Language of document : ECLI:EU:C:2016:385

Rechtssache C‑241/15

Niculaie Aurel Bob-Dogi

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Cluj)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 8 Abs. 1 Buchst. c – Pflicht zur Aufnahme von Angaben über das Vorliegen eines ‚Haftbefehls‘ in den Europäischen Haftbefehl – Fehlen eines vorhergehenden nationalen Haftbefehls, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist – Folge“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 1. Juni 2016

1.        Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Art. 8 Abs. 1 Buchst. c – Haftbefehl – Begriff – Nationaler Haftbefehl, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist – Pflicht zur Aufnahme von Angaben über das Vorliegen eines „Haftbefehls“ in den Europäischen Haftbefehl – Fehlen

(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 8 Abs. 1 Buchst. c)

2.        Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Art. 8 Abs. 1 Buchst. c – Pflicht zur Aufnahme von Angaben über das Vorliegen eines „Haftbefehls“ in den Europäischen Haftbefehl – Europäischer Haftbefehl, der keine Angabe über das Vorliegen eines nationalen Haftbefehls enthält – Folgen

(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 8 Abs. 1 Buchst. c und 15 Abs. 2)

1.        Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „Haftbefehl“ dahin zu verstehen ist, dass er einen nationalen Haftbefehl bezeichnet, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist.

Die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nach dem sogenannten „vereinfachten“ Verfahren und daher ohne den vorherigen Erlass einer nationalen justiziellen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls, die die Grundlage für den Europäischen Haftbefehl bildet, kann nämlich zu den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, die dem System des Europäischen Haftbefehls zugrunde liegen, in Widerspruch stehen. Diese Grundsätze beruhen auf der Prämisse, dass der betreffende Europäische Haftbefehl im Einklang mit den Mindesterfordernissen ausgestellt wurde, von denen seine Gültigkeit abhängt und zu denen das in Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses vorgesehene Erfordernis zählt. Bei einem Europäischen Haftbefehl, der in einem sogenannten „vereinfachten“ Verfahren erlassen wurde und auf dem Vorliegen eines Haftbefehls im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses beruht, ohne dass in dem Europäischen Haftbefehl das Vorliegen eines nationalen Haftbefehls erwähnt wird, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist, ist die vollstreckende Justizbehörde jedoch nicht in der Lage, zu prüfen, ob der betreffende Europäische Haftbefehl dem in Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses aufgestellten Erfordernis genügt. Zudem kommt der Beachtung des in Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses aufgestellten Erfordernisses besondere Bedeutung zu, weil es impliziert, dass, wenn der Europäische Haftbefehl im Hinblick auf die Festnahme und Übergabe einer zum Zweck der Strafverfolgung gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird, diese Person bereits in einem ersten Stadium des Verfahrens in den Genuss der Verfahrens- und Grundrechte kommen konnte, deren Schutz die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats nach dem anzuwendenden nationalen Recht, insbesondere im Hinblick auf den Erlass eines nationalen Haftbefehls, zu gewährleisten hat. Das System des Europäischen Haftbefehls enthält also aufgrund des in Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses aufgestellten Erfordernisses einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte, der der gesuchten Person zugutekommen muss, da zu dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe beim Erlass einer nationalen justiziellen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls der Schutz hinzukommt, der auf der zweiten Stufe bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls, zu der es gegebenenfalls kurze Zeit nach dem Erlass dieser nationalen justiziellen Entscheidung kommen kann, zu gewährleisten ist. An diesem zweistufigen gerichtlichen Schutz fehlt es jedoch grundsätzlich in einem Fall, in dem ein sogenanntes „vereinfachtes“ Verfahren zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zur Anwendung kommt, weil dieses impliziert, dass vor der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls keine durch eine nationale Justizbehörde getroffene Entscheidung – etwa der Erlass eines nationalen Haftbefehls –, auf die sich der Europäische Haftbefehl stützt, ergangen ist.

(vgl. Rn. 52-58, Tenor 1)

2.        Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde einen Europäischen Haftbefehl, der auf das Vorliegen eines „Haftbefehls“ im Sinne dieser Bestimmung gestützt ist, jedoch keine Angabe über das Vorliegen eines nationalen Haftbefehls enthält, nicht vollstrecken darf, wenn sie unter Berücksichtigung der gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung vorgelegten Informationen sowie aller anderen ihr zur Verfügung stehenden Informationen feststellt, dass der Europäische Haftbefehl nicht gültig ist, weil er ausgestellt wurde, ohne dass tatsächlich ein nationaler Haftbefehl ausgestellt worden war, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist.

Vor dem Erlass einer solchen Entscheidung, die schon ihrer Natur nach im Rahmen der Anwendung des vom Rahmenbeschluss eingeführten Systems, das auf den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens beruht, die Ausnahme bleiben muss, muss diese Behörde nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen bitten, die es ihr ermöglichen, zu prüfen, ob das Fehlen der Angabe des Vorliegens eines nationalen Haftbefehls im Europäischen Haftbefehl damit zu erklären ist, dass es tatsächlich an einem solchen vorhergehenden nationalen Haftbefehl fehlt, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist, oder damit, dass ein solcher Haftbefehl zwar vorliegt, aber nicht angeführt wurde. Kommt die vollstreckende Justizbehörde unter Berücksichtigung der nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses vorgelegten Informationen sowie aller anderen Informationen, über die sie verfügt, zu dem Schluss, dass der Europäische Haftbefehl, obwohl er auf das Vorliegen eines „Haftbefehls“ im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses gestützt ist, ausgestellt wurde, ohne dass tatsächlich ein nationaler Haftbefehl, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist, ausgestellt wurde, darf sie den Europäischen Haftbefehl nicht vollstrecken, weil dieser die in Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit nicht erfüllt.

(vgl. Rn. 65-67, Tenor 2)