Language of document : ECLI:EU:C:2023:532

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 29. Juni 2023(1)

Rechtssache C107/23 PPU [Lin](i)


C. I.,

C. O.,

K. A.,

L. N.,

S. P.

gegen

Statul român

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Brașov [Berufungsgericht Brașov, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Mehrwertsteuerbetrug – Art. 325 Abs. 1 AEUV – SFI‑Übereinkommen – Richtlinie (EU) 2017/1371 – Verpflichtung zur Bekämpfung von Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durch abschreckende und wirksame Maßnahmen – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Verjährungsfrist in Strafsachen – Urteil, mit dem die nationalen Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für verfassungswidrig erklärt werden – Systemische Gefahr der Straflosigkeit – Schutz der Grundrechte – Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta – Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes (lex mitior) – Nationaler Schutzstandard für die Grundrechte – Verpflichtung der nationalen Richter, den Urteilen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) volle Wirksamkeit zu verschaffen – Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Entscheidungen – Befugnis, Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), die nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, unangewendet zu lassen – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts“






1.        Im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung verschiedener Bestimmungen des Unionsrechts, um zu entscheiden, ob es einer als außerordentlicher Rechtsbehelf eingelegten Nichtigkeitsbeschwerde von Personen, die aufgrund von als Steuerhinterziehung und Bildung einer organisierten kriminellen Vereinigung eingestuften Handlungen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, stattgibt oder nicht.

2.        Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob eine nationale Regelung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, wonach nach Erlass eines Urteils der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) für einen bestimmten Zeitraum keine Möglichkeit zur Unterbrechung der Verjährungsfristen bestand, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte eine solche Regelung zur Straffreiheit zahlreicher gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter Straftaten führen.

3.        Die Beantwortung der Vorlagefragen stellt den Gerichtshof vor die Aufgabe, seine noch in der Entwicklung befindliche Rechtsprechung zum durch Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: „Charta“) garantierten Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes (lex mitior) auszugestalten.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      SFI-Übereinkommen(2)

4.        Art. 1 Abs. 1 legt fest:

„Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften

b)      im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

–        die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;

…“

5.        Art. 2 bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50 000 [Euro] nicht überschreiten.

…“

2.      Entscheidung 2006/928/EG(3)

6.        In Art. 1 heißt es:

„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.

…“

7.        Der Anhang hat folgenden Wortlaut:

„Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1:

1.      Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen,

2.      Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen,

3.      Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene,

4.      Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen“.

3.      Richtlinie (EU) 2017/1371(4)

8.        Art. 2 Abs. 2 legt fest:

„In Bezug auf Einnahmen aus den Mehrwertsteuer-Eigenmitteln findet diese Richtlinie nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen das gemeinsame Mehrwertsteuersystem Anwendung. Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt ein gegen das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gerichteter Verstoß als schwerwiegend, wenn vorsätzliche Handlungen oder Unterlassungen nach Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe d mit dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten der Union verbunden sind und einen Gesamtschaden von mindestens 10 000 000 EUR umfassen.“

9.        Art. 16 lautet:

„Das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Juli 1995 und die diesbezüglichen Protokolle vom 27. September 1996, 29. November 1996 und 19. Juni 1997 werden durch diese Richtlinie für die Mitgliedstaaten, die durch sie gebunden sind, mit Wirkung vom 6. Juli 2019 ersetzt.

Für die Mitgliedstaaten, die durch diese Richtlinie gebunden sind, gelten Verweise auf das Übereinkommen als Verweise auf diese Richtlinie.“

10.      Art. 17 Abs. 1 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis 6. Juli 2019 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Maßnahmen mit. Sie wenden diese Maßnahmen ab dem 6. Juli 2019 an.

…“

B.      Rumänisches Recht

1.      Rumänische Verfassung

11.      Art. 15 Abs. 2 sieht vor, dass „[d]as Gesetz …, mit Ausnahme von milderen Straf- oder Verwaltungsrechtsvorschriften, nur für die Zukunft [gilt]“.

12.      Art. 147 bestimmt:

„(1)      Die Bestimmungen von geltenden Gesetzen und Anordnungen sowie die Bestimmungen von Verordnungen, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde, verlieren 45 Tage nach der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsgerichts ihre Rechtswirkung, wenn das Parlament bzw. die Regierung in dieser Zeit die verfassungswidrigen Bestimmungen nicht mit den Bestimmungen der Verfassung in Einklang bringt. Während dieses Zeitraums sind die als verfassungswidrig befundenen Bestimmungen von Rechts wegen außer Kraft gesetzt.

(4)      Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts werden im Monitorul Oficial al României [(Amtsblatt Rumäniens)] veröffentlicht. Ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung sind diese Entscheidungen allgemein verbindlich und haben Rechtswirkung nur für die Zukunft.“

2.      Strafrecht

a)      Strafgesetzbuch von 1969, in der im Jahr 1996 geänderten Fassung(5)

13.      Nach Art. 123 Abs. 1 wird „[d]ie Verjährung … durch die Vornahme einer jeden Handlung unterbrochen, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nach dem Gesetz im Lauf des Strafverfahrens mitgeteilt werden muss.“

b)      Strafgesetzbuch von 2009(6)

14.      Art. 5 Abs. 1 sieht vor: „[W]enn zwischen der Begehung der Straftat und dem verfahrensbeendenden Urteil eines oder mehrere Strafgesetze erlassen wurden, findet das mildeste Anwendung.“

15.      Nach Art. 5 Abs. 2 gilt der vorstehende Absatz auch dann, wenn für verfassungswidrig erklärte Gesetze oder einige ihrer Vorschriften mildere Strafbestimmungen enthalten.

16.      Art. 6 Abs. 1 bestimmt: „Ist ein Gesetz, das eine mildere Strafe vorsieht, nach Rechtskraft des Urteils und vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder der Geldstrafe in Kraft getreten, wird die auferlegte Strafe, sofern sie das im neuen Gesetz für die begangene Straftat festgelegte besondere Höchstmaß übersteigt, auf dieses Höchstmaß herabgesetzt.“

17.      Art. 154 Abs. 1 bestimmt:

„Die Fristen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit betragen:

a)      15 Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe von mehr als 20 Jahren bedroht ist;

b)      zehn Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren und höchstens 20 Jahren bedroht ist;

c)      acht Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren und höchstens zehn Jahren bedroht ist;

d)      fünf Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens fünf Jahren bedroht ist;

e)      drei Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bedroht ist.“

18.      In Art. 155 heißt es:

„(1)      Die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird durch die Vornahme einer jeden Verfahrenshandlung in der betreffenden Sache unterbrochen.

(2)      Nach jeder Unterbrechung beginnt eine neue Verjährungsfrist zu laufen.

…“

19.      Mit der Verordnung Nr. 71 vom 30. Mai 2022(7) wurde Art. 155 des Strafgesetzbuchs von 2009 geändert. Art. 155 Abs. 1 lautet nun wie folgt: „Die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird durch die Vornahme einer jeden Verfahrenshandlung in der betreffenden Sache unterbrochen, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nach dem Gesetz im Lauf des Strafverfahrens mitgeteilt werden muss.“

c)      Strafprozessordnung(8)

20.      Nach Art. 426 Buchst. b kann gegen rechtskräftige Strafurteile der außerordentliche Rechtsbehelf der Nichtigkeitsbeschwerde erhoben werden, wenn der Angeklagte verurteilt wurde, obwohl Beweise für das Bestehen eines Grundes für die Einstellung des Strafverfahrens vorlagen.

d)      Urteil des Verfassungsgerichtshofs Nr. 297/2018

21.      Mit Urteil Nr. 297/2018 vom 26. April 2018, veröffentlicht am 25. Juni 2018, stellte die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) im Rahmen der Entscheidung über eine Einrede der Verfassungswidrigkeit fest, dass die in Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 vorgesehene Regelung, wonach die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch die Vornahme jeder Verfahrenshandlung in der betreffenden Sache erfolge, verfassungswidrig sei.

22.      Nach Ansicht der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) fehlt es der Bestimmung des Strafgesetzbuchs von 2009 an der Vorhersehbarkeit, und sie verstoße auch gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, da sich die darin enthaltene Wendung „einer jeden Verfahrenshandlung“ auch auf Handlungen beziehe, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nicht mitgeteilt würden. Dadurch sei es diesen Personen unmöglich, zu erfahren, dass die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unterbrochen worden sei und eine neue Verjährungsfrist zu laufen begonnen habe(9).

23.      Der rumänische Gesetzgeber wurde nicht gesetzgeberisch tätig, um Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 in dem von der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) vorgegebenen Sinn zu ändern, und es entstand eine uneinheitliche Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit(10).

e)      Urteil des Verfassungsgerichtshofs Nr. 358/2022

24.      Mit Urteil Nr. 358/2022 vom 26. Mai 2022, veröffentlicht am 9. Juni 2022, erklärte die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) im Rahmen der Entscheidung über eine weitere Einrede der Verfassungswidrigkeit Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 für verfassungswidrig.

25.      Der Verfassungsgerichtshof stellte Folgendes fest:

–      Der Gesetzgeber sei nicht, wie in Art. 147 Abs. 1 der Verfassung gefordert, gesetzgeberisch tätig geworden, um die im Urteil Nr. 297/2018 für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen mit der Verfassung in Einklang zu bringen und die Tatbestände der Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu regeln.

–      Da der Gesetzgeber nicht tätig geworden sei, hätten die Gerichte die Tatbestände der Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht einfach selbst bestimmen können. Es habe an Klarheit und Vorhersehbarkeit bei der Anwendung von Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 gemangelt, und dies habe zu einer uneinheitlichen Rechtspraxis geführt. Die geltenden Rechtsvorschriften hätten nicht die erforderlichen rechtlichen Elemente geboten, um nach Erlass des Urteils Nr. 297/2018 Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 in vorhersehbarer Art und Weise anwenden zu können.

