Language of document : ECLI:EU:C:2019:420

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

16. Mai 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Verbringung von Abfällen – Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 – Abfälle, die dem Verfahren der vorherigen schriftlichen Notifizierung und Zustimmung unterliegen – Verbringungen innerhalb der Europäischen Union – Art. 1 Abs. 3 Buchst. b – Ausnahme vom Anwendungsbereich – Abfälle, die an Bord von Schiffen anfallen – Abfälle, die infolge einer Havarie an Bord von Schiffen anfallen“

In der Rechtssache C‑689/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht München I (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. November 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Dezember 2017, in dem Verfahren

Conti 11. Container Schiffahrts-GmbH & Co. KG MS „MSC Flaminia“

gegen

Land Niedersachsen

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Juhász , M. Ilešič und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,


Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Oktober 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Conti 11. Container Schiffahrts-GmbH & Co. KG MS „MSC Flaminia“, vertreten durch die Rechtsanwälte J.‑E. Pötschke und W. Steingröver,

–        des Landes Niedersachsen, vertreten durch R. van der Hout, advocaat, und Rechtsanwalt H. Jacobj,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. C. Becker, E. Sanfrutos Cano und L. Haasbeek als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Januar 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen (ABl. 2006, L 190, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Conti 11. Container Schiffahrts-GmbH & Co. KG MS „MSC Flaminia“ (im Folgenden: Conti) und dem Land Niedersachsen (Deutschland). Gegenstand dieses Rechtsstreits ist die Conti vom Land Niedersachsen auferlegte Verpflichtung, wegen des Transports von Abfällen, die sich nach einer Havarie an Bord des Schiffs „MSC Flaminia“ (im Folgenden: „Flaminia“) befanden, ein Notifizierungsverfahren durchzuführen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Abfallrichtlinien

3        Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 über Abfälle (ABl. 2006, L 114, S. 9) sah vor:


„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

a)      ‚Abfall‘: alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss;

…“

4        Art. 3 der Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien (ABl. 2008, L 312, S. 3), durch die die Richtlinie 2006/12 aufgehoben wurde, bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Abfall‘ jeden Stoff oder Gegenstand, dessen sich sein Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss;

…“

 Verordnung Nr. 1013/2006

5        In den Erwägungsgründen 1, 7 und 14 der Verordnung Nr. 1013/2006 heißt es:

„(1) Wichtigster und vorrangiger Zweck und Gegenstand dieser Verordnung ist der Umweltschutz; ihre Auswirkungen auf den internationalen Handel sind zweitrangig.

(7)       Die Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen müssen so organisiert und geregelt werden, dass der Notwendigkeit, die Qualität der Umwelt und der menschlichen Gesundheit zu erhalten, zu schützen und zu verbessern, Rechnung getragen und eine [unions]weit einheitlichere Anwendung der Verordnung gefördert wird.

(14) Im Fall von Verbringungen von zur Beseitigung bestimmten Abfällen und von zur Verwertung bestimmten Abfällen, die nicht in den Anhängen III, IIIA oder IIIB aufgeführt sind, ist es zweckmäßig, ein Höchstmaß an Überwachung und Kontrolle sicherzustellen, indem die vorherige schriftliche Zustimmung solcher Verbringungen vorgeschrieben wird. Ein entsprechendes Verfahren sollte seinerseits die vorherige Notifizierung einschließen, damit die zuständigen Behörden angemessen informiert sind und sie alle zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt notwendigen Maßnahmen treffen können. Außerdem sollte es den zuständigen Behörden ermöglichen, begründete Einwände gegen eine derartige Verbringung zu erheben.“

6        Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„(1) In dieser Verordnung werden Verfahren und Kontrollregelungen für die Verbringung von Abfällen festgelegt, die von dem Ursprung, der Bestimmung, dem Transportweg, der Art der verbrachten Abfälle und der Behandlung der verbrachten Abfälle am Bestimmungsort abhängen.

