SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE
vom 24. Januar 2019(1)
Rechtssache C‑689/17
Conti 11. Container Schiffahrts-GmbH & Co. KG MS „MSC Flaminia“
gegen
Land Niedersachsen
(Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts München I [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Basler Übereinkommen – Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 – Verbringung von Abfällen – Durch eine Havarie auf Hoher See bedingte Rückstände – Art. 1 Abs. 3 Buchst. b – Ausnahme vom Geltungsbereich – An Bord von Schiffen anfallende Abfälle“
1. Nachdem der Gerichtshof bisher noch keinen Anlass zur Auslegung von Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen(2) hatte, bieten ihm nun die vorliegende Rechtssache und die Rechtssache ReFood (C‑634/17)(3) die Gelegenheit zu wichtigen Klarstellungen zum Geltungsbereich dieser Bestimmung.
2. Im vorliegenden Fall ersucht das Landgericht München I (Deutschland) den Gerichtshof um Beantwortung der Frage, ob durch eine Havarie auf Hoher See(4) bedingte Rückstände in Form von Metallschrott und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers an Bord eines Schiffes unter Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 fallen, wonach diese Verordnung nicht für „Abfälle [gilt], die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen, und zwar bis zum Zeitpunkt des Abladens dieser Abfälle zwecks Verwertung oder Beseitigung“.
3. Die Frage der Auslegung von Art. 1 der Verordnung Nr. 1013/2006 stellt sich nicht nur zum ersten Mal, sie ist überdies auch heikel. Es ist nämlich nicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei der Bewirtschaftung von Abfällen und deren Verbringung insbesondere angesichts der Bedeutung des Umweltschutzes im Abfallbereich gegenwärtig um höchst sensible Probleme handelt.
4. Die mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen Schwierigkeiten sind umso größer, als sich die Havarie auf hoher See ereignet hat, deren Bewahrung für den Umweltschutz und insbesondere für den Schutz und den Erhalt der Tier- und Pflanzenwelt von entscheidender Bedeutung ist.
5. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich in erster Linie darlegen, dass in Anbetracht des Wortlauts von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 sowie des Systems und des Zwecks dieser Verordnung Abfälle wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, „Abfälle, die … an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen“, im Sinne dieser Bestimmung sind, für die diese Verordnung daher nicht gilt.
6. Der Gerichtshof ist im Lauf der Erörterungen ersucht worden, sich dazu zu äußern, ob Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 anwendbar ist, nachdem das Schiff und die Abfälle den Hafen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union erreicht haben; ich werde ihm vorschlagen, diese vom vorlegenden Gericht nicht gestellte Frage nicht zu beantworten oder sie zu verneinen, um den sehr klaren Wortlaut dieser Bestimmung zu beachten.
I. Rechtlicher Rahmen
A. Internationales Recht
7. Art. 1 des Übereinkommens über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung, unterzeichnet am 22. März 1989 in Basel und von der Gemeinschaft genehmigt durch den Beschluss des Rates 93/98/EWG vom 1. Februar 1993(5), legt den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fest. Hierzu sehen dessen Abs. 1 und 4 vor:
„(1) Folgende Abfälle, die Gegenstand grenzüberschreitender Verbringung sind, gelten im Sinne dieses Übereinkommens als ‚gefährliche Abfälle‘:
a) Abfälle, die einer in Anlage I enthaltenen Gruppe angehören, es sei denn, sie besitzen keine der in Anlage III aufgeführten Eigenschaften, und
b) Abfälle, die nicht unter Buchstabe a fallen, aber nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Vertragspartei, die Ausfuhr‑, Einfuhr- oder Durchfuhrstaat ist, als gefährliche Abfälle bezeichnet sind oder als solche gelten.
…
(4) Abfälle, die durch den üblichen Betrieb eines Schiffes entstehen und deren Einleiten durch eine andere internationale Übereinkunft geregelt ist, sind von dem Geltungsbereich dieses Übereinkommens ausgenommen.“
8. Art. 2 Nr. 3 dieses Übereinkommens lautet:
„Im Sinne dieses Übereinkommens
…
3. bedeutet ‚grenzüberschreitende Verbringung‘ jede Verbringung gefährlicher Abfälle oder anderer Abfälle aus einem der Hoheitsgewalt eines Staates unterstehenden Gebiet in oder durch ein der Hoheitsgewalt eines anderen Staates unterstehendes Gebiet oder in oder durch ein nicht der Hoheitsgewalt eines Staates unterstehendes Gebiet; in die Verbringung müssen mindestens zwei Staaten einbezogen sein“.
9. Art. 4 Abs. 1 und 2 Buchst. d des Basler Übereinkommens sieht vor:
„(1) a) Vertragsparteien, die ihr Recht wahrnehmen, die Einfuhr gefährlicher Abfälle oder anderer Abfälle zum Zweck ihrer Entsorgung zu verbieten, unterrichten die übrigen Vertragsparteien nach Artikel 13 von ihrem Beschluss.
b) Die Vertragsparteien verbieten oder erteilen keine Erlaubnis für die Ausfuhr gefährlicher Abfälle und anderer Abfälle in die Vertragsparteien, welche die Einfuhr solcher Abfälle verboten haben, wenn sie nach Buchstabe a davon in Kenntnis gesetzt worden sind.
c) Die Vertragsparteien verbieten oder erteilen keine Erlaubnis für die Ausfuhr gefährlicher Abfälle und anderer Abfälle, wenn der Einfuhrstaat nicht seine schriftliche Einwilligung zu der bestimmten Einfuhr erteilt hat, für den Fall, dass dieser Einfuhrstaat die Einfuhr dieser Abfälle nicht verboten hat.