–      Folglich habe das rumänische positive Recht ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 und bis zum Inkrafttreten eines Rechtsakts des Gesetzgebers, mit dem dieser die Unterbrechungstatbestände für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausdrücklich regele(11), keinen solchen Unterbrechungstatbestand enthalten.

f)      Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof)

26.      Mit Urteil Nr. 67/2022 vom 25. Oktober 2022, veröffentlicht am 28. November 2022, entschied die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) im Rahmen eines Rechtsmittels zur Wahrung des Rechts, wie vom vorlegenden Gericht dargelegt(12), Folgendes:

–      Bei den Vorschriften zur Unterbrechung der Verjährungsfrist handele es sich um Vorschriften des materiellen Strafrechts. Hinsichtlich ihrer zeitlichen Anwendung unterlägen sie – mit Ausnahme der jeweils milderen Strafvorschriften gemäß dem Grundsatz des milderen Gesetzes nach Art. 15 Abs. 2 der rumänischen Verfassung und Art. 5 des Strafgesetzbuchs von 2009 – dem Rückwirkungsverbot für Strafgesetze gemäß Art. 3 des Strafgesetzbuchs von 2009.

–      Zwischen dem 25. Juni 2018 (Datum der Veröffentlichung des Urteils des Verfassungsgerichtshofs Nr. 297/2018, präzisiert durch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs Nr. 358/2022) und dem 30. Mai 2022 habe Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 keinen Tatbestand für die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorgesehen.

–      Ein Gericht, das über eine Nichtigkeitsbeschwerde entscheide, die auf die Auswirkungen der Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 gestützt sei, dürfe die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht erneut prüfen, wenn das Berufungsgericht bereits im Lauf eines vor der Entscheidung Nr. 358/2022 durchgeführten Verfahrens das Vorliegen dieses Grundes für die Einstellung des Strafverfahrens überprüft habe.

3.      Vorschriften zur Disziplinarordnung für Richter

27.      Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004(13) sah die Nichtbeachtung der Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) oder der Urteile der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) im Rahmen von Rechtsmitteln zur Wahrung des Rechts als Disziplinarvergehen an.

28.      Art. 271 Buchst. s des Gesetzes Nr. 303/2022(14) sieht vor, dass „eine in bösem Glauben oder grob fahrlässig erfolgende Ausübung von Ämtern ein Disziplinarvergehen darstellt“.

29.      Nach Art. 272 des Gesetzes Nr. 303/2022 gilt:

„(1)      Ein Richter bzw. Staatsanwalt handelt in bösem Glauben, wenn er Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts wissentlich verletzt und dabei beabsichtigt oder in Kauf nimmt, einer Person Schaden zuzufügen.

(2)      Ein Richter bzw. Staatsanwalt handelt grob fahrlässig, wenn er die Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts in fahrlässiger, schwerwiegender, unbestreitbarer und unentschuldbarer Weise missachtet.

…“

II.    Sachverhalt, Rechtsstreit und Vorlagefragen

30.      Mit rechtskräftigem Urteil Nr. 285/AP vom 30. Juni 2020(15) verurteilte die Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov, Rumänien) mehrere Personen (C. O., C. I., L. N., K. A. und S. P.) wegen Steuerhinterziehung und Bildung einer organisierten kriminellen Vereinigung.

31.      Zur Straftat der Steuerhinterziehung sah es das Gericht als erwiesen an, dass es die Verurteilten im Jahr 2010 ganz oder teilweise versäumt hätten, in ihrer Buchführung getätigte Handelsgeschäfte sowie Einnahmen aus dem Verkauf von Diesel an nationale Abnehmer zu registrieren, die sie unter der Regelung der Verbrauchsteueraussetzung erworben hätten. Dadurch sei ein Steuerschaden, auch hinsichtlich der Mehrwertsteuer und der Verbrauchsteuer auf Diesel, entstanden.

32.      Mit dem Urteil wurden Freiheitsstrafen sowie Schadensersatz in Höhe von insgesamt 13 964 482 rumänische Lei (RON) (ca. 3 240 000 Euro) einschließlich Mehrwertsteuer auferlegt.

33.      Zwei der Verurteilten (K. A. und S. P.) verbüßen zurzeit die mit dem Urteil vom 30. Juni 2020 verhängten Freiheitsstrafen.

34.      Die Verurteilten erhoben beim vorlegenden Gericht eine Nichtigkeitsbeschwerde (Art. 426 Buchst. b der Strafprozessordnung) gegen das Urteil vom 30. Juni 2020.

35.      Sie beantragen die Aufhebung des Urteils, da sie verurteilt worden seien, obwohl die Frist für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abgelaufen sei. Sie berufen sich dabei auf die Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022.

36.      Die Beschwerdeführer machen geltend:

–      Auf sie komme der Grundsatz des milderen Strafgesetzes zur Anwendung. In Bezug auf die Straftaten, wegen deren sie verurteilt worden seien, habe das mildere Strafgesetz eine kürzere Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorgesehen, die vor der rechtskräftigen Entscheidung in der Rechtssache abgelaufen sei. Die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit habe sich erst nach diesem rechtskräftigen Strafurteil herausgestellt, und zwar infolge der Verkündung des Urteils Nr. 358/2022, mit dem Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 für verfassungswidrig erklärt und festgestellt worden sei, dass die nationalen Strafvorschriften im Zeitraum nach der Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 keinen Unterbrechungstatbestand für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit enthalten hätten.

–      Das Fehlen von Unterbrechungstatbeständen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Zeitraum zwischen den beiden Urteilen des Verfassungsgerichtshofs, das mit dem Urteil Nr. 358/2022 festgestellt worden sei, stelle bereits für sich genommen ein milderes Strafgesetz dar. Dieses sei zugunsten der Angeklagten anzuwenden, die Straftaten begangen hätten, für die bis zur Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 kein verfahrensbeendendes Urteil ergangen sei. Unter diesen Umständen sei die in Art. 154 Abs. 1 Buchst. b des Strafgesetzbuchs von 2009 vorgesehene Verjährungsfrist von zehn Jahren abgelaufen gewesen, bevor das Urteil, mit der die Verurteilung ausgesprochen worden sei, rechtskräftig geworden sei, sofern man die Unterbrechungstatbestände außer Acht lasse.

37.      Im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde hat das Ministerul Public – Direcția Națională Anticorupție (Staatsanwaltschaft – Nationale Antikorruptionsdirektion [im Folgenden: DNA], Rumänien) beantragt, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, um festzustellen, ob Art. 325 AEUV, die Entscheidung 2006/928 und Art. 49 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es ermöglichen, das Urteil Nr. 358/2022 des Verfassungsgerichtshofs unberücksichtigt zu lassen. Ihrer Ansicht nach birgt die Umsetzung dieses Urteils ein systemisches Risiko der Straflosigkeit in Fällen, in denen das Unionsrecht anwendbar sei.

38.      Die Beschwerdeführer machen dagegen geltend, dass die Unionsvorschriften im vorliegenden Fall nicht einschlägig seien und das Vorabentscheidungsersuchen daher unzulässig sei. Im Übrigen habe der Grundsatz der Anwendung des milderen Strafgesetzes Verfassungsrang und gehe jeder eventuell einschlägigen Unionsbestimmung vor.

39.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es, sollte es den Anträgen der Beschwerdeführer stattgeben, die rechtskräftige Verurteilung aufheben und die Einstellung des Strafverfahrens anordnen müsste, was eine weitere Verbüßung der Strafe unmöglich machen würde. In Anbetracht dieser Prämisse führt es im Wesentlichen verschiedene Gründe an, um den von der rumänischen Verfassung garantierten Grundsatz des milderen Strafgesetzes, dessen Anwendung gegen das Unionsrecht verstoße, in der vorliegenden Rechtssache unangewendet zu lassen.

40.      In diesem Zusammenhang hat die Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens, mit den Art. 2 und 12 der SFI-Richtlinie sowie mit der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, mit Bezug auf den Grundsatz wirksamer und abschreckender Sanktionen in schweren Betrugsfällen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union, alle unter Anwendung der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission, im Licht von Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer Rechtslage wie jener im Ausgangsverfahren entgegenstehen, in der die verurteilten Beschwerdeführer mit einem außerordentlichen Rechtsbehelf die Aufhebung einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung beantragen und sich dabei auf die Anwendung des Grundsatzes des milderen Strafgesetzes berufen, das ihrer Meinung nach im Verfahren in der Sache anwendbar gewesen wäre und eine kürzere Verjährungsfrist vorgesehen hätte, die vor der rechtskräftigen Entscheidung der Sache abgelaufen gewesen wäre, sich aber erst später aus einer Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts ergeben hat, mit der ein Gesetzestext zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für verfassungswidrig erklärt wurde (Entscheidung aus dem Jahr 2022), weil der Gesetzgeber untätig geblieben sei und es versäumt habe, den Gesetzeswortlaut an eine andere, vier Jahre vor dieser Entscheidung ergangene Entscheidung dieses Verfassungsgerichts (aus dem Jahr 2018) anzupassen – wobei sich in der Zwischenzeit bereits eine in Anwendung der ersten Entscheidung gefestigte Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte gebildet hatte, nach der der Wortlaut in der nach der ersten verfassungsgerichtlichen Entscheidung ausgelegten Form fortbesteht, was die praktische Auswirkung hatte, dass die Verjährungsfrist sämtlicher Straftaten, hinsichtlich deren vor der ersten verfassungsgerichtlichen Entscheidung keine rechtskräftige Verurteilung erfolgt war, um die Hälfte verkürzt und das Strafverfahren gegen die in dieser Sache Angeklagten folglich eingestellt wurde?