(3) Diese Verordnung gilt nicht für

a)      das Abladen von Abfällen an Land, einschließlich der Abwässer und Rückstände, aus dem normalen Betrieb von Schiffen und Offshore-Bohrinseln, sofern diese Abfälle unter das Internationale Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe[, unterzeichnet am 2. November 1973 in London, ergänzt durch das Protokoll vom 17. Februar 1978] (Marpol 73/78)[,] oder andere bindende internationale Übereinkünfte fallen;

b)      Abfälle, die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen, und zwar bis zum Zeitpunkt des Abladens dieser Abfälle zwecks Verwertung oder Beseitigung;

…“

7        In Art. 2 der Verordnung Nr. 1013/2006 heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

1.      ‚Abfälle‘ Abfälle im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie [2006/12];

34.      ‚Verbringung‘ den Transport von zur Verwertung oder Beseitigung bestimmten Abfällen …

…“

8        Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Die Verbringung folgender Abfälle unterliegt dem Verfahren der vorherigen schriftlichen Notifizierung und Zustimmung im Sinne der Bestimmungen dieses Titels:


a)      falls zur Beseitigung bestimmt:

alle Abfälle;

b)      falls zur Verwertung bestimmt:

i)      in Anhang IV aufgeführte Abfälle, einschließlich u. a. der in den Anhängen II und VIII des Basler Übereinkommens [über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung, unterzeichnet am 22. März 1989, genehmigt im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch den Beschluss 93/98/EWG des Rates vom 1. Februar 1993 (ABl. 1993, L 39, S. 1)] aufgeführten Abfälle;

ii)      in Anhang IV A aufgeführte Abfälle;

iii)      nicht als Einzeleintrag in Anhang III, IIIB, IV oder IVA eingestufte Abfälle;

iv)      nicht als Einzeleintrag in Anhang III, IIIB, IV oder IVA eingestufte Abfallgemische, sofern sie nicht in Anhang IIIA aufgeführt sind.“

9        Art. 4 der Verordnung Nr. 1013/2006 sieht vor:

„Beabsichtigt der Notifizierende die Verbringung von Abfällen gemäß Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a oder b, so muss er bei und über die zuständige Behörde am Versandort eine vorherige schriftliche Notifizierung einreichen und im Falle einer Sammelnotifizierung Artikel 13 beachten.

Bei der Einreichung einer Notifizierung sind folgende Voraussetzungen zu erfüllen:

1.      Notifizierungs- und Begleitformulare:

Die Notifizierung erfolgt anhand folgender Unterlagen:

a)      Notifizierungsformular gemäß Anhang IA und

b)      Begleitformular gemäß Anhang IB.

Bei der Einreichung einer Notifizierung füllt der Notifizierende das Notifizierungsformular und – soweit relevant – das Begleitformular aus.


Das Notifizierungsformular und das Begleitformular werden an den Notifizierenden von der zuständigen Behörde am Versandort herausgegeben.

…“

 Deutsches Recht

10      Nach § 2 Abs. 2 Nr. 13 des Gesetzes zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (Kreislaufwirtschaftsgesetz – KrWG) vom 24. Februar 2012 (BGBl. 2012 I S. 212) gelten die Vorschriften dieses Gesetzes nicht für die Erfassung und Übergabe von Schiffsabfällen und Ladungsrückständen, soweit dies aufgrund internationaler oder supranationaler Übereinkommen durch Bundes- oder Landesrecht geregelt wird.

11      § 32 des Niedersächsischen Abfallgesetzes bestimmt:

„Im Sinne der Vorschriften dieses Gesetzes sind

6.      Schiffsabfälle

a)      alle Abfälle (einschließlich Abwasser und Rückständen außer Ladungsrückständen), die im Zusammenhang mit dem Schiffsbetrieb anfallen und in den Anwendungsbereich der Anlagen I, IV und V des [Marpol-Übereinkommens 73/78] fallen, sowie

b)      ladungsbezogene Abfälle im Sinne der Nummer 1.7.5 der Richtlinien für die Durchführung des [Marpol-Übereinkommens 73/78];

7.      Ladungsrückstände: die nach Abschluss der Lösch- und Reinigungsverfahren an Bord in Laderäumen oder Tanks befindlichen Reste von Ladungen sowie die beim Laden oder Löschen verursachten Überreste und Überläufe.“

12      Gemäß § 35 Abs. 1 des Niedersächsischen Abfallgesetzes ist die Schiffsführerin oder der Schiffsführer verpflichtet, alle an Bord befindlichen Schiffsabfälle vor dem Auslaufen aus dem Hafen in eine Hafenauffangeinrichtung zu entladen. § 36 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht die gleiche Verpflichtung in Bezug auf Ladungsrückstände vor.


 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

13      Die „Flaminia“ ist ein Conti gehörendes Containerschiff, das im für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum unter deutscher Flagge fuhr.