(2) Jede Vertragspartei trifft geeignete Maßnahmen, um
…
d) sicherzustellen, dass die grenzüberschreitende Verbringung gefährlicher Abfälle und anderer Abfälle auf ein Mindestmaß beschränkt wird, das mit der umweltgerechten und wirksamen Behandlung solcher Abfälle vereinbar ist, und so durchgeführt wird, dass die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor den nachteiligen Auswirkungen, die dadurch entstehen können, geschützt sind“.
B. Unionsrecht
10. In den Erwägungsgründen 1, 3, 7 bis 9, 14 und 31 der Verordnung Nr. 1013/2006 heißt es:
„(1) Wichtigster und vorrangiger Zweck und Gegenstand dieser Verordnung ist der Umweltschutz; ihre Auswirkungen auf den internationalen Handel sind zweitrangig.
…
(3) … Durch Verabschiedung der Verordnung (EWG) Nr. 259/93[(6)] hat der Rat Regeln zur Beschränkung und Kontrolle solcher Verbringungen erstellt, die unter anderem darauf abzielen, das bestehende Gemeinschaftssystem für die Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen mit den Vorschriften des Basler Übereinkommens in Einklang zu bringen.
…
(7) Die Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen müssen so organisiert und geregelt werden, dass der Notwendigkeit, die Qualität der Umwelt und der menschlichen Gesundheit zu erhalten, zu schützen und zu verbessern, Rechnung getragen und eine gemeinschaftsweit einheitlichere Anwendung der Verordnung gefördert wird.
(8) Die in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe d des Basler Übereinkommens begründete Verpflichtung, die Verbringung gefährlicher Abfälle auf ein Mindestmaß zu beschränken, das mit der umweltgerechten und wirksamen Behandlung solcher Abfälle vereinbar ist, muss auch beachtet werden.
(9) Das in Artikel 4 Absatz 1 des Basler Übereinkommens verankerte Recht jeder Vertragspartei, die Einfuhr gefährlicher Abfälle oder von in Anhang II dieses Übereinkommens aufgeführten Abfällen zu verbieten, muss ebenfalls beachtet werden.
…
(14) Im Fall von Verbringungen von zur Beseitigung bestimmten Abfällen und von zur Verwertung bestimmten Abfällen, die nicht in den Anhängen III, III A oder III B aufgeführt sind, ist es zweckmäßig, ein Höchstmaß an Überwachung und Kontrolle sicherzustellen, indem die vorherige schriftliche Zustimmung solcher Verbringungen vorgeschrieben wird. Ein entsprechendes Verfahren sollte seinerseits die vorherige Notifizierung einschließen, damit die zuständigen Behörden angemessen informiert sind und sie alle zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt notwendigen Maßnahmen treffen können. Außerdem sollte es den zuständigen Behörden ermöglichen, begründete Einwände gegen eine derartige Verbringung zu erheben.
…
(31) Diese Verordnung sollte im Einklang mit dem internationalen Seerecht angewandt werden.“
11. In Art. 1 Abs. 1und 3 Buchst. a und b dieser Verordnung heißt es:
„(1) In dieser Verordnung werden Verfahren und Kontrollregelungen für die Verbringung von Abfällen festgelegt, die von dem Ursprung, der Bestimmung, dem Transportweg, der Art der verbrachten Abfälle und der Behandlung der verbrachten Abfälle am Bestimmungsort abhängen.
…
(3) Diese Verordnung gilt nicht für
a) das Abladen von Abfällen an Land, einschließlich der Abwässer und Rückstände, aus dem normalen Betrieb von Schiffen und Offshore-Bohrinseln, sofern diese Abfälle unter das Internationale Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe von 1973 in der Fassung des Protokolls von 1978 (Marpol 73/78)[(7)] oder andere bindende internationale Übereinkünfte fallen;
b) Abfälle, die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen, und zwar bis zum Zeitpunkt des Abladens dieser Abfälle zwecks Verwertung oder Beseitigung“.
12. Nach Art. 2 Nrn. 1 und 2 dieser Verordnung sind in deren Sinne
„1. ‚Abfälle‘ Abfälle im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2006/12/EG[(8)];
2. ‚gefährliche Abfälle‘ Abfälle im Sinne des Artikels 1 Absatz 4 der Richtlinie 91/689/EWG des Rates vom 12. Dezember 1991 über gefährliche Abfälle[(9)]“.
13. Nach Art. 2 Nr. 33 dieser Verordnung bezeichnet „‚Transport‘ die Beförderung von Abfällen auf der Straße, der Schiene, dem Luftweg, dem Seeweg oder Binnengewässern“.
14. Gemäß Art. 2 Nr. 34 der Verordnung Nr. 1013/2006 bedeutet „Verbringung“ in deren Sinne den Transport von zur Verwertung oder Beseitigung bestimmten Abfällen, der u. a. zwischen zwei Staaten oder aus einem geografischen Gebiet, das nicht der Gerichtsbarkeit eines Staates unterliegt, in einen Staat erfolgt oder erfolgen soll.