2.      Sind Art. 2 EUV zu den Werten der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte in einer Gesellschaft, die sich durch Gerechtigkeit auszeichnet, und Art. 4 Abs. 3 EUV zum Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten unter Anwendung der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission im Hinblick auf die Verpflichtung zur Gewährleistung der Effizienz des rumänischen Justizsystems und im Licht von Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta, der den Grundsatz des milderen Strafgesetzes statuiert, mit Blick auf das nationale Justizsystem in seiner Gesamtheit dahin auszulegen, dass sie einer Rechtslage wie jener im Ausgangsverfahren entgegenstehen, in der die verurteilten Beschwerdeführer mit einem außerordentlichen Rechtsbehelf die Aufhebung einer rechtskräftigen Verurteilung beantragen und sich dabei auf die Anwendung des Grundsatzes des milderen Strafgesetzes berufen, das ihrer Meinung nach im Verfahren in der Sache anwendbar gewesen wäre und eine kürzere Verjährungsfrist vorgesehen hätte, die vor der rechtskräftigen Entscheidung der Sache abgelaufen gewesen wäre, sich aber erst später aus einer Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts ergeben hat, mit der ein Gesetzestext zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für verfassungswidrig erklärt wurde (Entscheidung aus dem Jahr 2022), weil der Gesetzgeber untätig geblieben sei und es versäumt habe, den Gesetzeswortlaut an eine andere, vier Jahre vor dieser Entscheidung ergangene Entscheidung dieses Verfassungsgerichts (aus dem Jahr 2018) anzupassen – wobei sich in der Zwischenzeit bereits eine in Anwendung der ersten Entscheidung gefestigte Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte gebildet hatte, nach der der Wortlaut in der nach der ersten verfassungsgerichtlichen Entscheidung ausgelegten Form fortbesteht, was die praktische Auswirkung hatte, dass die Verjährungsfrist sämtlicher Straftaten, hinsichtlich deren vor der ersten verfassungsgerichtlichen Entscheidung keine rechtskräftige Verurteilung erfolgt war, um die Hälfte verkürzt und das Strafverfahren gegen die in dieser Sache Angeklagten folglich eingestellt wurde?

3.      Ist im Fall der Bejahung der ersten beiden Fragen und allein bei Unmöglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, kraft deren die nationalen ordentlichen Gerichte an die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts und an die verbindlichen Entscheidungen des obersten nationalen Gerichts gebunden sind und aus diesem Grund die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht von Amts wegen unangewendet lassen können, ohne Gefahr zu laufen, ein Disziplinarvergehen zu begehen, auch wenn sie vor dem Hintergrund eines Urteils des Gerichtshofs davon ausgehen, dass diese Rechtsprechung insbesondere gegen Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 325 AEUV Abs. 1, alle unter Anwendung der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission, im Licht von Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta, verstößt, wie es im Ausgangsverfahren der Fall ist?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

41.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 22. Februar 2023 zusammen mit einem Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens beim Gerichtshof eingegangen.

42.      Nachdem der Gerichtshof vom vorlegenden Gericht die Bestätigung erhalten hatte, dass sich zwei der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens infolge der Vollstreckung des Urteils vom 30. Juni 2020 in Haft befinden und freizulassen wären, wenn den gegen ihre Verurteilung eingelegten Nichtigkeitsbeschwerden stattgegeben würde, entschied er, das Vorabentscheidungsersuchen im Eilverfahren durchzuführen.

43.      Am 24. März 2023 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof eine Ergänzung zu seinem Vorabentscheidungsersuchen übersandt, das den Beteiligten zwecks Berücksichtigung in ihren Erklärungen übermittelt wurde.

44.      Vier der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens (C. O., C. I., L. N. und S. P.), die rumänische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

45.      An der mündlichen Verhandlung vom 10. Mai 2023 haben sich die rumänische Regierung und die Kommission beteiligt.

IV.    Würdigung

A.      Zulässigkeit

46.      Ich halte die drei Vorlagefragen für zulässig, habe jedoch Zweifel an der Zulässigkeit der vom vorlegenden Gericht am 24. März 2023 übermittelten Ergänzung.

47.      In dieser Ergänzung ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof für den Fall, dass er seine Vorlagefragen bejaht, um Beifügung einer Begründung, um zu vermeiden, dass der in der rumänischen Verfassung enthaltene Grundsatz der Nichtdiskriminierung seine Antwort ins Leere gehen lasse(16).

48.      Bei dieser Ergänzung handelt es sich allerdings um ein neues Vorabentscheidungsersuchen in verdeckter Form, das, wie C. I., C. O. und die rumänische Regierung betonen, hypothetischer Natur(17) und für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht zwingend erforderlich ist. Die Fragen, die der Ergänzung zugrunde liegen, betreffen Urteile, die von den rumänischen Gerichten in Anwendung der Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) bereits aufgehoben wurden. Im Ausgangsverfahren befinden sich die Beschwerdeführer nicht in einer solchen Situation.

B.      Erste und zweite Vorlagefrage

49.      Mit den ersten beiden Vorlagefragen, die zusammen beantwortet werden können, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob unter den beschriebenen tatsächlichen und rechtlichen Umständen Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des SFI-Übereinkommens, der Entscheidung 2006/928 und Art. 49 der Charta den nationalen Regelungen und der nationalen Rechtsprechung zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit entgegensteht.

50.      Beide Fragen beruhen auf der Prämisse, dass bei Anwendung der nationalen Vorschriften im Sinne der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs das Risiko der Straflosigkeit für Handlungen besteht, die einen schweren Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union darstellen. Vor diesem Hintergrund enthält die Begründung des vorlegenden Gerichts Zitate u. a. aus den Urteilen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Åkerberg Fransson(18), Taricco u. a.(19), M.A.S. und M.B.(20) sowie Euro Box Promotion u. a.(21).

1.      Anwendbare Vorschriften des Unionsrechts

51.      Zunächst kann die Anwendung der SFI-Richtlinie, deren Art. 12 gemeinsame Regeln für die Verjährungsfristen für gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete Betrugsstraftaten festlegt, auf die vorliegende Rechtssache aus folgenden Gründen ausgeschlossen werden:

–      Die gemeinsamen Regeln gelten für Straftaten, die nach dem 6. Juli 2019 begangen wurden (Art. 17). Im vorliegenden Rechtsstreit geht es hingegen um Handlungen aus dem Jahr 2010.

–      Die SFI-Richtlinie findet nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen das gemeinsame Mehrwertsteuersystem Anwendung, die mit dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten der Union verbunden sind und einen Gesamtschaden von mindestens 10 000 000 Euro umfassen (Art. 2 Abs. 2). Der Schaden aus den im vorliegenden Rechtsstreit in Rede stehenden Straftaten beläuft sich auf einen niedrigeren Betrag.

52.      Die Richtlinie 2006/112/EG(22) in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten zwar zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs(23), enthält aber keine spezifischen Bestimmungen, die auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens anwendbar wären.

53.      Bei der Prüfung der Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften und der nationalen Rechtsprechung mit Art. 325 Abs. 1 AEUV, einer Bestimmung des Primärrechts, in der der Grundsatz des Schutzes der finanziellen Interessen der Union verankert ist, können Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 4 Abs. 3 EUV berücksichtigt werden.

54.      Das Gleiche gilt für das SFI-Übereinkommen, das den Grundsatz aus Art. 325 AEUV präzisiert.

55.      Neben Art. 325 AEUV kann sich auch die Entscheidung 2006/928 auf die Antwort auswirken(24). Obwohl es sich bei den hier geahndeten Straftaten um Mehrwertsteuerbetrug handelt, hat die durch die Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) geschaffene Situation in Bezug auf Verjährungsfristen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit auch Folgen für Korruptionsdelikte, insbesondere bei Korruption auf hoher Ebene, wie die Kommission in ihrem CVM-Bericht 2022 festgestellt hat(25).

56.      Nach diesen Klarstellungen werde ich im Folgenden prüfen:

–      ob die Rechtsprechung des rumänischen Verfassungsgerichtshofs zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gegen Art. 325 AEUV und die Entscheidung 2006/928 verstößt;

–      ob sich diese Rechtsprechung, falls ein solcher Verstoß festgestellt wird, auf den durch Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta garantierten Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes stützen kann;

–      ob in den rumänischen Rechtsvorschriften ein höherer Schutzstandard für den Grundsatz des milderen Gesetzes besteht, an den die genannte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs anknüpft.

2.      Art. 325 Abs. 1 AEUV und Rechtsprechung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union

57.      Gemäß Art. 325 Abs. 1 AEUV sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, „… Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen [zu bekämpfen], die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten … einen effektiven Schutz bewirken“(26).

58.      Die Mitgliedstaaten sind insbesondere verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die tatsächliche und vollständige Erhebung der Eigenmittel sicherzustellen, die in den Einnahmen bestehen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben(27).

59.      Der Verweis in Art. 325 AEUV auf „Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ zeigt dem Gerichtshof zufolge(28), dass Korruptionshandlungen mit Betrugsfällen zusammenhängen können und umgekehrt die Begehung eines Betrugs durch Korruptionshandlungen erleichtert werden kann. Eine etwaige Beeinträchtigung der finanziellen Interessen kann sich in bestimmten Fällen aus dem Zusammentreffen eines Mehrwertsteuerbetrugs mit Korruptionshandlungen ergeben(29).

60.      Der Begriff „Betrug“ im Sinne der Definition in Art. 1 des SFI-Übereinkommens(30) umfasst die Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben(31).

61.      Wie ich bereits dargestellt habe, wurden die Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache wegen Straftaten der Steuerhinterziehung und Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt, die im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer und der Verbrauchssteuer auf Diesel begangen wurden. Es besteht folglich kein Zweifel, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV Anwendung findet und dass es sich um einen schweren Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union handelt: Der Betrug hat einen Betrag von mehr als 50 000 Euro zum Gegenstand (Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens).

62.      Bei der Umsetzung von Art. 325 Abs. 1 AEUV können die Mitgliedstaaten die anwendbaren Sanktionen frei wählen. Bei den Sanktionen kann es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination der beiden handeln. Auf jeden Fall haben die Mitgliedstaaten die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten. Strafrechtliche Sanktionen können unerlässlich sein, um bestimmte Fälle von schwerem Mehrwertsteuerbetrug wirksam und abschreckend zu bekämpfen(32).