14      Als die „Flaminia“ am 14. Juli 2012 beladen mit 4 808 Containern, davon 151 sogenannte Gefahrgutcontainer, von Charleston (Vereinigte Staaten) nach Antwerpen (Belgien) unterwegs war, brach an Bord ein Feuer aus, bei dem es zu Explosionen kam. Nachdem der Brand gelöscht worden war, erhielt Conti am 21. August 2012 die Genehmigung, das Schiff in deutsche Hoheitsgewässer zu schleppen. Gemäß Schreiben des Havariekommandos (Deutschland) vom 25. August 2012 wurde Conti verpflichtet, einen Plan für das weitere Vorgehen zu erstellen und etwaige Vertragspartner für die entsprechenden Maßnahmen zu benennen.

15      Am 9. September 2012 wurde die „Flaminia“ nach Wilhelmshaven (Deutschland) geschleppt.

16      Conti verpflichtete sich gegenüber den deutschen Behörden u. a., den sicheren Transfer der „Flaminia“ zu einer Reparaturwerft in Mangalia (Rumänien) und die ordnungsgemäße Behandlung der an Bord befindlichen Stoffe sicherzustellen.

17      Mit Schreiben vom 30. November 2012 teilte das Niedersächsische Umweltministerium (Deutschland) Conti mit, dass das Schiff selbst „bzw. das an Bord befindliche Löschwasser sowie die Schlämme und der Stahlschrott als Abfall einzustufen sind“ und dass daher ein Notifizierungsverfahren erforderlich sei. Mit Schreiben vom 3. Dezember 2012 wandte sich Conti gegen diese Bewertung.

18      Mit Bescheid vom 4. Dezember 2012 verpflichtete das Gewerbeaufsichtsamt Oldenburg (Deutschland) (im Folgenden: Gewerbeaufsichtsamt) Conti, ein Notifizierungsverfahren wegen des an Bord der „Flaminia“ befindlichen Metallschrotts und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers durchzuführen. Zudem wurde Conti untersagt, das Schiff vor Abschluss des Notifizierungsverfahrens und Vorlage eines prüffähigen Entsorgungskonzepts in deutscher Sprache zu entfernen.

19      Am 21. Dezember 2012 war die intakte Ladung gelöscht und die Seetüchtigkeit der „Flaminia“ bis zu einer Wellenhöhe von 6 m bestätigt.

20      Ein Notifizierungsverfahren für das Verbringen des Löschwassers nach Dänemark wurde eingeleitet und abgeschlossen. Mit dem Abpumpen des Löschwassers wurde am 18. Februar 2013 begonnen. Nachdem absehbar war, wie viel Löschschlamm nicht abpumpbar war, wurde am 26. Februar 2013 das weitere Notifizierungsverfahren mit Rumänien eingeleitet.

21      Die für den 4. März 2013 beantragte Auslaufgenehmigung wurde am 1. März 2013 erteilt. Vor dem Auslaufen mussten jedoch 30 Container mit Abfällen entladen werden, was bis 7. März 2013 dauerte. Nachdem das Notifizierungsverfahren mit Rumänien abgeschlossen war, konnte die „Flaminia“ ihre Reise am 15. März 2013 antreten. In Rumänien wurde festgestellt, dass ca. 24 000 t Abfälle an Bord waren.

22      Am 4. Januar 2013 legte Conti beim Gewerbeaufsichtsamt Widerspruch gegen den Bescheid vom 4. Dezember 2012 ein. Sie machte im Wesentlichen geltend, dass sie nicht zu dem nach der Verordnung Nr. 1013/2006 vorgesehenen Notifizierungsverfahren hätte verpflichtet werden dürfen, da sie nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung falle, und dass sie sich diesem Verfahren nur unterworfen habe, um Verzögerungen zu vermeiden. Mit Schreiben vom 3. April 2013 erklärte das Gewerbeaufsichtsamt das Widerspruchsverfahren für erledigt.

23      Conti erhob daraufhin beim vorlegenden Gericht Klage mit dem Antrag, das Land Niedersachsen zum Ersatz der ihr entstandenen Schäden zu verurteilen, die sich insbesondere aus den ihr entstandenen Kosten der Notifizierungsverfahren ergäben. Sie ist der Auffassung, die Bewertung der im Schiffsinneren befindlichen Stoffe als Abfall und der daraus folgenden Anordnung zur Durchführung dieser Verfahren seien rechtswidrig gewesen. Ein Entsorgungskonzept nach nationalem Recht könne nicht verlangt werden, da die Verordnung Nr. 1013/2006 der Anwendung nationalen Rechts entgegenstehe, wenn Abfall an Bord eines Schiffes in einem anderen Mitgliedstaat verwertet oder beseitigt werden solle.