15. Nach Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung unterliegt die Verbringung von zur Beseitigung bestimmten Abfällen und von solchen, die zur Verwertung bestimmt sind – bei Letzteren, wenn es sich um Abfälle der Gelben Liste(10) handelt –, dem Verfahren der vorherigen schriftlichen Notifizierung und Zustimmung nach dieser Verordnung. Gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1013/2006 gelten die allgemeinen Informationspflichten gemäß deren Art. 18, sofern die Verbringung Gemische aus bestimmten Abfällen oder bestimmten kontaminierten Abfällen von mehr als 20 kg betrifft.
II. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
16. Das Motorschiff MSC Flaminia ist ein im maßgeblichen Zeitraum unter deutscher Flagge fahrendes Containerschiff und gehört der Conti 11. Container Schiffahrts-GmbH & Co. KG MS „MSC Flaminia“(11), der Klägerin des Ausgangsverfahrens.
17. Als dieses mit 4 808 Containern, davon 151 sogenannte Gefahrgutcontainer, beladene Schiff von Charleston (Vereinigte Staaten von Amerika) nach Antwerpen (Belgien) unterwegs war, brach am 14. Juli 2012 an Bord ein Feuer aus, bei dem es auch zu Explosionen kam.
18. Am 21. August 2012 erhielt Conti die Genehmigung, das Schiff in deutsche Gewässer schleppen zu lassen. Gemäß Schreiben des Havariekommandos (Deutschland) vom 25. August 2012 wurde die Klägerin verpflichtet, einen Plan für das weitere Vorgehen zu erstellen und etwaige Vertragspartner für die entsprechenden Maßnahmen zu benennen.
19. Am 8. September 2012 erreichte das Schiff seine vom Havariekommando vorgegebene Warteposition auf der Tiefenwasserreede westlich von Helgoland (Deutschland), und am 9. September 2012 wurde es nach Wilhelmshaven (Deutschland) geschleppt. Bei einer Besprechung mit den deutschen Behörden verpflichtete sich die Klägerin u. a., den sicheren Transfer der MSC Flaminia zur Reparaturwerft in Mangalia (Rumänien) und die ordnungsgemäße Behandlung der an Bord befindlichen Stoffe sicherzustellen.
20. Mit Schreiben vom 30. November 2012 teilte das Umweltministerium des Landes Niedersachsen (Deutschland) Conti mit, dass das Schiff selbst „bzw. das an Bord befindliche Löschwasser sowie die Schlämme und der Stahlschrott als Abfall einzustufen sind“ und dass daher ein Notifizierungsverfahren erforderlich sei. Mit Schreiben vom 3. Dezember 2012 wandte sich Conti gegen diese Bewertung.
21. Mit Bescheid vom 4. Dezember 2012 verpflichtete das Gewerbeaufsichtsamt Oldenburg (Deutschland) Conti, ein Notifizierungsverfahren wegen des an Bord befindlichen Metallschrotts und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers durchzuführen. Zudem wurde Conti untersagt, das Schiff vor Abschluss des Notifizierungsverfahrens und Vorlage eines prüffähigen Entsorgungskonzepts in deutscher Sprache von seinem gegenwärtigen Standort zu entfernen.
22. Nach Abschluss des Notifizierungsverfahrens für das Verbringen von Löschwasser nach Dänemark wurde am 18. Februar 2013 mit dem Abpumpen des Löschwassers begonnen. Nachdem absehbar war, wie viel Löschschlamm nicht abpumpbar war, wurde am 26. Februar 2013 das weitere Notifizierungsverfahren mit Rumänien eingeleitet.
23. Am 4. Januar 2013 legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 4. Dezember 2012 ein. Um Verzögerungen zu vermeiden, unterwarf sich die Klägerin unter Protest und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht dem Notifizierungsverfahren. Mit Schreiben vom 3. April 2013 erklärte das Gewerbeaufsichtsamt Oldenburg das Widerspruchsverfahren für erledigt.
24. Als Schadenspositionen behauptet die Klägerin vor dem vorlegenden Gericht u. a. die ihr entstandenen Kosten des Notifizierungsverfahrens. Die Bewertung der im Schiffsinneren befindlichen Stoffe als „Abfall“ und die daraus folgende Anordnung der Durchführung eines Notifizierungsverfahrens seien rechtswidrig gewesen.
25. Das vorlegende Gericht führt aus, soweit die Kosten für die Durchführung des Notifizierungsverfahrens als Schaden geltend gemacht würden, sei der Anspruch nur gegeben, wenn die Verordnung Nr. 1013/2006 auf die havariebedingten Rückstände im vorliegenden Fall nicht anwendbar wäre und die Kosten nur deshalb angefallen wären, weil das Gewerbeaufsichtsamt Oldenburg die Durchführung eines Notifizierungsverfahrens als erforderlich angesehen habe.
26. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 auf havariebedingte Rückstände anwendbar ist, so dass die Verbringung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rückstände vom Geltungsbereich dieser Verordnung ausgenommen wäre. Nach Ansicht dieses Gerichts ergibt sich weder aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 noch aus dessen Entstehungsgeschichte, noch aus der Systematik dieser Verordnung, dass havariebedingte Abfälle oder Rückstände von dieser Bestimmung erfasst sein sollten.
27. Unter diesen Umständen hat das Landgericht München I das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind havariebedingte Rückstände in Form von Metallschrott und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers an Bord eines Schiffes „Abfälle, die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen“, gemäß der Verordnung Nr. 1013/2006?
III. Würdigung
28. Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 auf die in Rede stehenden Abfälle – havariebedingte Rückstände in Form von Metallschrott und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers – anwendbar ist.
