die mit ihnen aufgestellt werden sollten, nicht eine korrekte und einfache Anwendung der Befreiungen sicherstellten oder Steuerhinterziehung und ‑vermeidung oder Missbrauch verhinderten und somit in die Unbedingtheit der betreffenden Steuerbefreiung eingriffen. Wie von der Republik Polen und der Tschechischen Republik in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, wird von der Kommission im vorliegenden Verfahren nicht geltend gemacht, dass die polnischen Behörden die Steuerbefreiung deshalb versagen, weil bestimmte Bedingungen nicht erfüllt sind, ohne zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung erfüllt sind. Im Gegenteil wird von der Kommission nicht bestritten, dass das von der Republik Polen angewendete Verfahren der Steueraussetzung eine korrekte Anwendung der Steuerbefreiung sicherstellt.

2.      Art. 27 Abs. 6 der Richtlinie 92/83

39.      Nach Art. 27 Abs. 6 der Richtlinie 92/83 können die Mitgliedstaaten („Es steht [ihnen] frei“) die in Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie aufgeführten Steuerbefreiungen im Wege einer Verbrauchsteuerrückerstattung regeln. Der 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 92/83 („Den Mitgliedstaaten sollte gestattet werden, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen im Wege einer Rückerstattung zu regeln.“) bestätigt den ausdrücklichen Wortlaut von Art. 27 Abs. 6 dieser Richtlinie.

40.      Trotz des eindeutigen Wortlauts dieser Bestimmung soll sich nach Ansicht der Kommission offenbar die Unbedingtheit der Steuerbefreiungen auch auf die Art und Weise ihrer Gewährung durch die Mitgliedstaaten erstrecken. Zur Einhaltung von Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 könne die Republik Polen diese Steuerbefreiung zwar im Wege eines Verfahrens der Steueraussetzung regeln, sie müsse sie aber auch durch eine Verbrauchsteuerrückerstattung regeln. Die Kommission ist letztlich der Ansicht, dass der Gerichtshof Art. 27 Abs. 6 dieser Richtlinie dahin auslegen solle, dass er den Mitgliedstaaten eine Verpflichtung auferlege, die Steuerbefreiungen im Wege von Verbrauchsteuerrückerstattungen zu regeln.

41.      Dieser Auffassung stehen meines Erachtens zwei unüberwindbare Hindernisse entgegen.

42.      Zum einen lässt Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83, wie in den Nrn. 25 und 26 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum im Hinblick auf die Wahl der Mittel, mit denen sie die danach vorgesehenen Steuerbefreiungen regeln. Die Kommission hat nicht dargetan, dass die von der Republik Polen getroffenen Wahlentscheidungen über diese Bestimmung hinausgehen.

43.      Zum anderen sieht Art. 27 Abs. 6 der Richtlinie 92/83 vor, dass es den Mitgliedstaaten „frei[steht], die vorgenannten Steuerbefreiungen im Wege einer Verbrauchsteuerrückerstattung zu regeln“. Der Gerichtshof hat diese Bestimmung bislang noch nicht ausgelegt. Glücklicherweise bereitet dies keine besonderen Schwierigkeiten, da die Bedeutung des Wortlauts des Absatzes nicht eindeutiger sein könnte. Der Begriff „[Steuer‑]Befreiung“ wird üblicherweise als „Freiheit oder Befreiung von einer Verpflichtung oder einem rechtlichen Erfordernis“ verstanden. Im Kontext der Steuern ist mit seiner üblichen Bedeutung gemeint, dass, soweit eine Steuerbefreiung gilt, keine Verpflichtung zur Entrichtung einer Steuer besteht. Art. 27 Abs. 6 der Richtlinie 92/83 sieht vor, dass die mit dieser Bestimmung eingeführten Steuerbefreiungen im Wege einer Verbrauchsteuerrückerstattung geregelt werden können. Die Formulierung „es steht … frei“ bringt eindeutig zum Ausdruck, dass den Mitgliedstaaten damit keine Verpflichtung auferlegt wird, eine Steuerbefreiung im Wege einer Verbrauchsteuerrückerstattung zu regeln(30).

