Language of document : ECLI:EU:C:2016:428

Verbundene Rechtssachen C‑78/16 und C‑79/16

Giovanni Pesce u. a.

gegen

Presidenza del Consiglio dei Ministri u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regionale per il Lazio)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Pflanzenschutz – Richtlinie 2000/29/EG – Schutz der Europäischen Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Schadorganismen der Pflanzen und Pflanzenerzeugnisse – Durchführungsbeschluss (EU) 2015/789 – Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa (Wells und Raju) – Art. 6 Abs. 2 Buchst. a – Pflicht zur unverzüglichen Entfernung der Wirtspflanzen, unabhängig von ihrem Gesundheitszustand, auf einer Fläche mit einem Radius von 100 Metern um die befallenen Pflanzen – Gültigkeit – Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2000/29 – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Vorsorgeprinzip – Begründungspflicht – Anspruch auf Entschädigung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 9. Juni 2016

1.        Gerichtliches Verfahren – Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung – Antrag mit dem Ziel, zu den Rechtsausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts Stellung zu nehmen – Voraussetzungen für die Wiedereröffnung

(Art. 252 Abs. 2 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 23; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 83)

2.        Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Pflanzenschutz – Beschluss 2015/789 – Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa – Pflicht zur unverzüglichen Entfernung der Wirtspflanzen der Bakterie und zur Anwendung einer Pflanzenschutzbehandlung auf die infektiösen Insekten – Keine selbständigen Pflichten

(Richtlinie 2000/29 des Rates, Anhang I Teil A Kapitel I Buchst. b; Beschluss 2015/789 der Kommission, Art. 6 Abs. 2 bis 4)

3.        Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Pflanzenschutz – Erlass von Schutzmaßnahmen – Beachtung des Vorsorgeprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Gerichtliche Überprüfung – Grenzen

(Art. 43 AEUV)

4.        Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Pflanzenschutz – Beschluss 2015/789 – Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa – Beachtung des Vorsorgeprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Erfordernis für die Kommission, die getroffenen Maßnahmen beim Auftreten neuer Gesichtspunkte hinsichtlich des pflanzengesundheitlichen Risikos anzupassen

(Richtlinie 2000/29 des Rates, Art. 16 Abs. 3; Beschluss 2015/789 der Kommission, Art. 6 Abs. 2 Buchst. a)

5.        Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Pflanzenschutz – Beschluss 2015/789 – Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa – Pflicht zur unverzüglichen Entfernung der in der Nähe befallener Pflanzen befindlichen Wirtspflanzen – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Fehlen

(Richtlinie 2000/29 des Rates; Beschluss 2015/789 der Kommission, vierter Erwägungsgrund und Art. 6 Abs. 2 Buchst. a)

6.        Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Pflanzenschutz – Beschluss 2015/789 – Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa – Fehlen einer Entschädigungsregelung– Zulässigkeit

(Art. 43 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 17; Richtlinie 2000/29 des Rates; Beschluss 2015/789 der Kommission)

7.        Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Beurteilung der Begründungspflicht anhand der Umstände des Einzelfalls – Mitgliedstaat, der am Gesetzgebungsverfahren beteiligt war

(Art. 296 AEUV)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 24-27)

2.        Nach dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Beschlusses 2015/789 über Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa ist ein Mitgliedstaat verpflichtet, Wirtspflanzen unabhängig von ihrem Gesundheitszustand unverzüglich auf einer Fläche mit einem Radius von 100 Metern um die Pflanzen zu entfernen, die von der Bakterie Xylella befallen sind; diese gehört nach dem Wortlaut von Anhang I Teil A Kapitel I Buchst. b der Richtlinie 2000/29 über Maßnahmen zum Schutz der Gemeinschaft gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Schadorganismen der Pflanzen und Pflanzenerzeugnisse zu den Schadorganismen, deren Auftreten nirgends in der Union festgestellt wurde und deren Einschleppung und Ausbreitung in die bzw. in den Mitgliedstaaten verboten ist.

Diese Pflicht steht nicht im Widerspruch zu den in Art. 6 Abs. 3 und 4 vorgesehenen Pflichten. Wie sich nämlich schon aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 4 ergibt, muss der betroffene Mitgliedstaat vor dem Entfernen der in Abs. 2 Buchst. a genannten Wirtspflanzen eine geeignete Pflanzenschutzbehandlung durchführen, die nicht die Pflanzen selbst betrifft, sondern die „Vektoren“ der Bakterie, nämlich die infektiösen Insekten; diese sollen bekämpft werden, indem sie getilgt oder auch die als ihre Wirte dienenden Pflanzen entfernt werden. Insoweit sehen die in Art. 6 Abs. 2 bis 4 des Beschlusses 2015/789 aufgestellten Pflichten keine selbständigen, sich gegenseitig ausschließenden Pflichten vor, sondern einen Komplex untrennbar miteinander verbundener Maßnahmen unterschiedlicher Natur und Tragweite, die – was die in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a und 4 vorgesehenen Maßnahmen anbelangt – nacheinander durchzuführen sind. Die in Art. 6 Abs. 3 und 4 genannten Pflichten können daher nicht so verstanden werden, dass sie den zwingenden Charakter der Pflicht zur „unverzüglich[en]“ Entfernung der Wirtspflanzen in dem betreffenden Radius um die befallenen Pflanzen berühren.