29. Somit betrifft diese Frage die sachliche Anwendbarkeit von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 auf Abfälle der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art.
30. Ich weise zudem darauf hin, dass das vorlegende Gericht in der Vorlageentscheidung ausdrücklich klargestellt hat, dass „die … Frage, ob Art. 1 Abs. 3 [Buchst.] b der [Verordnung Nr.] 1013/2006 in zeitlicher Hinsicht auch dann noch anzuwenden ist, wenn das Schiff einen sicheren Hafen erreicht und einen Teil der Abfälle bereits entladen hat, … dem Gerichtshof … nicht zur Entscheidung vorgelegt [wird]“. Folglich fragt dieses Gericht den Gerichtshof mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen unbestreitbar ausschließlich zur sachlichen Anwendbarkeit von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 im Rahmen der Prüfung der Anwendbarkeit der Verordnung zwischen dem Ort der Havarie und Deutschland.
31. Die Kommission hat dem Gerichtshof indes in ihren Schriftsätzen und in der Sitzung nahegelegt, sich auch zur Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf die nachfolgenden Verbringungen der Abfälle zu äußern.
32. Da die Verbringung der in Rede stehenden Abfälle in mehreren Abschnitten erfolgt ist, könnte sich in der Tat die Frage der Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 auch insoweit stellen(12). Aus Gründen, die ich in den Nrn. 75 bis 77 der vorliegenden Schlussanträge näher darlegen werde, bin ich jedoch der Auffassung, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, auf eine Frage zu antworten, die ihm nicht gestellt worden ist und die das vorlegende Gericht ausdrücklich vom Bereich des Vorabentscheidungsersuchens ausgenommen hat.
33. Demzufolge werde ich in einem ersten Schritt und in erster Linie die Vorlagefrage, wie sie das vorlegende Gericht gestellt hat, unter Beachtung der von diesem Gericht vorgenommenen Eingrenzung beantworten. In einem zweiten Schritt, aber nur hilfsweise, werde ich die Probleme prüfen, die durch die nach der Ankunft in Deutschland erfolgten Verbringungen aufgeworfen werden. Über die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage hinaus werde ich also klären, ob Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 auf die späteren Verbringungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Abfälle anwendbar ist.
A. Haupterwägungen
34. Die Antwort auf die Frage in ihrer vom vorlegenden Gericht gestellten Form und in dem von diesem selbst abgesteckten Rahmen ist meines Erachtens offensichtlich.
35. Zunächst weise ich darauf hin, dass die Einstufung der zur Beseitigung bestimmten Rückstände an Bord der MSC Flaminia als Abfälle vor dem Gerichtshof nicht erörtert worden ist(13) und im Übrigen auch nicht wirklich umstritten zu sein scheint. Nach Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1013/2006 gelten nämlich als Abfälle im Sinne dieser Verordnung die der Definition in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/12(14) entsprechenden Gegenstände. Wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, sind die in Rede stehenden Rückstände zur Beseitigung oder zur Verwertung bestimmt.
36. Hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 sind zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts die für die Auslegung des Unionsrechts geltenden Regeln in Erinnerung zu rufen.
37. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsrechtsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden(15). Da zudem Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 eine Ausnahme vom Geltungsbereich dieser Verordnung vorsieht, ist er grundsätzlich strikt auszulegen.
38. Während das Land Niedersachsen (Deutschland) und die Kommission geltend gemacht haben, dass der Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 allein keine Antwort auf die Vorlagefrage erlaube, halte ich dagegen diesen Wortlaut nicht für unklar.
39. Es ist nämlich festzustellen, dass sich der Unionsgesetzgeber auf die Angabe beschränkt hat, dass die Verordnung Nr. 1013/2006 nicht für „Abfälle [gilt], die … an Bord von … Schiffen anfallen, und zwar bis zum Zeitpunkt des Abladens dieser Abfälle zwecks Verwertung oder Beseitigung“.
40. Der Sinn der einzelnen Begriffe ist aber meines Erachtens eindeutig.
41. Der Begriff „Abfälle“ ist im Sinne seiner Definition in den Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Abfallbewirtschaftung zu verstehen. Demgemäß erfasst Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 notwendig alle Arten von Abfällen, sofern sie zur Beseitigung oder zur Verwertung bestimmt sind.
42. Zu dem Umstand, dass die hier in Rede stehenden Rückstände bei einer Havarie angefallen sind, weise ich darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber für die Geltung der Ausnahme nur verlangt, dass die Abfälle „an Bord [eines] Schiffe[s] an[ge]fallen“ sind. Im vorliegenden Fall haben sich die Havarie und die Brände unstreitig an Bord der MSC Flaminia ereignet, so dass diese Rückstände an Bord dieses Schiffes angefallen sind.
43. Da das vorlegende Gericht zu bezweifeln scheint, dass der Ausdruck „Abfälle, die … an Bord … anfallen“ solche Abfälle einschließt, die zufällig oder außerhalb des normalen Betriebs eines Schiffes anfallen, haben die Parteien des Ausgangsverfahrens und die Kommission erörtert, welche Bedeutung dem Umstand, dass die in Rede stehenden Abfälle nicht beim „normalen“ Betrieb des Schiffes, sondern „zufällig“ bei einer Havarie angefallen sind, für die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 zukommt.