63.      Das rumänische Recht sieht für solche Betrugsfälle strafrechtliche Sanktionen vor, und im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens besteht kein Zweifel daran, dass sie als solche wirksam und abschreckend sind. Ebenso wenig wird bestritten, dass die im Strafgesetzbuch von 2009 für diese Kategorie von Straftaten vorgesehenen Verjährungsfristen(33) abstrakt gesehen angemessen sind(34), d. h. nicht im Widerspruch zum wirksamen und abschreckenden Charakter der Sanktionen stehen. Diese Fristen überschreiten die in Art. 12 der SFI-Richtlinie festgelegten Mindestfristen.

64.      Die aufgeworfenen Fragen betreffen also weder die Strafen, wie sie das rumänische Recht vorsieht, noch die im Strafgesetzbuch von 2009 festgelegten Verjährungsfristen, sondern die nach zwei Urteilen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) entstandene rechtliche Unmöglichkeit, diese Fristen zu unterbrechen.

65.      Für die rumänischen obersten Gerichte ist die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in ihrem Rechtssystem ein Element des materiellen Rechts (und somit nicht des Verfahrensrechts). Diese Prämisse steht nicht im Widerspruch zum Unionsrecht, wie ich nachstehend erläutern werde.

66.      Die Urteile und die Untätigkeit des nationalen Gesetzgebers haben zur Folge, dass während eines bestimmten Zeitraums(35) die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Rahmen eines Strafverfahrens durch keine Handlung unterbrochen werden konnte. Der Wegfall der Unterbrechungstatbestände wird als „milderes Strafgesetz“ im Sinne von Art. 15 Abs. 2 der rumänischen Verfassung und Art. 5 des Strafgesetzbuchs von 2009 angesehen. Trotz der abweichenden Rechtsprechung der unteren Gerichte ist dies die Auslegung des rumänischen Rechts, die für diesen Zeitraum maßgeblich ist, da sie von der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in ihren Urteilen Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 sowie von der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) in ihrem Urteil Nr. 67/2022 im Rahmen eines Rechtsmittels zur Wahrung des Rechts verbindlich festgelegt wurde.

67.      Folglich kann es bei Personen, die wegen schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder anderer Straftaten(36) verurteilt wurden, zu einer Aufhebung der Verurteilung und einer Freilassung kommen: Hierfür reicht aus, dass zwischen der Begehung der Tat und dem rechtskräftigen Urteil, mit dem die Strafe verhängt wurde, die im Strafgesetzbuch von 2009 vorgesehene Verjährungsfrist abgelaufen ist (und kein Unterbrechungstatbestand berücksichtigt werden kann).

68.      Das vorlegende Gericht(37) spricht sich für eine Auslegung des nationalen Rechts aus, wonach im Ausgangsverfahren das Vorliegen eines „milderen Strafgesetzes“ ausgeschlossen werden könne(38). Eine solche Entscheidung ist jedoch allein Sache des vorlegenden Gerichts. Die Möglichkeit, das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen, selbst wenn dafür die Rechtsprechung eines höheren Gerichts abgeändert werden muss, ist dadurch beschränkt, dass keine Auslegung contra legem des nationalen Rechts erfolgen darf(39).

69.      Ich sehe nicht, wie eine Auslegung der rumänischen Rechtsvorschriften und der Rechtsprechung zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Zeitraum von 2018 bis 2022 vorgenommen werden kann, die nicht im Widerspruch zu den Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) steht. In diesen Entscheidungen wird das in Rumänien geltende Recht endgültig festgelegt, und bei der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs handelt es sich um das „letzte Wort“ zu den nationalen Rechtsvorschriften(40).

70.      Wenn keine Möglichkeit einer anderen Auslegung besteht, ist zu prüfen, ob das nationale Recht, wie es sich aus den Rechtsvorschriften und der sie auslegenden Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ergibt, gegen die Verpflichtung verstößt, schweren Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union mit wirksamen und abschreckenden Strafen zu ahnden. In seiner Vorlageentscheidung geht das vorlegende Gericht davon aus, dass ein solcher Verstoß vorliegt.

71.      Nach den im Vorabentscheidungsverfahren vorliegenden Informationen könnte diese Einschätzung als begründet angesehen werden, wenn die Situation in Rumänien während des in Rede stehenden Zeitraums dazu geführt hätte, dass eine erhebliche Zahl von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union straflos geblieben wäre, so dass dies nicht mit Art. 325 Abs. 1 AEUV vereinbar wäre.

72.      Dem Gerichtshof zufolge hat die Pflicht der Mitgliedstaaten, zur Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, unmittelbare Wirkung. Art. 325 Abs. 1 AEUV erlegt den Mitgliedstaaten eine genaue Ergebnispflicht auf, die an keine Bedingung geknüpft ist(41).

73.      Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, sicherzustellen, dass die Vorschriften, die für Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union gelten, nicht so gestaltet sind, dass die systemische Gefahr der Straffreiheit besteht. Dabei ist jedoch auch der Schutz der Grundrechte der Beschuldigten zu gewährleisten(42).

74.      Der Vorlageentscheidung zufolge hat der rumänische Gesetzgeber nach Erlass des Urteils Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 nicht geändert und ist somit der entsprechenden Verpflichtung fast vier Jahre lang nicht nachgekommen. Die Änderung wurde schließlich mit der Verordnung Nr. 71/2022 vorgenommen, jedoch blieben in der Zeit zwischen dem Urteil und dem Erlass der Verordnung zahlreiche schwere Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union aufgrund der rückwirkenden Wirkung des milderen Gesetzes ungeahndet.

3.      Entscheidung 2006/928 und die systemische Gefahr der Straflosigkeit

75.      Die Entscheidung 2006/928 ist eine Handlung der Kommission, die auf der Grundlage der Beitrittsakte, die zum Primärrecht der Union gehört, ergangen ist. Sie stellt insbesondere einen Beschluss im Sinne von Art. 288 Abs. 4 AEUV dar.

76.      Die Berichte der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, die im Rahmen des mit der Entscheidung 2006/928 geschaffenen Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung (VZÜ) erstellt werden, sind ebenfalls als Handlungen eines Organs der Union anzusehen, deren Rechtsgrundlage Art. 2 dieser Entscheidung ist(43).

77.      Der Gerichtshof hat bereits die Art und die rechtlichen Folgen der Entscheidung 2006/928 analysiert und betont, dass sie, solange sie nicht aufgehoben worden ist, für Rumänien in allen ihren Teilen verbindlich ist.

78.      Die im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben sollen sicherstellen, dass der Mitgliedstaat den in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit beachtet, und sind für Rumänien verbindlich: Der Mitgliedstaat ist verpflichtet, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, wobei er gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die von der Kommission erstellten Berichte, insbesondere die in diesen Berichten formulierten Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat(44).

79.      Mit der Entscheidung 2006/928 wurden insbesondere das VZÜ eingerichtet und im Bereich der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung in Rumänien die in Art. 1 genannten und im Anhang aufgeführten Vorgaben festgelegt. Diese Vorgaben sind verbindlich, so dass Rumänien der besonderen Verpflichtung unterliegt, diese zu erfüllen und von der Durchführung aller Maßnahmen abzusehen, die die Erreichung dieser Vorgaben gefährden könnten(45).

80.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die rumänischen Gerichte infolge des Wegfalls der Tatbestände für die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zwischen 2018 und 2022, der sich aus der Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ergebe, Strafverfahren, sogar im Rahmen von Nichtigkeitsbeschwerden, einstellten.

81.      Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sich nach dem CVM-Bericht 2022 die in Rede stehenden Umstände „besonders nachteilig auf wichtige laufende Strafverfahren auswirken“ und „schwerwiegende Folgen“ in Form der „Aufhebung der strafrechtlichen Haftung in einer erheblichen Zahl von Fällen“ haben dürften(46). Daher sei das gesamte rumänische Justizsystem betroffen.

82.      Die vom vorlegenden Gericht und im CVM-Bericht 2022 beschriebene Situation deutet darauf hin, dass in Rumänien für schwere Betrugsstraftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union (sowie häufig damit verbundene Korruptionsdelikte auf hoher Ebene) im Zeitraum 2018 bis 2022 eine Gefahr der Straflosigkeit besteht, obwohl nicht genau festgestellt wird, in wie vielen Fällen diese finanziellen Interessen beeinträchtigt sind. Diese Gefahr ergibt sich den Ausführungen zufolge aus dem Fehlen von Tatbeständen für die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (und gleichzeitig aus der überlangen, über die Verjährungsfrist hinausgehenden Dauer der entsprechenden Strafverfahren).

83.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, als Tatsachenfrage zu prüfen, ob im rumänischen Staat aufgrund der Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) die systemische Gefahr besteht, dass Straftaten des schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und damit zusammenhängende Korruptionsstraftaten straflos bleiben. Ist dies der Fall, würde Rumänien die spezifische Pflicht zur Erfüllung der im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben (insbesondere die Vorgaben zur Bekämpfung der Korruption) nicht erfüllen.

4.      Art. 49 der Charta und der Grundsatz des milderen Strafgesetzes

84.      Art. 325 Abs. 1 AEUV entfaltet, ebenso wie die Entscheidung 2006/928, unmittelbare Wirkung. Beide Bestimmungen haben daher gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Folge, dass jede entgegenstehende nationale Bestimmung ohne Weiteres unanwendbar wird(47).

85.      „Die zuständigen nationalen Gerichte müssen … den Verpflichtungen, die sich aus Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV ergeben, volle Wirkung verleihen und innerstaatliche Rechtsvorschriften, namentlich im Bereich der Verjährung, unangewendet lassen, wenn diese im Rahmen eines Verfahrens über schwere Mehrwertsteuerstraftaten der Verhängung effektiver und abschreckender Strafen zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, entgegenstehen(48).“

86.      Im streitgegenständlichen Verfahren kommen Art. 325 Abs. 1 AEUV und die Entscheidung 2006/928 zur Anwendung, d. h., es kommt zur „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta.

87.      Angesichts dieser Tatsache muss das vorlegende Gericht auch darauf achten, dass die durch die Charta garantierten Grundrechte (im vorliegenden Fall der verurteilten Personen) gewahrt werden. Sollte das vorlegende Gericht aus den vorstehend dargestellten Gründen beschließen, die nationale Rechtsprechung zum Fehlen von Unterbrechungstatbeständen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Zeitraum 2018 bis 2022 nicht zu berücksichtigen, so darf es dies nicht ungeachtet der Bestimmungen der Charta tun, die gegenüber Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht nachrangig sind(49).