24      Das vorlegende Gericht führt aus, soweit die Kosten für die Durchführung des Notifizierungsverfahrens als Schaden geltend gemacht würden, sei der Anspruch nur gegeben, wenn die Verordnung Nr. 1013/2006 auf die durch die Havarie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Schiffs angefallenen Rückstände nicht anwendbar wäre. Die Kosten seien nämlich nur deshalb angefallen, weil das Gewerbeaufsichtsamt die Durchführung eines Notifizierungsverfahrens als erforderlich angesehen habe.

25      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts war ein Notifizierungsverfahren nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1013/2006 erforderlich, da Abfälle von Deutschland nach Rumänien verbracht werden sollten. Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob die Ausnahmebestimmung des Art. 1 Abs. 3 Buchst. b dieser Verordnung anwendbar ist. Falls ja, wäre die Verbringung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rückstände nicht vom Anwendungsbereich dieser Verordnung erfasst gewesen. Nach Ansicht dieses Gerichts ergibt sich weder aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006, der die Formulierung „Abfälle, die in … Schiffen anfallen“ enthält, noch aus der Entstehungsgeschichte und den Erwägungsgründen noch aus der Systematik dieser Verordnung, dass havariebedingte Abfälle oder Rückstände von dieser Ausnahmebestimmung erfasst sein sollten.

26      Unter diesen Umständen hat das Landgericht München I (Deutschland) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind havariebedingte Rückstände in Form von Metallschrott und des mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetzten Löschwassers an Bord eines Schiffes „Abfälle, die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen“, gemäß Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006?

 Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

27      Im Anschluss an die Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts hat das Land Niedersachsen mit Schriftsatz, der am 5. April 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

28      Das Land Niedersachsen macht zur Begründung seines Antrags im Wesentlichen geltend, dass eine für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserhebliche Frage vor dem Gerichtshof nicht richtig erörtert worden sei, nämlich ob die Verordnung Nr. 1013/2006 angesichts ihres Art. 1 Abs. 3 Buchst. b auch Anwendung finde, wenn sich das betreffende Schiff auf hoher See befinde. Eine Anwendung dieser Verordnung auf den ersten, auf hoher See erfolgten Abschnitt der Reise der „Flaminia“ werfe die Frage auf, ob die genannte Verordnung mit dem Völkerrecht, insbesondere dem Basler Übereinkommen, vereinbar sei. Werde das mündliche Verfahren nicht wiedereröffnet, könne eine erneute Vorlage zur Vorabentscheidung notwendig werden.

29      Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

30      Im vorliegenden Fall werden jedoch mit dem Antrag des Landes Niedersachsen auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens keine neuen Tatsachen geltend gemacht. Dieser Antrag ist im Wesentlichen darauf gerichtet, dass der Gerichtshof über zwei Fragen entscheidet, die vom vorlegenden Gericht nicht gestellt wurden, zum einen betreffend die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1013/2006, wenn sich das betreffende Schiff auf hoher See befindet, und zum anderen betreffend die Gültigkeit der in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b dieser Verordnung angeordneten Ausnahme im Hinblick auf das Basler Übereinkommen.

31      Außerdem verfügt der Gerichtshof über alle für seine Entscheidung erforderlichen Angaben. Für die vorliegende Rechtssache ist auch kein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich.

32      Nach Anhörung des Generalanwalts hält der Gerichtshof eine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens daher nicht für angebracht.

 Zur Vorlagefrage

33      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 dahin auszulegen ist, dass Rückstände in Form von Metallschrott und mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetztem Löschwasser wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die auf eine Havarie an Bord eines Schiffs zurückzuführen sind, als Abfälle, die an Bord von Schiffen anfallen, im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind.

34      Eingangs ist zu präzisieren, dass sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rückstände, da sie Stoffe oder Gegenstände darstellen, deren sich der Besitzer entledigen will, unter den Begriff „Abfälle“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1013/2006 fallen, der auf die Definition dieses Begriffs in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/12 verweist. Diese Bestimmung wurde inzwischen durch Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2008/98 ersetzt, der eine im Wesentlichen entsprechende Definition dieses Begriffs enthält.