44.      Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, die Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere das Urteil Repertoire Culinaire(31), habe den Umfang der den Mitgliedstaaten durch Art. 27 Abs. 6 der Richtlinie 92/83 eingeräumten Wahl der Form ihres Tätigwerdens eingeschränkt. Das Urteil Repertoire Culinaire ging auf die Auslegung von Art. 27 Abs. 6 dieser Richtlinie nicht ein, da der betreffende Mitgliedstaat die Steuerbefreiung nach Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie im Wege einer Verbrauchsteuerrückerstattung geregelt hatte. Dieses Urteil kann daher für die von der Kommission vertretene Ansicht keine Stütze sein.

3.      Ergebnis

45.      Ich schlage dem Gerichtshof vor, darauf zu erkennen, dass die Kommission nicht dargetan hat, dass die Republik Polen gegen ihre Verpflichtungen nach Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 verstoßen hat.

B.      Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

46.      Die Kommission bringt ferner vor, dass die für die Inanspruchnahme einer Befreiung von der Verbrauchsteuer für zur Herstellung von Arzneimitteln verwendeten Ethylalkohol geltende Voraussetzung der Anwendung eines Steueraussetzungsverfahrens gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, da Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch auch vermieden werden könnten, ohne dass Wirtschaftsteilnehmer zur Tragung der zusätzlichen Kosten für die Beförderung des Erzeugnisses im Rahmen eines Steueraussetzungsverfahrens verpflichtet würden. Befinde sich das Erzeugnis, wie etwa im Rahmen einer Erstattungsregelung, nach Zahlung der Verbrauchsteuer im Verkehr, bestehe keine Betrugsgefahr mehr. Eine solche etwaige Betrugsgefahr könne dadurch vermieden werden, dass Wirtschaftsteilnehmer Dokumente und Bescheinigungen zum Nachweis der Verwendung des Erzeugnisses vorlegen müssten.

47.      Der zweite Teil des Vorbringens der Kommission ist im Licht der Beweislast im Verfahren nach Art. 258 AEUV zu beurteilen.

1.      Beweislast im Verfahren nach Art. 258 AEUV

48.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss das Verfahren nach Art. 258 AEUV auf der objektiven Feststellung des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem AEUV oder einem sekundären Rechtsakt beruhen(32).

49.      Ebenso muss nach ständiger Rechtsprechung die Kommission das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte liefern, die es ihm ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen. Die Kommission kann sich dabei nicht auf Vermutungen stützen(33).

50.      Im vorliegenden Verfahren muss die Kommission nachweisen, dass die Republik Polen Art. 27 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/83 dadurch nicht ordnungsgemäß und verhältnismäßig umgesetzt hat, dass sie die Befreiung von der harmonisierten Verbrauchsteuer für zur Herstellung von Arzneimitteln verwendeten Ethylalkohol von der Beförderung dieses Erzeugnisses im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung abhängig gemacht hat.

51.      Nach Art. 4 Abs. 3 EUV sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen. Nach Art. 17 Abs. 1 EUV gehört zu diesen Aufgaben u. a., für die Anwendung der Bestimmungen des AEUV und der von den Organen kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen zu sorgen(34). Der Mitgliedstaat ist daher verpflichtet, der Kommission klare und genaue Informationen zu erteilen und die Rechts- und Verwaltungsvorschriften eindeutig anzugeben, mittels deren er seine verschiedenen Verpflichtungen aus der Richtlinie erfüllt zu haben glaubt(35). Außerdem ist die Kommission, soweit fraglich wird, ob nationale Umsetzungsbestimmungen in der Praxis korrekt angewendet werden, weitgehend auf die Angaben etwaiger Beschwerdeführer und des betroffenen Mitgliedstaats angewiesen.

52.      In der vorliegenden Rechtssache ist den dem Gerichtshof vorliegenden Schriftsätzen oder Akten nichts dafür zu entnehmen, dass die Republik Polen gegen ihre Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Kommission verstoßen oder keine klaren und genauen Informationen zu der einschlägigen nationalen Regelung oder ihrer Anwendung in der Praxis erteilt hätte.

2.      Würdigung

53.      Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit beinhaltet die Prüfung durch den Gerichtshof, ob die zu prüfenden Maßnahmen die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit ihnen zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen(36).

54.      Die Kommission stellt nicht in Abrede, dass das Erfordernis, dass das fragliche Erzeugnis sich im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung in Verkehr befinden muss, die von der Republik Polen geltend gemachten Vorteile hat.