88.      Die Pflicht, eine wirksame Erhebung der Eigenmittel der Union zu garantieren, entbindet die nationalen Gerichte jedoch nicht von der gebotenen Achtung der in der Charta garantierten Grundrechte, wenn es sich um wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleitete Strafverfahren handelt, in denen das Unionsrecht zur Anwendung kommt(50).

89.      Insoweit ist das Grundrecht, das die Beibehaltung und Anwendung der Rechtsprechung des rumänischen Verfassungsgerichtshofs rechtfertigen könnte, in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta verankert: Es handelt sich um den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes (lex mitior).

90.      Die Verpflichtung, die Mehrwertsteuer-Eigenmittel der Union zu schützen, kann, wie ich noch einmal betonen möchte, die nationalen Gerichte nicht davon befreien, den Grundsatz des milderen Gesetzes als einen mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verbundenen Grundsatz anzuwenden, der mit der Rechtsstaatlichkeit untrennbar verbunden ist. Die Rechtsstaatlichkeit wiederum ist einer der Werte, auf die sich die Union gründet (Art. 2 EUV).

91.      Gemäß Art. 49 Abs. 1 der Charta „… darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.“

92.      Der Grundsatz der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes, wie er in der Charta verankert ist, gehört zum Primärrecht der Union(51) und ist in von den Mitgliedstaaten der Union unterzeichneten völkerrechtlichen Verträgen verankert(52).

93.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass „die Anwendung des milderen Strafgesetzes notwendigerweise bedeutet, dass es sich um zeitlich aufeinanderfolgende Rechtsvorschriften handelt, und sie auf der Feststellung beruht, dass der Gesetzgeber entweder hinsichtlich der strafrechtlichen Qualifikation der Handlungen oder der für eine Straftat zu verhängenden Strafe seinen Standpunkt geändert hat(53).“

94.      Der Grundsatz des milderen Gesetzes stellt eine Ausnahme vom Verbot der rückwirkenden Anwendung des Strafrechts dar. Da die Rückwirkung in bonam partem dem Beschuldigten zugutekommt, kann nicht geltend gemacht werden, dass die Durchsetzung des späteren Strafgesetzes gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen (nullum crimen, nulla poena sine lege) verstoße. Das frühere Strafgesetz, das zum Zeitpunkt der Straftat in Kraft war, weicht rückwirkend dem neuen Recht und verbessert so die strafrechtliche Situation des Beschuldigten (bzw. des Verurteilten).

95.      Ihre Begründung mag zwar umstritten sein, jedoch basiert die rückwirkende Anwendung milderer Strafgesetze auf der Erwägung, dass eine Person nicht wegen eines Verhaltens verurteilt werden soll bzw. dass ihr nicht wegen eines Verhaltens die Freiheit entzogen werden darf, das nach der (geänderten) Auffassung des Gesetzgebers die im früheren Gesetz vorgesehene Strafe nicht mehr verdient. Dieser Person sollen so die Vorteile der gewandelten gesetzgeberischen Bewertungen zugutekommen(54).

96.      Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Art. 52 Abs. 3) hat das in Art. 49 der Charta garantierte Recht die gleiche Bedeutung und Tragweite wie das von der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) garantierte Recht.

97.      Da die EMRK diesen Grundsatz nicht ausdrücklich enthält, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) ihn, der Rechtsprechung des Gerichtshofs folgend, aus ihrem Art. 7 abgeleitet(55).

98.      Der EGMR hat Folgendes entschieden:

–      „Eine schwerere Strafe allein aus dem Grund zu verhängen, dass sie zur Zeit der Tatbegehung vorgesehen war, würde bedeuten, die Regeln über die zeitliche Abfolge von Strafgesetzen zum Nachteil des Angeklagten anzuwenden. Es würde zudem darauf hinauslaufen, den Angeklagten begünstigende Gesetzesänderungen, die vor seiner Verurteilung erfolgen, zu missachten und weiterhin Strafen zu verhängen, die der Staat – und die Gemeinschaft, die er repräsentiert – nun für exzessiv erachtet(56).“

–      „Die Verpflichtung, von verschiedenen Strafgesetzen jenes anzuwenden, dessen Bestimmungen für den Angeklagten am günstigsten sind, ist eine Klarstellung der Regeln über die zeitliche Abfolge von Strafgesetzen, die mit einem weiteren wesentlichen Element von Art. 7 [EMRK], nämlich der Vorhersehbarkeit von Strafen, im Einklang steht(57).“

–      Aus dem Grundsatz der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes folgt, dass „wenn das zum Zeitpunkt der Begehung einer Straftat geltende Strafrecht und spätere, vor Ergehen eines endgültigen Urteils erlassene Strafgesetze voneinander abweichen, das Gericht das Gesetz anwenden muss, dessen Bestimmungen für den Beschuldigten günstiger sind“(58).

99.      Bisher haben jedoch weder der EGMR noch der Gerichtshof den Umfang des Grundsatzes des milderen Gesetzes für Fälle wie dem des Ausgangsverfahrens genau abgegrenzt. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gibt dem Gerichtshof die Möglichkeit, seine Rechtsprechung weiterzuentwickeln, um zu klären, ob sich aus Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta ableiten lässt,

–      dass der Grundsatz des milderen Gesetzes auf die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und ihre Unterbrechungstatbestände zur Anwendung kommt;

–      dass zum Zweck der Anwendung des Grundsatzes des milderen Gesetzes eine Änderung eines Strafgesetzes mit der Rechtsprechung eines nationalen Verfassungsgerichts gleichzusetzen ist;

–      dass sich der Grundsatz des milderen Gesetzes nur auf noch nicht mit rechtskräftigem Urteil abgeschlossene Strafverfahren oder im Gegenteil auch auf Verfahren, über die bereits rechtskräftig mit Urteil entschieden wurde, erstreckt (und somit Auswirkung auf die in der Vollzugsphase befindlichen Strafen hat).

100. Die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sind in Bezug auf den Grundsatz des milderen Gesetzes in der Tat „uneinheitlich“. In einigen Ländern ist diese grundlegende strafrechtliche Garantie gar nicht geregelt, und in anderen wird ihr ein weiter, sogar in der Verfassung verankerter Geltungsbereich eingeräumt (so u. a. in Portugal, Rumänien, Italien und Spanien). Ich vertrete den Standpunkt, dass der Gerichtshof einen eigenständigen und spezifischen Schutzstandard für Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta festlegen sollte, der den Adressaten ein hohes Schutzniveau und nicht nur einen Mindestschutz bietet.

a)      Der Grundsatz des milderen Gesetzes und die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit

101. Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta verweist auf die Rückwirkung eines Gesetzes, das „eine mildere Strafe“ einführt. Wie ich bereits dargestellt habe, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Anwendung des milderen Strafgesetzes auf der Feststellung beruht, dass der Gesetzgeber „entweder hinsichtlich der strafrechtlichen Qualifikation der Handlungen oder der für eine Straftat zu verhängenden Strafe“ seine Ansicht geändert hat(59).

102. Diese beiden Verweise sind zwar nicht entscheidend, deuten jedoch darauf hin, dass der in der Charta verankerte Grundsatz des milderen Gesetzes nur für Vorschriften des materiellen Strafrechts und nicht für Vorschriften des Strafverfahrensrechts gilt.

103. Wenn dies so sein sollte, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Verjährung und ihre Unterbrechung im Sinne von Art. 49 der Charta materiell-rechtlicher oder nur verfahrensrechtlicher Art ist. Hierbei handelt es sich um eine wichtige Klarstellung, denn die strafrechtlichen Verfahrensvorschriften folgen normalerweise dem Grundsatz tempus regit actum.

104. Nach der Rechtsprechung der rumänischen obersten Gerichte sind die nationalen Vorschriften über die strafrechtliche Verjährung materiell-rechtlicher Natur. Das Unionsrecht steht dieser nationalen Rechtsprechung nicht entgegen, wie der Gerichtshof im Urteil M.A.S. und M.B. anerkannt hat.

105. Im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Union durch die Auferlegung von Strafen besteht eine geteilte Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 4 Abs. 2 AEUV.

106. Zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit waren die Rechtsvorschriften über die Verjährung von Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer noch nicht durch den Unionsgesetzgeber harmonisiert(60). Es stand den Mitgliedstaaten frei, zu bestimmen, dass in ihrer Rechtsordnung die Rechtsvorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und ihre Unterbrechung zum materiellen Strafrecht gehören(61).

107. In Ermangelung einer Harmonisierung der Verjährungsfristen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union sind es daher die Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats, die entscheiden, ob ihre Verjährungsvorschriften verfahrensrechtlicher oder materiell-rechtlicher Natur sind(62).

108. Zwar hat der Gerichtshof im Urteil Taricco die Vorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit dem Verfahrensrecht zugeordnet, wie es der EGMR angedeutet hatte(63); in anderen Rechtssachen jedoch hat der Gerichtshof die Verjährungsfristen anders beurteilt(64).

109. Der EGMR neigt in seiner Rechtsprechung dazu, diese Vorschriften als verfahrensrechtlich anzusehen, da sie nicht die Straftaten und die aufzuerlegenden Strafen bestimmen, sondern lediglich eine Voraussetzung für die Ermittlung des Falles festlegen(65). Der EGMR hat jedoch entschieden, dass es eine Verletzung von Art. 7 EMRK darstellt, wenn ein Angeklagter wegen einer bereits verjährten Straftat verurteilt wird(66).

110. Im Urteil M.A.S. und M.B.(67) hat der Gerichtshof (meiner Meinung nach zu Recht) das Urteil Taricco relativiert und:

–      auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 7 Abs. 1 EMRK verwiesen, wonach Strafvorschriften hinsichtlich der Definition sowohl des Straftatbestands als auch des Strafmaßes bestimmten Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit genügen müssen(68);

–      hervorgehoben, dass aus dem Bestimmtheitsgebot folgt, dass das Gesetz die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen klar definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen(69);

–      festgestellt, dass die dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen innewohnenden Erfordernisse der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und des Rückwirkungsverbots (in Italien) auch für die Regelung der Verjährung von Mehrwertsteuerstraftaten gelten.