(vgl. Rn. 34, 35, 38)

3.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 47-49)

4.        Die Gültigkeit eines Rechtsakts der Union ist anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen und somit nicht von nachträglichen Beurteilungen seines Wirkungsgrads abhängen kann. Wenn der Unionsgesetzgeber künftige Auswirkungen einer zu erlassenden Regelung zu beurteilen hat, die nicht mit Bestimmtheit vorausgesagt werden können, kann seine Beurteilung nur beanstandet werden, wenn sie sich im Licht der Informationen, über die er zum Zeitpunkt des Erlasses der betreffenden Regelung verfügte, als offensichtlich fehlerhaft erweist. Die Organe, insbesondere die Kommission, die das Initiativrecht hat, müssen allerdings für eine Anpassung der Regelung an die neuen Gegebenheiten sorgen, wenn neue Informationen die Einstufung eines Risikos ändern oder zeigen, dass ihm durch Maßnahmen begegnet werden kann, die weniger einschränkend sind als die bestehenden.

So verhält es sich bei der in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Beschlusses 2015/789 über Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa aufgestellten Pflicht, Wirtspflanzen unabhängig von ihrem Gesundheitszustand auf einer Fläche mit einem Radius von 100 Metern um die befallenen Pflanzen unverzüglich zu entfernen. Sollte sich die Lage nämlich in der Weise entwickeln, dass die Tilgung der Bakterie Xylella aufgrund neuer einschlägiger wissenschaftlicher Daten nicht mehr die unmittelbare Entfernung aller Wirtspflanzen auf einer Fläche mit dem genannten Radius erfordert, obläge es der Kommission, gemäß Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2000/29 über Maßnahmen zum Schutz der Gemeinschaft gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Schadorganismen der Pflanzen und Pflanzenerzeugnisse den Beschluss 2015/789 zu ändern oder einen neuen Beschluss zu erlassen, um dieser Entwicklung unter Beachtung des Vorsorgeprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen.

(vgl. Rn. 50-52, 82)

5.        Die Kommission durfte annehmen, dass die in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a Beschlusses 2015/789 über Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa aufgestellte Pflicht zur unverzüglichen Entfernung der Wirtspflanzen der Bakterie Xylella unabhängig von ihrem Gesundheitszustand eine angemessene und zur Verhinderung der Ausbreitung der Bakterie erforderliche Maßnahme war. Im Einklang mit dem Ziel der Richtlinie 2000/29 über Maßnahmen zum Schutz der Gemeinschaft gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Schadorganismen der Pflanzen und Pflanzenerzeugnisse, auf deren Grundlage Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Beschlusses 2015/789 erlassen wurde, soll die zuletzt genannte Bestimmung, wie aus dem vierten Erwägungsgrund des Beschlusses hervorgeht, die Bakterie Xylella tilgen und so ihre Ausbreitung über die Region Apulien hinaus verhindern. indem die mit den Durchführungsbeschlüssen 2014/87 und 2014/497 im Anschluss an die Mitteilung der italienischen Behörden, dass diese Bakterie in der Provinz Lecce vorkommt, auferlegten Maßnahmen verschärft werden. Der Gesundheitsschutz und die Vollendung des Agrarbinnenmarkts im betreffenden Sektor stellen jedoch im Allgemeininteresse liegende legitime Ziele des Unionsrechts dar.

Zudem geht aus einem Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) eindeutig hervor, dass Olivenbäume ebenso wie eine relativ große Zahl anderer Pflanzen zu den Wirtspflanzen der Bakterie Xylella gehören. Insoweit hat die EFSA in diesem Gutachten zwar nicht das Vorliegen eines sicheren Kausalzusammenhangs zwischen dieser Bakterie und der raschen Austrocknung der Olivenbäume in der Region Apulien nachgewiesen, doch hat sie darin eine signifikante Korrelation zwischen der Bakterie und dem Auftreten dieser Krankheit aufgezeigt. Das Vorsorgeprinzip verbietet jedoch keineswegs den Erlass jeder Maßnahme, wenn hinsichtlich des Vorliegens oder des Umfangs eines Gesundheitsrisikos keine wissenschaftliche Gewissheit besteht, sondern den Erlass von Schutzmaßnahmen durch den Unionsgesetzgeber rechtfertigen kann, auch wenn insoweit wissenschaftliche Ungewissheiten fortbestehen. Was die Verhältnismäßigkeit von Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Beschlusses 2015/789 anbelangt, belegt der Umstand, dass die Kommission die Pflicht zur Entfernung der Wirtspflanzen unabhängig von ihrem Gesundheitszustand auf eine Fläche mit einem Radius von 100 Metern um die befallenen Pflanzen begrenzt hat, obwohl die Vektoren die Bakterie über diesen Radius hinaus ausbreiten können, dass diese Pflicht auf das zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderliche Maß beschränkt wurde. Unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips ist Art. 16 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 so zu verstehen, dass er es der Kommission erlaubt, jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich ist, um die Schadorganismen zu tilgen oder einzudämmen, so dass die Kommission, wenn es zur Erreichung dieses Ziels geboten ist, nicht nur die befallenen Pflanzen zu entfernen, sondern auch alle in der Nähe stehenden Wirtspflanzen, selbst wenn sie keine Symptome für den Befall mit der Bakterie Xylella aufweisen und bei ihnen ein Befall als nicht wahrscheinlich gilt, zur Auferlegung einer solchen Maßnahme befugt ist.