55.      Die Kommission ist jedoch der Ansicht, dass die von der Republik Polen eingeführten Umsetzungsmaßnahmen eine unverhältnismäßige Reaktion darstellten, der dieser Mitgliedstaat durch Einführung eines parallelen Systems der Steuerbefreiung im Wege der Steuerrückerstattung abzuhelfen habe.

56.      Zum einen geht die Kommission davon aus, dass solche Erstattungssysteme aufgrund der Vorauszahlung der Verbrauchsteuer eine geringere Gefahr von Steuerflucht, Steuerhinterziehung und Missbrauch aufwiesen. Danach hätten die nationalen Behörden die Verantwortung, sicherzustellen, dass für Alkohol, der nicht zur Herstellung von Arzneimitteln verwendet werde, keine Verbrauchsteuer erstattet werde.

57.      Zum anderen ist die Kommission der Ansicht, dass das Verfahren der Steueraussetzung bestimmte Wirtschaftsteilnehmer von der Inanspruchnahme der Steuerbefreiung abhalte, weil es Verwender mit höheren Kosten belaste als ein Erstattungssystem und daher über das zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch Erforderliche hinausgehe.

58.      Die Republik Polen ist dagegen der Ansicht, dass jeder Wirtschaftsteilnehmer die Steuerbefreiung dadurch in Anspruch nehmen könne, dass er das Erzeugnis im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung befördere. Dies sei nicht notwendigerweise mit höheren Kosten verbunden als ein Erstattungssystem und habe ferner den Vorteil, dass keine Vorauszahlung der Verbrauchsteuer erforderlich sei.

59.      Die Kommission hat dem Gerichtshof für ihre Behauptung, dass Steueraussetzungsverfahren belastender seien als ein Erstattungssystem, keinen Nachweis erbracht. Auf die hierzu in der mündlichen Verhandlung an sie gerichtete Frage hat die Kommission die Ansicht vertreten, sie sei nicht verpflichtet, solche Nachweise vorzulegen. Die Tschechische Republik weist in ihrem Vorbringen darauf hin, dass der Vortrag der Kommission auf einer Vermutung basiere, auf die sie sich im Verfahren nach Art. 258 AEUV nicht stützen könne(37).

60.      Die Gesamtbeweislast im Verfahren nach Art. 258 AEUV trägt die Kommission. Die Beweislast geht nicht auf den Mitgliedstaat über, weil die Kommission, ohne dass dies durch irgendeinen Nachweis gestützt würde, der Ansicht ist, dass ein alternativer Mechanismus zur Erreichung des mit einer Richtlinie verfolgten Ziels wirksamer und/oder weniger belastend sei als derjenige, den der beklagte Mitgliedstaat anwendet.

61.      Im Übrigen ist schwer ersichtlich, inwieweit von einem Mitgliedstaat der Nachweis erwartet werden könnte, dass eine von ihm nicht umgesetzte Regelung weniger belastend ist als die von ihm umgesetzte Regelung. Will die Kommission ein derartiges Vorbringen im Verfahren nach Art. 258 AEUV vortragen, muss sie diese Behauptung dem beklagten Mitgliedstaat gegenüber substantiiert belegen, so dass er dazu Stellung nehmen kann, und diese Angaben und Belege anschließend dem Gerichtshof vorlegen. Das ist in der vorliegenden Rechtssache nicht geschehen.

62.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass die Kommission nicht rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, dass die Republik Polen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat. Demnach schlage ich dem Gerichtshof vor, die Klage der Kommission insgesamt abzuweisen.

VII. Kosten

63.      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da ich dem Gerichtshof vorschlage, den Anträgen der Republik Polen stattzugeben, sind der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

64.      Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt die Tschechische Republik ihre eigenen Kosten.

VIII. Ergebnis

65.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Europäische Kommission trägt die Kosten der Republik Polen.

3.      Die Tschechische Republik trägt ihre eigenen Kosten.


1      Originalsprache: Englisch.


2      ABl. 1992, L 316, S. 21.


3      Kapitel IV der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12) regelt die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung.


4      Im Sinne der Definition in Art. 20 der Richtlinie 92/83.


5      Urteil vom 9. Dezember 2010, Repertoire Culinaire (C‑163/09, EU:C:2010:752, Rn. 48 und 49; im Folgenden: Urteil Repertoire Culinaire).