44. Hierzu hat das Land Niedersachsen insbesondere geltend gemacht, die Entstehung von Abfällen bei einer Havarie sei derart ungewöhnlich, dass dieser Tatbestand zur Begründung einer Ausnahme von der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1013/2006 gesondert erwähnt werden müsste.
45. Dieses Vorbringen überzeugt mich nicht.
46. Die in der spanischen, der dänischen, der deutschen, der englischen, der französischen und der schwedischen Fassung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 verwendeten Begriffe – „generados“, „opstået“, „anfallen“, „generated“, „produits“ und „uppkommit“ – sprechen nicht für diese Auffassung. Keiner dieser Begriffe impliziert, dass die Abfälle im Rahmen des normalen Betriebs von Schiffen angefallen sein müssen. Im Gegenteil enthält der in der dänischen Sprachfassung verwendete Begriff „opstået“ eine Nuance, wonach die Abfälle nicht auf normale, sondern auf unvorhersehbare Art und Weise angefallen sind.
47. Zudem hat sich der Unionsgesetzgeber auf die Angabe des Ortes beschränkt, an dem die Abfälle angefallen sein müssen, ohne dass er besondere Anforderungen bezüglich der Umstände aufgestellt hätte, unter denen sie angefallen sein müssen. Somit kann der Ausdruck „Abfälle, die … an Bord … anfallen“ seiner gewöhnlichen Bedeutung nach nicht so verstanden werden, dass die Abfälle sich aus dem normalen Betrieb des Schiffes ergeben müssen.
48. Dies gilt umso mehr, als nicht geltend gemacht werden kann, dass der Unionsgesetzgeber den Fall von außerhalb des normalen Betriebs von Schiffen anfallenden Abfällen nicht ins Auge gefasst habe, denn er hat eine solche Klarstellung in Art. 1 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 1013/2006 vorgenommen.
49. Der von der Kommission hervorgehobene Umstand, dass hier die Abfälle zu Beginn der Fahrt des Schiffes noch nicht vorgelegen hätten, ist meines Erachtens nicht entscheidend. Denn der Ausdruck „an Bord … anfallen“ setzt voraus, dass die Abfälle während der Fahrt angefallen sind. Im Übrigen verlangt der in Art. 2 Nr. 34 der Verordnung Nr. 1013/2006 definierte Begriff „Verbringung“ nicht, dass sich die Abfälle vor Beginn der Fahrt an Bord des Schiffes befunden haben müssen, und bedeutet daher, dass auch unvorhergesehene Verbringungen und zufällig angefallene Abfälle erfasst sind.
50. Da der Unionsgesetzgeber demnach keine Unterscheidung nach Maßgabe der Art der Abfälle oder der Umstände ihres Anfallens getroffen hat, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006, dass diese Bestimmung auf havariebedingte Rückstände in Form von Metallschrott und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers anwendbar ist.
51. Diese Auslegung wird durch die Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 1013/2006 sowie deren System und Zweck bestätigt.
52. Auch wenn, erstens, die Analyse der Vorarbeiten zu dieser Verordnung als solche allein für die Auslegung ihres Art. 1 Abs. 3 Buchst. b nicht ausschlaggebend ist, ist sie doch insoweit nicht ohne Bedeutung.
53. Nachdem in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b des Vorschlags der Kommission, der zum Erlass der Verordnung Nr. 1013/2006 führte(16), vorgesehen gewesen war, dass die Verordnung nicht für „die Verbringung von Abfällen, die an Bord ziviler Luftfahrzeuge beim Flug anfallen, für die Dauer des Fluges bis zur Landung“(17) gelten sollte, schlug das Parlament in zweiter Lesung vor, diese Ausnahme auf Abfälle zu erstrecken, die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Schiffen anfallen, und zwar mit der Begründung, dass „[d]ie Ausnahmeregelung für Abfälle, die an Bord von Luftfahrzeugen anfallen, … auf sämtliche Transportmittel ausgeweitet werden [sollte], da ansonsten die Anforderungen dieser Verordnung für Abfälle, die in Fahrzeugen anfallen, die keine Flugzeuge sind, unangemessen wären“(18).
54. Weder im ursprünglichen Vorschlag der Kommission noch in den vom Parlament vorgeschlagenen Änderungen, noch in den Erläuterungen zu diesen Vorschlägen ist indes von einem Willen des Unionsgesetzgebers die Rede, bestimmte Abfälle vom Geltungsbereich des Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 auszunehmen und diesen auf die im Rahmen des normalen Betriebs der genannten Transportmittel anfallenden Abfälle zu begrenzen.
55. Wie das Land Niedersachsen vorgetragen hat, deutet zwar die Formulierung der in der Verordnung Nr. 259/93 normierten Ausnahme für die Zivilluftfahrt darauf hin, dass vor allem die an Bord von Luftfahrzeugen und während des Fluges anfallenden Abfälle erfasst sein sollten. Ich stelle jedoch fest, dass der Unionsgesetzgeber in keiner Weise die Art dieser Abfälle noch auch die Umstände, unter denen sie angefallen sein müssen, festgelegt hat.
56. Ferner weise ich darauf hin, dass die Ausnahme erheblich erweitert wurde und nicht nur mehr die Zivilluftfahrt, sondern die an Bord verschiedener Transportmittel, darunter Luftfahrzeuge, anfallenden Abfälle erfasst. Mit der Erstreckung der in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 vorgesehenen Ausnahme auf andere Transportmittel hat daher der Unionsgesetzgeber meines Erachtens notwendig die Abfälle einbezogen, die speziell an Bord jedes dieser Transportmittel anfallen können. Somit kann die vom vorlegenden Gericht angestellte Erwägung, dass Havarien im Luftverkehr wegen ihrer Seltenheit nicht unter diese Verordnung fielen, nichts an der sich aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 ergebenden Auslegung dieser Bestimmung ändern.