35      Dies vorausgeschickt, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 aus dem Anwendungsbereich dieser Verordnung Abfälle ausnimmt, die in Fahrzeugen und Zügen sowie an Bord von Luftfahrzeugen und Schiffen anfallen, und zwar bis zum Zeitpunkt des Abladens dieser Abfälle zwecks Verwertung oder Beseitigung.

36      Wären die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Abfälle als von dieser Bestimmung erfasst anzusehen, wäre folglich die Verordnung Nr. 1013/2006, wie das vorlegende Gericht ausführt, auf diese Abfälle bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie das Schiff zwecks Verwertung oder Beseitigung verließen, nicht anwendbar gewesen.

37      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 17. Oktober 2018, Günter Hartmann Tabakvertrieb, C‑425/17, EU:C:2018:830, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Außerdem ist Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006, da er eine Ausnahme von der Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnung vorsieht, grundsätzlich eng auszulegen. Es entspricht jedoch nicht dem Sinn dieses Grundsatzes einer engen Auslegung, dass die in der genannten Bestimmung zur Definition der Tragweite der darin vorgesehenen Ausnahme verwendeten Begriffe so ausgelegt werden, dass sie dieser ihre Wirkung nehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 11. September 2014, Fastweb, C‑19/13, EU:C:2014:2194, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Was erstens den Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 betrifft, geht aus dieser Bestimmung hervor, dass Abfälle nur unter diese Ausnahme vom Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, wenn sie an Bord u. a. eines Schiffes angefallen und nicht abgeladen worden sind.

40      Hierzu ist zum einen hervorzuheben, dass diese Bestimmung keine Angaben zum Ursprung der Abfälle oder der Art und Weise, wie sie an Bord des betreffenden Schiffs angefallen sind, enthält.

41      Wie der Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat sich der Unionsgesetzgeber in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 auf die Angabe des Ortes beschränkt, an dem die Abfälle angefallen sein müssen, nämlich an Bord u. a. eines Schiffes, ohne dass er besondere Anforderungen bezüglich der Umstände aufgestellt hätte, unter denen sie angefallen sein müssen.

42      Zum anderen ist dem gewöhnlichen Wortsinn der in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 verwendeten Formulierung „bis zum Zeitpunkt des Abladens dieser Abfälle“ zu entnehmen, dass diese Bestimmung in Bezug auf ein Schiff nur so lange Anwendung findet, wie die betreffenden Abfälle das Schiff nicht verlassen haben, um zur Verwertung oder Beseitigung verbracht zu werden.

43      Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006, dass die nach dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auf Abfälle, die an Bord eines Schiffs anfallen, unabhängig von den Umständen, unter denen sie anfallen, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Abfälle das betreffende Schiff zwecks Verwertung oder Beseitigung verlassen, Anwendung findet.

44      Zweitens wird dieses Ergebnis durch den Zusammenhang, in dem diese Bestimmung steht, bestätigt. Art. 1 Abs. 3 Buchst. a dieser Verordnung bezieht sich nämlich auf das Abladen von Abfällen an Land, einschließlich der Abwässer und Rückstände, aus dem normalen Betrieb von u. a. Schiffen, sofern diese Abfälle unter das Marpol-Übereinkommen 73/78 oder andere bindende internationale Übereinkünfte fallen.


45      Im Gegensatz zum Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 nennt Art. 1 Abs. 3 Buchst. a dieser Verordnung ausdrücklich Abfälle aus dem normalen Betrieb u. a. eines Schiffs, was bestätigt, dass die Ausnahme, die in der erstgenannten Bestimmung vorgesehen ist, die keine derartige Präzisierung enthält, Abfälle, die an Bord eines Schiffs angefallen sind, unabhängig davon erfasst, unter welchen Umständen sie angefallen sind.

46      Drittens wird die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006, die sich aus dem Wortlaut und dem Zusammenhang dieser Bestimmung ergibt, nicht durch das mit dieser Verordnung verfolgte Ziel in Frage gestellt.