111. Unter Berücksichtigung des Urteils M.A.S. und M.B. vertrete ich den Standpunkt, dass, solange das Unionsrecht nicht entsprechend harmonisiert wird(70), jeder Mitgliedstaat weiterhin den Vorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (und folgerichtig auch den Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährungsfristen) einen materiell-rechtlichen Charakter zuweisen kann. Insoweit gilt für diese Vorschriften der Grundsatz des milderen Gesetzes gemäß Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta.

b)      Der Grundsatz des milderen Gesetzes und Entscheidungen der Verfassungsgerichte

112. Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) hat entschieden, dass die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit dem materiellen Strafrecht zuzuordnen sei, und Art. 155 des Strafgesetzbuchs von 2009, der die Unterbrechung der Verjährung regelt, für verfassungswidrig erklärt. Infolge dieser Rechtsprechung liefen diese Fristen im Zeitraum zwischen dem 25. Juni 2018 und dem 30. Mai 2022, ohne dass die Möglichkeit einer Unterbrechung bestand.

113. Es könnte argumentiert werden, dass die Entscheidungen eines Verfassungsgerichts kein „milderes Strafgesetz“ darstellten, da es sich dabei nicht um echte gesetzgeberische Maßnahmen des Mitgliedstaats handele. Meiner Meinung nach ist dieser Einwand jedoch zurückzuweisen.

114. Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) handelt bei der Erklärung der Verfassungswidrigkeit von Art. 155 des Strafgesetzbuchs von 2009 als „negativer Gesetzgeber“(71). In Staaten mit konzentrierter Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit hat die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes einen ähnlichen Wert und eine ähnliche Bindungswirkung wie das Gesetz selbst, dessen vollständige oder teilweise Nichtanwendbarkeit (und gegebenenfalls Nichtigkeit) aufgrund Unvereinbarkeit mit der nationalen Verfassung erklärt wird. In diesen Ländern entfaltet eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes eine Wirkung erga omnes und führt dazu, dass diese Gesetze ganz oder teilweise aus dem Rechtssystem entfernt werden (Spanien, Polen, Portugal, Litauen, Rumänien, Deutschland oder Italien).

115. In Bezug auf die rückwirkende Anwendung des milderen Strafgesetzes sehe ich daher keinen Unterschied zwischen der vollständigen oder teilweisen Aufhebung eines Strafgesetzes durch ein späteres Gesetz (Entscheidung des Gesetzgebers) und der ebenfalls vollständigen oder teilweisen Verdrängung dieses Gesetzes aus der Rechtsordnung infolge der Feststellung der Verfassungswidrigkeit (Entscheidung des Verfassungsgerichts)(72).

116. Somit kommt im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes des milderen Gesetzes eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit, wie sie von der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in ihren Urteilen Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 vorgenommen wurde, einer Gesetzesänderung gleich. Eine solche Feststellung ist für alle staatlichen Stellen, einschließlich der Gerichte, verbindlich(73), jedoch sind die Gerichte weiterhin für die Beurteilung zuständig, ob eine nationale Rechtsvorschrift, die das Verfassungsgericht für mit der Verfassung vereinbar erklärt hat, mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht(74).

117. Im vorliegenden Rechtsstreit beantworten die Urteile Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) eine Frage des rumänischen Verfassungsrechts, ohne über dessen Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu entscheiden oder den Vorrang des Unionsrechts in Frage zu stellen.

118. Wenn der Gerichtshof von „zeitlich aufeinanderfolgende[n] Rechtsvorschriften“ spricht, verwendet er den Begriff „Rechtsvorschriften“ im weiteren Sinne. Dieser Begriff umfasst natürlich die von den Gesetzgebungsorganen der Mitgliedstaaten verabschiedeten Gesetze, aber auch die Änderungen dieser Gesetze, die sich ergeben, wenn ein Verfassungsgericht sie für verfassungswidrig erklärt. Meiner Auffassung nach entspricht diese These eher der Verpflichtung, die durch die Charta geschützten Rechte nicht so auszulegen, dass ihr Inhalt eingeschränkt wird.

119. Das Urteil des EGMR in der Rechtssache Ruban/Ukraine steht nicht im Widerspruch zu der von mir vertretenen Auslegung. Gegenstand jenes Urteils war die etwaige Verletzung des Grundsatzes des milderen Gesetzes durch den ukrainischen Staat infolge eines Urteils seines Verfassungsgerichts. Der EGMR lehnte eine Verletzung von Art. 7 EMRK ab, prüfte die Verfassungswidrigkeitserklärung jedoch so, als handele es sich um eine Gesetzesänderung, ohne zu beanstanden, dass es sich bei der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nicht um zeitlich aufeinanderfolgende „Rechtsvorschriften“ handelt(75).

c)      Der Grundsatz des milderen Gesetzes  und rechtskräftige Strafurteile

120. Im Urteil Scoppola/Italien schien der EGMR die Anwendung des Grundsatzes des milderen Gesetzes auf noch nicht rechtskräftig entschiedene Strafverfahren beschränken(76) zu wollen. In einigen späteren Fällen hat er den Grundsatz jedoch auch auf rechtskräftige Urteile ausgedehnt, vorausgesetzt, die nationalen Rechtsvorschriften sehen diese Möglichkeit vor(77).

121. Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, dass auch der Gerichtshof den Grundsatz des milderen Gesetzes auf nicht rechtskräftige Urteile beschränkt hat(78). Ich halte eine solche Schlussfolgerung jedoch für verfrüht, da in der Rechtssache Delvigne die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften den Verurteilten die Möglichkeit boten, eine sich aus einer früheren rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung ergebende Situation nach neuen Rechtsvorschriften überprüfen zu lassen.

122. Meiner Auffassung nach ist der Grundsatz des milderen Gesetzes auch auf rechtskräftige und in der Vollstreckung befindliche strafrechtliche Urteile anzuwenden. Ich räume ein, dass dies nicht in allen Mitgliedstaaten der Union so gehandhabt wird, auch wenn einige Mitgliedstaaten diese Lösung gewählt haben(79). Selbst in jenen Mitgliedstaaten, in denen der Grundsatz des milderen Gesetzes in der Regel nicht auf rechtskräftige Strafurteile zur Anwendung kommt, gibt es zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel. Häufig wird die Rückwirkung zugunsten des Betroffenen auf rechtskräftige Strafurteile ausgedehnt, wenn das neue Strafgesetz dies vorsieht, wenn eine Handlung nicht länger als Straftat angesehen wird(80) oder wenn ein Verfassungsgericht ein Strafgesetz für verfassungswidrig erklärt hat(81).

123. Auf jeden Fall hat der in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta verankerte Grundsatz eine eigenständige Bedeutung, die nicht von den unterschiedlichen von den Mitgliedstaaten gefundenen Lösungen abhängt, und das von ihm gebotene Schutzniveau muss, wie ich bereits angedeutet habe, hoch ausfallen und darf nicht nur Mindestvoraussetzungen erfüllen.

124. Es ist nicht ersichtlich, warum eine Änderung der Werte (bzw. der Strafkriterien) des Gesetzgebers nur zugunsten von Beschuldigten oder Angeklagten zur Anwendung kommen soll und nicht zugunsten von Personen, die wegen vergleichbarer Taten bereits rechtskräftig verurteilt wurden. Die mangelnde Nachvollziehbarkeit wird am deutlichsten bei der Entkriminalisierung eines zuvor bestraften Verhaltens durch ein späteres Gesetz (abolitio criminis). Es ist mit dem reinen juristischen Gewissen nicht zu vereinbaren, dass in einem solchen Fall rein zeitliche Gründe dafür ausschlaggebend sind, dass eine wegen einer dieser Handlungen rechtskräftig verurteilte Person in Haft bleibt, während eine derselben Verhaltensweise beschuldigte Person, die noch auf ihre Verurteilung wartet, von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausgenommen wird.

125. Die gleichen Kriterien der Gerechtigkeit und Kohärenz, die im Rahmen des Grundsatzes des milderen Gesetzes für Beschuldigte und Angeklagte gelten, können auch für bereits verurteilte Personen herangezogen werden. Es ist, wie ich betonen möchte, nicht angemessen, wenn von zwei Personen, die am selben Tag vergleichbare Taten begangen haben, der Grundsatz des milderen Gesetzes nur der einen zugutekommt, weil das Strafverfahren bei ihr, die noch nicht rechtskräftig verurteilt wurde, länger dauerte, während es bei der anderen Person schneller abgeschlossen und ein rechtskräftiges Urteil erlassen wurde.

126. Um solche Widersprüche zu verhindern, sollte die Logik des Grundsatzes der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes auch auf rechtskräftige Strafurteile zur Anwendung kommen. Diese Lösung führt zwar dazu, dass rechtskräftige Urteile überprüft werden müssen, aber dieser Einwand scheint mir nicht unüberwindbar. Dies gilt auf jeden Fall für Fälle der Entkriminalisierung von Verhaltensweisen, die zuvor als Straftaten eingestuft waren, und ich sehe auch keinen Grund, warum dies bei sonstigen zeitlich aufeinanderfolgenden Rechtsvorschriften anders sein sollte(82).

127. Für die Überprüfung rechtskräftiger Urteile infolge des Grundsatzes des milderen Gesetzes ist Voraussetzung, dass das nationale Recht einen Verfahrensweg für die Überprüfung auf Antrag des Verurteilten vorsieht. In Rumänien besteht dieser Weg der Vorlageentscheidung zufolge in dem außerordentlichen Rechtsbehelf der Nichtigkeitsbeschwerde gemäß Art. 426 Abs. 1 Buchst. b der rumänischen Strafprozessordnung mit den im Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) hervorgehobenen Einschränkungen.

d)      Zwischenergebnis

128. Zusammengefasst schlage ich vor, den in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta verankerten Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes wie folgt auszulegen:

–      Der Grundsatz erstreckt sich auf Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, sofern das nationale Strafrecht diese als materielle Rechtsvorschriften einordnet,

–      Fälle, in denen ein Strafgesetz aufgrund der Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch ein nationales Verfassungsgericht geändert wird, sind zeitlich aufeinanderfolgenden Strafrechtsvorschriften gleichzusetzen, und

–      der Grundsatz ist auf laufende Strafverfahren anzuwenden sowie auf rechtskräftige Urteile, sofern dies im nationalen Recht vorgesehen ist bzw. auch als allgemeine Regel.