57. Zweitens bestätigt auch die systematische Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 die aus dessen Wortlaut folgende Auslegung.
58. Zum einen bin ich wie Conti der Ansicht, dass sich aus dem Vergleich zwischen der Ausnahme nach Buchst. a und der nach Buchst. b des Art. 1 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1013/2006 ergibt, dass der Unionsgesetzgeber bei der zweiten Ausnahme keine Beschränkung hinsichtlich der Art des Anfallens der Abfälle vornehmen wollte.
59. Zum anderen stimme ich mit der Kommission darin überein, dass die Ausnahme nach Art. 1 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 1013/2006, da mit ihr ein Überlappen zwischen den Rechtsvorschriften über die Verbringung von Abfällen und der Richtlinie 2000/59/EG(19) verhindert werden soll, für die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung nicht relevant ist.
60. Die Reichweite von Art. 1 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 1013/2006 wird nämlich unter Bezugnahme auf das Marpol-Übereinkommen bestimmt. Die Richtlinie 2000/59, die auf die von diesem Übereinkommen erfassten durch den normalen Schiffsbetrieb anfallenden Abfälle anwendbar ist(20), verpflichtet aber die Mitgliedstaaten zur Bereitstellung und Inanspruchnahme von Hafenauffangeinrichtungen für Schiffsabfälle. Damit gewährleistet der Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 1013/2006, dass für aus dem normalen Betrieb eines Schiffes stammende Abfälle ausschließlich die Richtlinie 2000/59 gilt.
61. Drittens kann auch die Berücksichtigung der Ziele der Verordnung Nr. 1013/2006 und insbesondere des Ziels des Umweltschutzes(21) nichts an der sich aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 ergebenden Auslegung dieser Bestimmung ändern.
62. In dieser Hinsicht halte ich das Vorbringen der Kommission für besonders überzeugend.
63. So bin ich wie die Kommission der Ansicht, dass es wegen des plötzlichen und unvorhersehbaren Eintritts einer Havarie in der Praxis für den Kapitän eines Schiffes sehr schwer, wenn nicht unmöglich wäre, vor dem Einlaufen in einen Hafen über die Informationen zu verfügen, die für die Notifizierung nach der Verordnung Nr. 1013/2006 erforderlich sind(22).
64. Zudem erfordert es der Zweck der Ausnahme nach Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006, diese Bestimmung so auszulegen, dass die Verweildauer von bei einer Havarie angefallenen Abfällen an Bord eines Schiffes begrenzt wird.
65. Die Annahme ist nämlich nicht abwegig, dass die Anwendung dieser Verordnung auf Abfälle, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, eine Verzögerung des Einlaufens des diese Abfälle befördernden Schiffes in den nächstgelegenen Hafen und so faktisch eine Erhöhung des Risikos eines Verbleibs der Abfälle auf See bewirken würde. Wie die Kommission zu Recht geltend gemacht hat, würde dies aber dem mit der Verordnung Nr. 1013/2006 verfolgten Ziel des Umweltschutzes zuwiderlaufen.
66. Dagegen halte ich das vom Land Niedersachsen angesprochene Risiko für hypothetisch.
67. Unter Berufung auf das Ziel dieser Verordnung und den Grundsatz der strikten Auslegung von Ausnahmebestimmungen hat das Land Niedersachsen insbesondere ausgeführt, bei fehlender Kenntnis des Mitgliedstaats von diesen Abfällen könne dieser die davon ausgehenden Risiken, insbesondere für die Umwelt, nicht abschätzen. Somit müsse verhindert werden, dass der Kapitän des Schiffes allein über den Umgang mit den Abfällen entscheide, denn dies würde die Gefahr heraufbeschwören, dass mit Abfällen beladene Schiffe weiterführen, um diese anderswo kostengünstiger oder illegal zu entsorgen.
68. Hierzu weise ich zum einen darauf hin, dass das Notifizierungsverfahren nach der Verordnung Nr. 1013/2006 keineswegs vor der Gefahr schützt, dass mit Abfällen beladene Schiffe ihre Fahrt fortsetzen, um diese anderswo kostengünstiger oder illegal zu entsorgen. Demnach kann die Anwendung dieses Verfahrens nicht bewirken, dass der Kapitän eines Schiffes davon abgeschreckt wird, Abfälle illegal zu entsorgen oder zu versuchen, sie kostengünstiger als innerhalb der Union zu entsorgen. Im Gegenteil ist nicht ausgeschlossen, dass die Kosten dieses Verfahrens als Anreiz für ein solches Verhalten wirken.
69. Zum anderen dürfen angesichts der Verpflichtungen, die das internationale Recht sowohl den Staaten als auch den im maritimen Bereich tätigen Privaten auferlegt und die mitunter in Rechtsakte der Union übernommen worden sind(23), die durch die Nichtanwendung der Verordnung Nr. 1013/2006 geschaffenen Risiken(24) meines Erachtens nicht übertrieben werden.