47      Zwar legt die Verordnung Nr. 1013/2006 gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 und ihrem siebten Erwägungsgrund die Verfahren und Kontrollregelungen für die Verbringung von Abfällen so fest, dass der Notwendigkeit, die Qualität der Umwelt und der menschlichen Gesundheit zu erhalten, zu schützen und zu verbessern, Rechnung getragen wird. Insbesondere geht aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit dem 14. Erwägungsgrund dieser Verordnung hervor, dass die Verbringung von zur Beseitigung bestimmten Abfällen und von zur Verwertung bestimmten gefährlichen Abfällen zwischen Mitgliedstaaten den zuständigen Behörden zuvor schriftlich notifiziert werden muss, damit diese die zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt erforderlichen Maßnahmen treffen können (Urteil vom 26. November 2015, Total Waste Recycling, C‑487/14, EU:C:2015:780, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Dieses mit der Verordnung Nr. 1013/2006 verfolgte Umweltschutzziel verlangt jedoch nicht, dass die Beförderung von an Bord eines Schiffs in unvorhergesehener Weise angefallenen Abfällen ungeachtet der in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehenen klaren Ausnahme den Vorschriften dieser Verordnung und, insbesondere gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1, der vorherigen schriftlichen Notifizierung und Zustimmung unterliegt. In Anbetracht der plötzlichen und unvorhersehbaren Entstehung dieser Art von Abfällen wäre es für den Verantwortlichen des betreffenden Schiffs in der Praxis nämlich unmöglich oder unverhältnismäßig schwierig, von den Informationen, die für die korrekte Anwendung dieser Vorschriften, die eine wirksame Überwachung und Kontrolle der Verbringung dieser Abfälle im Sinne dieser Verordnung gewährleisten sollen, erforderlich sind, rechtzeitig Kenntnis zu erhalten.

49      So wäre dieser Verantwortliche bei havariebedingten Abfällen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nach aller Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage, vor dem Anlegen in einem Hafen sämtliche nach den in den Anhängen I A und I B der Verordnung Nr. 1013/2006 genannten Formularen verlangten Informationen zu kennen und vorzulegen, die u. a. die Bezeichnung, die Zusammensetzung und die Identifizierung der Abfälle sowie die Art des beabsichtigten Beseitigungs- oder Verwertungsverfahrens betreffen.

50      Im Übrigen könnte, wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Anwendung der durch die Verordnung Nr. 1013/2006 vorgesehenen Regeln auf Abfälle, die an Bord eines Schiffs infolge einer Havarie auf hoher See angefallen sind, zu einer Verzögerung des Einlaufens des Schiffs in einen sicheren Hafen und so zu einer Erhöhung des Risikos der Verschmutzung der Meere führen, was dem mit dieser Verordnung verfolgten Ziel zuwiderliefe.

51      Es ist jedoch zu betonen, dass die in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 vorgesehene Ausnahme bei Missbrauch durch die Verantwortlichen des betreffenden Schiffs keine Anwendung findet. Ein solcher Missbrauch liegt u. a. bei Verhaltensweisen vor, die bezwecken, das Abladen der Abfälle zwecks Verwertung oder Beseitigung über Gebühr und ohne Grund zu verzögern. Hierbei ist eine solche Verzögerung insbesondere danach zu beurteilen, um welche Art von Abfällen es sich handelt und wie hoch die Gefahr ist, die von ihnen für die Umwelt und die menschliche Gesundheit ausgeht.

52      Im vorliegenden Fall sind die Abfälle, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, da sie durch eine Havarie verursacht wurden, zu der es auf hoher See an Bord der „Flaminia“ kam, als an Bord eines Schiffs angefallen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 anzusehen. Diese Bestimmung findet daher auf diese Abfälle bis zu dem Zeitpunkt Anwendung, zu dem sie dieses Schiff zwecks Verwertung oder Beseitigung verlassen.

53      Nach diesen Erwägungen ist Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 1013/2006 dahin auszulegen, dass Rückstände in Form von Metallschrott und mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetztem Löschwasser wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die auf eine Havarie an Bord eines Schiffes zurückzuführen sind, als Abfälle, die an Bord von Schiffen anfallen, im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind und somit vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen sind, bis sie zwecks Verwertung oder Beseitigung abgeladen sind.

 Kosten

54      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen ist dahin auszulegen, dass Rückstände in Form von Metallschrott und mit Schlämmen und Ladungsrückständen versetztem Löschwasser wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die auf eine Havarie an Bord eines Schiffes zurückzuführen sind, als Abfälle, die an Bord von Schiffen anfallen, im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind und somit vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen sind, bis sie zwecks Verwertung oder Beseitigung abgeladen sind.

Regan

Lycourgos

Juhász

Ilešič

 

Jarukaitis

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Mai 2019.

Der Kanzler

 

Der Präsident der Fünften Kammer

A. Calot Escobar

 

E. Regan


*      Verfahrenssprache: Deutsch.