129. In der vorliegenden Rechtssache rechtfertigt es der in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta verankerte Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes, dass Verurteilte, auf die ursprünglich eine später für verfassungswidrig erklärte Regelung zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit angewandt wurde, von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreit werden, sofern es sich um Bereiche handelt, in denen das Unionsrecht Anwendung findet. Die Befreiung erstreckt sich somit auf Straftaten des schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, die gegen Art. 325 AEUV und die Entscheidung 2006/928 verstoßen.

130. Folglich erfordert es das Unionsrecht in einer Situation wie der in Rede stehenden, selbst wenn dies zur Straflosigkeit der Täter einiger dieser Straftaten führt, nicht, dass die strittige Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) nicht umgesetzt wird.

5.      Höherer Schutzstandard für den Grundsatz des milderen Gesetzes im rumänischen Recht

131. Sollte der Gerichtshof, anders als ich es vertrete, feststellen, dass der in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta verankerte Grundsatz der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes in der vorliegenden Rechtssache nicht zur Anwendung kommt, wäre zu prüfen, ob das rumänische Recht einen höheren Schutzstandard für den Grundsatz des milderen Gesetzes festlegt.

132. Ein Gericht eines Mitgliedstaats kann, wie im vorliegenden Fall, mit einer Situation befasst sein, in der es zu prüfen hat, ob eine nationale Vorschrift oder Maßnahme, die Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt, mit den Grundrechten vereinbar ist.

133. Ist in einer solchen Situation das Handeln der Mitgliedstaaten nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt, bestätigt Art. 53 der Charta, dass es den staatlichen Behörden und Gerichten weiterhin freisteht, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden.

134. Im rumänischen Recht ist der nationale Standard für den Schutz des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes in Art. 15 Abs. 2 der Verfassung sowie Art. 5 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 vorgesehen, dessen Anwendungsbereich von der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) festgelegt wurde.

135. Wie ich bereits dargestellt habe, sind nach der Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) und der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) die Vorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und die Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährungsfristen materiell-rechtlicher Art, und folglich kommt auf sie der Grundsatz des milderen Gesetzes zur Anwendung(83).

136. In den Urteilen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) Nr. 297/2018 und Nr. 358/2022 wurde hervorgehoben, dass zwischen dem 25. Juni 2018 und dem 30. Mai 2022 infolge der Anwendung dieses Grundsatzes kein Tatbestand für die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zur Verfügung stand.

137. Damit dieser nationale Schutzstandard für den durch die rumänischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes zur Anwendung kommen kann, müssen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zwei Voraussetzungen erfüllt sein(84):

–      Durch die Anwendung darf weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird,

–      noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.

138. Was die erste Voraussetzung anbetrifft, sieht das Unionsrecht in diesem Bereich keine spezifische Regelung vor. Die Anwendung des rumänischen Schutzstandards hat daher keine Auswirkungen auf das Schutzniveau von Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta.

139. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob der Schutzstandard für den Grundsatz des milderen Gesetzes nach dem rumänischen Recht die Einheit, den Vorrang und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt, da die Rechtsprechung aus dem Urteil M.A.S. und M.B. einerseits und dem Urteil Euro Box Promotion andererseits nicht leicht miteinander in Einklang zu bringen ist.

140. Im Urteil M.A.S. und M.B. hat der Gerichtshof:

–      anerkannt, dass es der Italienischen Republik damals frei stand, zu bestimmen, dass die Rechtsvorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ebenso wie die Rechtsvorschriften über die Straftatbestände und das Strafmaß zum materiellen Strafrecht gehören und deshalb wie Letztere dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unterliegen(85);

–      darauf hingewiesen, dass es der Italienischen Republik frei stand, einen höheren nationalen Standard zum Schutz des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen als im Unionsrecht vorgesehen anzuwenden, sofern dadurch weder die Einheit noch der Vorrang oder die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden(86);

–      angesichts der Ausführungen des italienischen Verfassungsgerichts zu den negativen Auswirkungen einer Heranziehung des Urteils Taricco auf den in der italienischen Verfassung verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen bestätigt, dass das nationale Gericht zu prüfen hat, ob eine Nichtanwendung der Bestimmungen des Strafgesetzbuches (die eine Verhängung von wirksamen und abschreckenden Strafen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten schweren Betrugsfällen verhinderten) in der italienischen Rechtsordnung hinsichtlich der Bestimmung der anwendbaren Verjährungsregelung eine Unsicherheit schafft, die dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen abträglich ist(87);

–      entschieden, dass das nationale Gericht, sollte es zu der Auffassung gelangen, dass der Verpflichtung, die einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unangewendet zu lassen, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen entgegensteht, nicht verpflichtet wäre, dieser Verpflichtung nachzukommen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Sachlage abgeholfen werden könnte(88).

141. Der Gerichtshof hat auf diese Weise eine Grenze für die Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts eingeräumt: Die nationalen Gerichte können dem Unionsrecht entgegenstehende innerstaatliche Rechtsvorschriften anwenden, um ein Grundrecht (den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen) zu schützen, das im nationalen Recht mit einem höheren Schutzstandard als im Unionsrecht gewährleistet ist(89).

142. Das Urteil M.A.S. und M.B. verpflichtet das nationale Gericht folglich nicht, dem Schutz der finanziellen Interessen der Union absoluten Vorrang und damit sogar Vorrang vor einem Grundrecht wie dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen einzuräumen.

143. Im Urteil Euro Box Promotion hat der Gerichtshof die rumänischen Rechtsvorschriften und die Rechtsprechung des rumänischen Verfassungsgerichtshofs(90) analysiert, die ebenso wie die italienischen Rechtsvorschriften in der Rechtssache M.A.S. und M.B. zu einer systemischen Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsstraftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und damit zu einem Verstoß gegen die Pflicht aus Art. 325 Abs. 1 AEUV führen können. Im Anschluss an diese Analyse hat er entschieden:

–      Das vorlegende Gericht hat die gebotene Achtung der in Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta verankerten Grundrechte, d. h. des Rechts jeder Person, dass ihre Sache von einem unabhängigen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird, sicherzustellen.

–      „Eine vorschriftswidrige Besetzung der Spruchkörper [eines Gerichts] stellt aber insbesondere dann einen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta dar, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Verfahrens zur Besetzung der Spruchkörper beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden …(91).“

–      Die Praxis in Bezug auf die Spezialisierung und die Besetzung der rumänischen Spruchkörper in Korruptionssachen stellt keinen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta dar, und daher handelt es sich um einen anderen Fall als den, über den mit dem Urteil M.A.S. und M.B. entschieden wurde. Aus diesem Grund „… stehen die sich aus Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta ergebenden Erfordernisse der Nichtanwendung der Rechtsprechung aus den Urteilen [des Verfassungsgerichtshofs] nicht entgegen(92).“

–      Die rumänischen Rechtsvorschriften und die Rechtsprechung des rumänischen Verfassungsgerichtshofs in Bezug auf das Erfordernis, dass Berufungsurteile in Korruptionssachen von Spruchkörpern erlassen werden müssten, deren sämtliche Mitglieder durch Losentscheid bestimmt seien, könnten einen nationalen Schutzstandard für die Grundrechte darstellen(93).

–      Dieser nationale Schutzstandard würde aber den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen, namentlich von Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des SFI‑Übereinkommens sowie der Entscheidung 2006/928, da er eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten im Allgemeinen bergen würde(94).

144. Nach meiner Überzeugung liegt der vorliegende Rechtsstreit dem Rechtsstreit, der zum Urteil M.A.S. und M.B. geführt hat, näher als dem des Urteils Euro Box Promotion. Im Urteil Euro Box Promotion hat der Gerichtshof entschieden, dass die Praxis der Besetzung von auf Korruptionsdelikte spezialisierten Spruchkörpern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, die vom rumänischen Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt wurde, nicht gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta verstößt. Es wurde auch kein eindeutiger nationaler Schutzstandard für das Recht auf ein unabhängiges, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im rumänischen Recht festgestellt. Eine der Parteien in der mündlichen Verhandlung machte in Antwort auf eine Frage des Gerichtshofs das Bestehen eines solchen Schutzstandards geltend, jedoch bezeichneten die rumänische Regierung und die Kommission dies als unzutreffend(95).

145. Auf jeden Fall scheint mir die systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union nicht als Rechtfertigungsgrund, um ein Grundrecht wie die rückwirkende Anwendung des milderen Strafgesetzes zu beschränken, wenn die Verfassungsordnung eines Mitgliedstaats einen höheren Schutzstandard für dieses Grundrecht vorsieht, als er in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta festgelegt ist.

146. Für den Fall, dass der von mir vertretenen Auslegung von Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta nicht gefolgt wird, kann im Wesentlichen festgestellt werden, dass die Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) über das Fehlen von Unterbrechungstatbeständen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zwischen 2018 und 2022 einen höheren nationalen Schutzstandard für den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes eingeführt hat, als er in jenem Artikel der Charta vorgesehen ist.

147. Zwar kann die Anwendung dieses nationalen Standards, wie ich bereits analysiert habe und wie das vorlegende Gericht hervorhebt, zu einer Gefahr der Straflosigkeit für Personen führen, die des schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union beschuldigt werden.