70. Was zunächst die absichtliche Einleitung von Abfällen angeht, sollen nämlich mit der Londoner Konvention vom 29. Dezember 1972 über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen in der durch das Londoner Protokoll von 1996 geänderten Fassung eine wirksame Kontrolle der verschiedenen Quellen der Meeresverschmutzung und Maßnahmen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen, verstanden als absichtliches Einbringen, von Abfällen eingeführt werden. Im Rahmen dieser Konvention ist das Einbringen grundsätzlich verboten, kann aber ausnahmsweise genehmigt werden. Die Beachtung der Bestimmungen dieser Konvention obliegt u. a. dem Flaggenstaat, der jedenfalls verpflichtet ist, im Fall von Verstößen gegen die Bestimmungen der Konvention(25) Sanktionen zu verhängen. Im Unionsrecht verpflichtet die Richtlinie 2005/35/EG(26) die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass von Schiffen ausgehende Einleitungen von Schadstoffen in einem der in ihr genannten Gebiete als Verstöße betrachtet werden, wenn sie auf Vorsatz, Leichtfertigkeit oder grobe Fahrlässigkeit zurückzuführen sind, und so zu gewährleisten, dass solche Einleitungen nicht straflos bleiben(27).
71. Sodann wird das vom Land Niedersachsen angeführte Risiko auch durch die Pflichten begrenzt, die das internationale Recht und insbesondere Art. 94 des Übereinkommens von Montego Bay dem Flaggenstaat auferlegen(28). Nach dieser Bestimmung muss der Flaggenstaat neben dem Erlass von Maßnahmen, die zur Gewährleistung der Sicherheit auf See durch Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen erforderlich sind, über jeden Seeunfall oder jedes andere mit der Führung eines Schiffes zusammenhängende Ereignis auf hoher See, an dem ein seine Flagge führendes Schiff beteiligt war und wodurch schwere Schäden an der Meeresumwelt verursacht wurden, eine Untersuchung durchführen. Im Unionsrecht ist den Pflichten des Flaggenstaats nach internationalem Recht und insbesondere im Rahmen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation durch die Richtlinie 2009/21/EG(29) größere Wirksamkeit verschafft worden, deren Ziel es nach ihrem Art. 1 Abs. 1 ist, sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten ihren Pflichten als Flaggenstaaten wirksam und beständig nachkommen, sowie die Sicherheit zu erhöhen und die Umweltverschmutzung durch Schiffe, die die Flagge eines Mitgliedstaats führen, zu vermeiden.
72. Schließlich erlauben es auch andere Regelungen wie der Internationale Code für die Beförderung gefährlicher Güter mit Seeschiffen oder der Internationale Code für Maßnahmen zur Organisation eines sicheren Schiffsbetriebs und zur Verhütung der Meeresverschmutzung(30), die Verschmutzungsrisiken durch den Erlass von Regeln für die Seeschifffahrtsunternehmen oder für die Schiffskapitäne zu verringern.
73. Aus allen diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Frage des Landgerichts München I in erster Linie zu antworten, dass havariebedingte Rückstände in Form von Metallschrott und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers an Bord eines Schiffes „Abfälle, die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen“, gemäß Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 sind.
74. Hilfsweise werde ich im folgenden Abschnitt auf die Auslegung dieser Bestimmung in Bezug auf den zweiten Teil der Beförderung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Abfälle eingehen.
B. Hilfserwägungen
75. Was zum einen die Verbringung des abgepumpten Löschwassers nach Dänemark und zum anderen die der nicht in Deutschland abgeladenen Abfälle nach Rumänien betrifft, hat das vorlegende Gericht wie bereits dargelegt diesen Teil der durch den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens aufgeworfenen Problematik vom Bereich des Vorabentscheidungsersuchens ausgenommen.
76. Nach ständiger Rechtsprechung obliegt es zwar dem Gerichtshof, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben, indem er aus der Begründung der Vorlageentscheidung diejenigen Elemente des Unionsrechts, die angesichts des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen, herausarbeitet und gegebenenfalls die Vorlagefragen umformuliert(31).
77. Angesichts des Gegenstands des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren darf allerdings gefragt werden, ob die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 durch den Gerichtshof zum Zweck der Feststellung, ob diese Bestimmung auf die an das Auslaufen aus dem deutschen Hafen anschließende Verbringung der in Rede stehenden Abfälle anwendbar ist, für das vorlegende Gericht wirklich sachdienlich wäre. Wie nämlich aus der Darstellung dieses Rechtsstreits hervorzugehen scheint, begehrt Conti vor den deutschen Gerichten Ersatz verschiedener Schäden, darunter des Schadens, der den Kosten des von den deutschen Behörden vorgeschriebenen Notifizierungsverfahrens entspricht. Was hingegen die Fahrt zwischen Deutschland und Rumänien angeht, so betrifft die Frage der Erforderlichkeit eines Notifizierungsverfahrens nur die rumänischen Behörden.
78. Sollte sich der Gerichtshof gleichwohl gehalten sehen, Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 im Hinblick darauf auszulegen, ob diese Bestimmung auf die weitere Verbringung der Abfälle aus dem deutschen Hafen nach Dänemark und nach Rumänien anwendbar ist, weise ich auf deren sehr klaren Wortlaut hin.
79. So gilt die Ausnahme nach Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 „bis zum Zeitpunkt des Abladens dieser Abfälle zwecks Verwertung oder Beseitigung“. Nach der Bedeutung des Begriffs „Abladen“(32) setzt diese Bestimmung notwendig voraus, dass die Abfälle das Schiff verlassen haben und an Land gebracht worden sind, um verwertet oder beseitigt zu werden(33).