6      Ebd., Rn. 50 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung.


7      Ebd., Rn. 52.


8      Vgl. z. B. Pressemitteilung der Kommission IP/08/241, „Verbrauchsteuern: Kommission schlägt Maßnahmen für eine bessere Betrugsbekämpfung und zur Vereinfachung bestimmter Vorschriften über grenzüberschreitende Einkäufe für private oder gewerbliche Zwecke vor“ (14. Februar 2008).


9      Der zugelassene Lagerinhaber haftet für alle mit der Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren unter Steueraussetzung verbundenen Risiken, so dass er für die Zahlung der Verbrauchsteuern haftet, wenn es bei der Beförderung dieser Waren zu einer Unregelmäßigkeit oder einer Zuwiderhandlung kommt, die zur Entstehung des Steueranspruchs führt (Urteil vom 2. Juni 2016, Kapnoviomichania Karelia, C‑81/15, EU:C:2016:398, Rn. 32).


10      Urteil vom 9. Dezember 2010 (C‑163/09, EU:C:2010:752, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Ebd., Rn. 52.


12      Ebd.


13      Urteil vom 7. Dezember 2000 (C‑482/98, EU:C:2000:672).


14      Entscheidung der Kommission vom 21. Oktober 1998 zur Verweigerung der von der italienischen Regierung beantragten Ermächtigung, die Steuerbefreiung für bestimmte Erzeugnisse zu versagen, die gemäß der [Richtlinie 92/83/EWG] von der Verbrauchsteuer befreit sind (ABl. 1998, L 295, S. 43).


15      Richtlinie des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 1992, L 76, S. 1).


16      Urteil vom 7. Dezember 2000 (C‑482/98, EU:C:2000:672).


17      Daher die Feststellung in Rn. 52 jenes Urteils, dass Italien zumindest konkrete Anhaltspunkte anführen musste, die für das Vorliegen einer ernst zu nehmenden Gefahr von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch sprachen.


18      Art. 4 Abs. 3 EUV. Vgl. entsprechend Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Spanien/Kommission (C‑114/17 P, EU:C:2018:309, Nr. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Dies ist bei Verfahren nach Art. 258 AEUV der Fall, siehe Nrn. 48 bis 51 der vorliegenden Schlussanträge.


20      Siehe Nrn. 48 und 51 der vorliegenden Schlussanträge.


21      Urteil vom 9. Dezember 2010 (C‑163/09, EU:C:2010:752).


22      Urteil vom 9. Dezember 2010 (C‑163/09, EU:C:2010:752, Rn. 53 bis 55).


23      Ebd.


24      Beschluss vom 3. Dezember 2014 (C‑313/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2426).


25      Beschluss vom 3. Dezember 2014, Asprod (C‑313/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2426, Rn. 22 bis 27).


26      Richtlinie des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom (ABl. 2003, L 283, S. 51).


27      „… befreien die Mitgliedstaaten unter den Voraussetzungen, die sie zur Sicherstellung der korrekten und einfachen Anwendung solcher Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung und ‑vermeidung oder Missbrauch festlegen, die nachstehenden Erzeugnisse von der Steuer“.


28      Urteil vom 2. Juni 2016 (C‑355/14, EU:C:2016:403, Rn. 62).


29      Urteil vom 13. Juli 2017 (C‑151/16, EU:C:2017:537, Rn. 51).


30      Diese Rechtslage kommt auch in anderen Sprachfassungen von Art. 27 Abs. 6 sowie im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 92/83 zum Ausdruck, etwa in der deutschen, französischen, italienischen und niederländischen Fassung.


31      Urteil vom 9. Dezember 2010 (C‑163/09, EU:C:2010:752, Rn. 51).


32      Vgl. u. a. Urteil vom 10. November 2020, Kommission/Italien (Grenzwerte für PM10) (C‑644/18, EU:C:2020:895, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33      Vgl. u. a. Urteile vom 5. September 2019, Kommission/Italien (Bakterium Xylella fastidiosa) (C‑443/18, EU:C:2019:676, Rn. 78 und 80 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 14. Januar 2021, Kommission/Italien (Zuschuss zum Kauf von Kraftstoff) (C‑63/19, EU:C:2021:18, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).


34      Vgl. u. a. Urteil vom 18. Oktober 2012, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑301/10, EU:C:2012:633, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).


35      Urteil vom 16. Juni 2005, Kommission/Italien (C‑456/03, EU:C:2005:388, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36      Urteil vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).


37      Siehe Nr. 49 der vorliegenden Schlussanträge.