Was die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dieser Pflicht anbelangt, musste der Unionsgesetzgeber eine Abwägung der verschiedenen betroffenen Interessen vornehmen, nämlich einerseits insbesondere des Eigentumsrechts der Eigentümer von Olivenbäumen in der Region Apulien und der sich aus der Entfernung der betreffenden Pflanzen ergebenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen für diese Region und andererseits der Bedeutung der Pflanzenproduktion in der Union und des Allgemeininteresses daran, einen wirksamen Schutz des Unionsgebiets, unter Einschluss von Italien außerhalb der Provinz Lecce, vor der Ausbreitung der Bakterie Xylella im gesamten Unionsgebiet zu gewährleisten. Denn erstens erlegte die Kommission die Pflicht zur unverzüglichen Entfernung aller Wirtspflanzen in dem betreffenden Radius auf, weil sich die Bakterie im Norden der Provinz Lecce rasch ausbreitete, nachdem sie lediglich die Verbringung zur Anpflanzung bestimmter Pflanzen aus dieser Provinz verboten und anschließend die Entfernung nur der befallenen Pflanzen angeordnet hatte, woraus eine gewisse Abstufung der erlassenen Maßnahmen hervorgeht. Sodann erlegte die Kommission die streitige Pflicht zur Entfernung nicht unter allen Umständen auf. Art. 7 des Beschlusses 2015/789 ermächtigt nämlich, abweichend von seinem Art. 6, die zuständigen nationalen Behörden nur in der Provinz Lecce – in der eine Tilgung nicht mehr möglich ist – zum Erlass von Eindämmungsmaßnahmen, die nicht in der Entfernung aller Wirtspflanzen in der Nähe befallener Pflanzen bestehen. Schließlich geht hinsichtlich der Frage, ob bei den Wirtspflanzen keine weniger belastenden Maßnahmen, wie die Maßnahmen des Beschneidens der Olivenbäume oder des Absägens ihrer Krone und einer Behandlung mit Pestiziden, getroffen werden könnten, aus dem Gutachten der EFSA hervor, dass es derzeit keine Behandlung gibt, um befallene Pflanzen vor Ort zu heilen. Kontaminierte Pflanzen bleiben zumeist ihr ganzes Leben befallen oder gehen rasch ein. Daher durfte die Kommission, auch wenn die Pflicht zur Entfernung aller in der Nähe befallener Pflanzen befindlichen Wirtspflanzen sowohl das Eigentumsrecht als auch die Umwelt in der Region Apulien beeinträchtigen kann, im Rahmen des ihr insoweit zustehenden weiten Ermessens nach Abwägung der verschiedenen betroffenen Interessen diese Pflicht auferlegen.

(vgl. Rn. 54, 55, 58-60, 62, 68, 70, 74-76, 80, 81)

6.        Der Unionsgesetzgeber kann im Rahmen des weiten Ermessens, über das er auf dem Gebiet der Agrarpolitik verfügt, die Auffassung vertreten, dass die teilweise oder vollständige Entschädigung der Inhaber von Betrieben, in denen Tiere vernichtet und geschlachtet werden, angebracht ist. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass es einen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz gäbe, der in jedem Fall zur Gewährung einer Entschädigung verpflichtete.

Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich der Entschädigungsanspruch nunmehr unmittelbar aus dem das Eigentumsrecht betreffenden Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergibt. Daher kann der bloße Umstand, dass weder die Richtlinie 2000/29 über Maßnahmen zum Schutz der Gemeinschaft gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Schadorganismen der Pflanzen und Pflanzenerzeugnisse noch der Durchführungsbeschluss 2015/789 über Maßnahmen zum Schutz der Union gegen die Einschleppung und Ausbreitung von Xylella fastidiosa selbst eine Entschädigungsregelung enthält oder ausdrücklich dazu verpflichtet, eine solche Regelung vorzusehen, nicht dahin ausgelegt werden, dass ein solcher Anspruch ausgeschlossen ist. Folglich kann der Beschluss nicht aus diesem Grund als ungültig angesehen werden.

(vgl. Rn. 84-86)

7.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 88-90)