80. Demnach ist der von der Kommission befürworteten Auslegung dahin, dass der Begriff „Abladen“ im Sinne von „bis zum ersten Heimathafen“ zu verstehen sei, weil die Verordnung Nr. 1013/2006 im Einklang mit dem Basler Übereinkommen ausgelegt werden müsse, nicht zu folgen.
81. Nach ständiger Rechtsprechung gebietet es zwar der Vorrang der von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge vor den Bestimmungen des abgeleiteten Rechts, Letztere in Übereinstimmung mit diesen Verträgen auszulegen(34), doch wird eine solche konforme Auslegung nur „nach Möglichkeit“ verlangt.
82. Im vorliegenden Fall lässt sich aber Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 meines Erachtens nicht so auslegen, dass sein Wortlaut mit dem Basler Übereinkommen in Einklang gebracht werden kann.
83. Nach seinen Art. 1 und 2 Nr. 3 findet dieses Übereinkommen nämlich Anwendung auf Abfälle, die aus einem der Hoheitsgewalt eines Staates unterstehenden Gebiet in ein der Hoheitsgewalt eines anderen Staates unterstehendes Gebiet verbracht werden, was hier bei der Verbringung von Deutschland nach Dänemark(35) und nach Rumänien der Fall ist.
84. Dagegen ergibt die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006, dass dieser seinem Wortlaut nach nicht für die Verbringung der an Bord der MSC Flaminia verbliebenen Abfälle gilt, da diese erst bei ihrer Ankunft in Rumänien abgeladen wurden(36).
85. Demzufolge würde eine Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 im Einklang mit dem Basler Übereinkommen den Sinn dieser Bestimmung grundlegend verändern, dem vom Unionsgesetzgeber gewählten Wortlaut zuwiderlaufen(37) und zudem ein echtes Problem der Rechtssicherheit aufwerfen(38).
86. Im Übrigen scheint mir die Kommission mit der Bemerkung in ihren schriftlichen Erklärungen, dass „[e]ine Gleichsetzung der Einfahrt in einen Hafen mit dem ‚Abladen‘ … schwerlich mit diesem eindeutigen Wortlaut vereinbar [erscheint]“, einzuräumen, dass eine solche Auslegung im Einklang mit dem Basler Übereinkommen nicht in Betracht kommt.
87. Aus allen diesen Gründen könnte sich die Frage stellen, ob Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 im Einklang mit den Bestimmungen des Basler Übereinkommens steht.
88. Gleichwohl lege ich dem Gerichtshof nicht nahe, von Amts wegen die Gültigkeit von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 im Hinblick auf das Basler Übereinkommen zu prüfen.
89. Erstens stelle ich nämlich fest, dass dann, wenn die Frage der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Bestimmung offensichtlich oder zwischen den Zeilen aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, die Mitgliedstaaten und die Betroffenen sich für die Abgabe von Erklärungen entscheiden können, damit diese Frage nicht nur zwischen den Parteien erörtert wird(39), sondern sich auch der Urheber des Unionsrechtsakts am Verfahren beteiligt und Erklärungen hierzu abgeben kann(40). Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft aber ausschließlich die Auslegung der Ausnahmebestimmung des Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006, und die Frage der Gültigkeit dieser Bestimmung geht weder offensichtlich noch implizit aus der Vorlageentscheidung hervor, so dass sie zum einen nicht zwischen den Verfahrensbeteiligten erörtert worden ist(41) und zum anderen weder das Parlament noch der Rat, die indes die Urheber dieser Verordnung sind, am Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligt waren.
90. Zweitens ist die Gültigkeit dieser Bestimmung nur hinsichtlich der Verbringung der Abfälle zwischen Deutschland und Rumänien erheblich. Wie ich in Nr. 77 der vorliegenden Schlussanträge hervorgehoben habe, begehrt Conti Ersatz des Schadens, der ihr wegen der Kosten des von den deutschen Behörden vorgeschriebenen Notifizierungsverfahrens entstanden ist. Abgesehen davon, dass Conti keinerlei Interesse daran hätte, dass der Gerichtshof die Ungültigkeit von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 und die Notwendigkeit eines Notifizierungsverfahrens für die nach Rumänien verbrachten Abfälle feststellte, wäre eine solche Feststellung somit im Ausgangsverfahren auch in keiner Weise sachdienlich(42).
91. Unter diesen Umständen erscheint es mir mit der Rolle des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV unvereinbar, dass dieser von Amts wegen über die Gültigkeit dieser Bestimmung entscheidet.
92. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass unter Berücksichtigung der Natur und des Systems des Basler Übereinkommens sowie der Tatsache, dass Privaten aus diesem Übereinkommen grundsätzlich keine eigenständigen Rechte und Freiheiten erwachsen, dessen Bestimmungen nicht als Grundlage für eine Prüfung der Gültigkeit von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 dienen können(43).
93. Da die an Bord der MSC Flaminia von Deutschland nach Rumänien verbrachten Abfälle nicht abgeladen worden sind, gilt somit die Ausnahme nach Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 fort, so dass diese Verordnung auf diese Verbringung nicht anwendbar ist.
IV. Ergebnis
94. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Landgerichts München I (Deutschland) wie folgt zu beantworten:
Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen ist dahin auszulegen, dass havariebedingte Rückstände in Form von Metallschrott und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers an Bord eines Schiffes „Abfälle, die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen“, gemäß dieser Bestimmung sind.