148. In dem Präzedenzfall, der zum Urteil M.A.S. und M.B. geführt hat, bestand jedoch die gleiche Gefahr einer Straflosigkeit, und ich sehe keinen Grund, warum dies in der vorliegenden Rechtssache anders zu beurteilen wäre. Im vorliegenden Fall besteht, wie es auch in der Rechtssache M.A.S. und M.B. der Fall war, anders als in der Rechtssache Euro Box Promotion eindeutig ein höherer nationaler Schutzstandard für den Grundsatz des milderen Gesetzes.

149. Die finanziellen Interessen der Union sind ohne Zweifel schützenswert, allerdings darf dieser Schutz keinen Vorrang vor der Wahrung eines Grundrechts wie dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes haben.

150. In einer Rechtsgemeinschaft wie der Union sind die Grundrechte nicht weniger wichtig als ihre finanziellen Interessen. Mit anderen Worten dürfen die finanziellen Interessen der Union nicht um den Preis einer Verletzung der Grundrechte geschützt werden.

151. Werden Art. 325 AEUV und seine Durchführungsbestimmungen mangelhaft umgesetzt und entsteht in einem oder mehreren Staaten eine systemische Gefahr der Straflosigkeit, so verfügt die Union über andere rechtliche Mechanismen, um darauf zu reagieren, wie z. B. die Vertragsverletzungsklage. Es scheint mir nicht mit dem Wert der Rechtsstaatlichkeit aus Art. 2 EUV vereinbar, wenn das Schutzniveau für den Grundsatz des milderen Gesetzes gesenkt wird, um die finanziellen Interessen der Union besser zu schützen.

152. Folglich käme im vorliegenden Fall der Vorrang des Unionsrechts nicht zur Anwendung, und das vorlegende Gericht müsste die Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) nicht unangewendet lassen, um die Erfüllung von Art. 325 Abs. 1 AEUV und der Entscheidung 2006/928 sicherzustellen. Vielmehr müsste es sich an diese Rechtsprechung halten, um den höheren Schutzstandard für den Grundsatz des milderen Gesetzes aus dem rumänischen Recht zu wahren, der seinem Wesen nach den Straftätern zugutekommt.

153. Diese Lösung ist auch am ehesten mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen und seinen Erfordernissen der Vorhersehbarkeit und der Bestimmtheit des anzuwendenden Rechts vereinbar(96). Die Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in Verbindung mit dem Urteil der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) haben die Regelung der Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gemäß Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 verdeutlicht, nachdem bei den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine Zeit lang diesbezüglich Zweifel bestanden hatten. Eine Nichtanwendung dieser Rechtsprechung würde zu neuen Unsicherheiten hinsichtlich der Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zwischen 2018 und 2022 führen.

C.      Dritte Vorlagefrage

154. Das vorlegende Gericht stellt seine dritte Vorlagefrage für den Fall, dass der Gerichtshof die ersten beiden Fragen bejaht (und allein bei Unmöglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung).

155. Da ich vorschlage, die beiden ersten Vorlagefragen zu verneinen, ist es nicht erforderlich, auf die dritte Frage einzugehen. Für den Fall, dass der Gerichtshof anderer Auffassung ist, werde ich jedoch meinen Standpunkt darstellen.

156. In Bezug auf das rumänische Rechtssystem(97) hat der Gerichtshof bereits Entscheidungen getroffen, die eine Antwort auf die letzte Vorlagefrage ermöglichen. In dieser Vorlagefrage betont das vorlegende Gericht die Möglichkeit, dass Richter mit Sanktionen belegt werden könnten, wenn sie von der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts abwichen, weil diese nach ihrer Ansicht nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

157. Wie das vorlegende Gericht(98) und die rumänische Regierung betonen, wurde Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004, der die Nichtbeachtung der Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) oder der Urteile der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) bei Rechtsmitteln zur Wahrung des Rechts als Disziplinarvergehen ansah, nach Erlass des Urteils RS aufgehoben.

158. Im Urteil Nr. 520/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) vom 9. November 2022 wurde jedoch festgestellt, dass die Nichtbeachtung der Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) oder der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) durch die Richter eine Disziplinarstrafe nach sich ziehen kann, wenn der Richter in bösem Glauben oder grob fahrlässig gehandelt hat. Das vorlegende Gericht fragt nach der Vereinbarkeit dieser neuen Disziplinarordnung mit dem Unionsrecht.

159. Die Urteile Euro Box Promotion und RS beinhalten ausreichend Anhaltspunkte für die Beantwortung dieser Frage. Ich beschränke mich daher darauf, einige ihrer Erwägungen wiederzugeben:

–      „… [D]ie Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte [darf] insbesondere nicht dazu führen …, dass völlig ausgeschlossen ist, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters in bestimmten, ganz außergewöhnlichen Fällen durch von ihm erlassene Gerichtsentscheidungen ausgelöst werden kann. Die Anforderung der Unabhängigkeit ist nämlich ganz sicher nicht dazu gedacht, etwaige schwerwiegende und völlig unentschuldbare Verhaltensweisen von Richtern zu billigen, wie z. B. die vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen, Willkür oder Rechtsverweigerung, wenn sie als diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, über Streitigkeiten zu entscheiden haben, die ihnen von Rechtsuchenden vorgelegt werden(99).“

–      „Jedoch ist es für die Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte und um auf diese Weise zu verhindern, dass die Disziplinarregelung entgegen ihrem legitimen Zweck zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter eingesetzt werden kann, von grundlegender Bedeutung, dass ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen kann(100).“

–      „… Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV [sind] dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, wonach ein nationaler Richter für jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts disziplinarisch belangt werden kann(101).“

–      „Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach ein nationaler Richter mit der Begründung disziplinarisch belangt werden kann, dass er das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof angewandt habe und damit von einer mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unvereinbaren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats abgewichen sei(102).“

160. Die dritte Vorlagefrage ist folglich in diesem Sinne zu beantworten.

V.      Ergebnis

161. Nach alledem schlage ich vor, die Vorlagefragen der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov, Rumänien) wie folgt zu beantworten:

1.      Eine nationale Regelung und eine nationale Rechtsprechung zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Taten, die einen schweren Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union darstellen, nicht geahndet werden, verstoßen grundsätzlich gegen Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie gegen die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung.

Das nationale Gericht ist nicht verpflichtet, diese nationale Regelung und diese nationale Rechtsprechung unangewendet zu lassen, wenn sie durch die Anwendung des in Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes bzw. durch einen im nationalen Recht festgelegten höheren Schutzstandard für diesen Grundsatz gerechtfertigt sind.

2.      Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, wonach ein nationaler Richter für jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts oder des nationalen obersten Gerichtshofs disziplinarisch belangt werden kann. Sie stehen jedoch nicht einer disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit in Ausnahmefällen mit schwerwiegenden und völlig unentschuldbaren Verhaltensweisen von Richtern entgegen, wie die vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen.

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach ein nationaler Richter mit der Begründung disziplinarisch belangt werden kann, dass er bei der Anwendung des Unionsrechts in seiner Auslegung durch den Gerichtshof von einer mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unvereinbaren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts abgewichen sei.


1      Originalsprache: Spanisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.


2      Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, gezeichnet in Brüssel am 26. Juli 1995, Anhang zum Rechtsakt des Rates vom 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 49; im Folgenden: SFI-Übereinkommen).


3      Entscheidung der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56).


4      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29; im Folgenden: SFI-Richtlinie).


5      Codul Penal din 21 iulie 1968, republicat (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 65, vom 16. April 1997) (Strafgesetzbuch vom 21. Juli 1968, neu veröffentlicht). Dieses Strafgesetzbuch wurde durch die Legea Nr. 140/1996, pentru modificarea și completarea Codului penal (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 289, vom 14. November 1996) (Gesetz Nr. 140/1996 zur Änderung des Strafgesetzbuchs) neu gefasst und war bis zum 1. Februar 2014 in Kraft (im Folgenden: Strafgesetzbuch von 1969).


6      Legea nr. 286/2009 privind Codul penal vom 17. Juli 2009 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 510, vom 24. Juli 2009) (Gesetz Nr. 286/2009 über das Strafgesetzbuch, im Folgenden: Strafgesetzbuch von 2009). In Kraft seit dem 1. Februar 2014.


7      Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 71 din 30 mai 2022 pentru modificarea articolului 155 alineatul (1) din Legea nr. 286/2009 privind Codul penal (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 531 vom 30. Mai 2022) (Verordnung Nr. 71 vom 30. Mai 2022 zur Änderung von Art. 155 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 286/2009 zum Strafgesetzbuch; im Folgenden: Verordnung Nr. 71/2022).


8      Legea nr. 135/2010 privind Codul de procedură penală (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 486 vom 15. Juli 2010) (Gesetz Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung).


9      Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) entschied jedoch, dass die frühere gesetzgeberische Lösung (Art. 123 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 1969) den in der Verfassung verankerten Erfordernissen der Klarheit und der Vorhersehbarkeit genügt habe, da danach die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nur durch Vornahme einer Handlung erfolgt sei, die nach dem Gesetz dem Beschuldigten mitzuteilen gewesen sei.


10      Der Vorlageentscheidung zufolge erklärte die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) nach Erlass des Urteils des Verfassungsgerichtshofs Nr. 297/2018 sowohl Anträge auf Auslegung von Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs von 2009 als auch ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts zwecks Auslegung dieser Bestimmung für unzulässig. Dies geht aus ihren Urteilen Nr. 5 vom 21. März 2019 bzw. Nr. 25 vom 11. November 2019 hervor.


11      Dieser Rechtsakt wurde einige Tage nach der Veröffentlichung des Urteils Nr. 358/2022 des Verfassungsgerichtshofs erlassen (siehe Nr. 19 der vorliegenden Schlussanträge).


12      Die Lektüre dieses Urteils scheint darauf hinzudeuten, dass es sich eher um ein Vorabgutachten zu Rechtsfragen handelt.


13      Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor și procurorilor (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826, vom 13. September 2005) (Gesetz Nr. 303/2004 vom 28. Juni 2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten).


14      Legea nr. 303/2022 din 15 noiembrie 2022 privind statutul judecătorilor și procurorilor (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Nr. 1102, vom 16. November 2022) (Gesetz Nr. 303/2022 vom 15. November 2022 über den Status von Richtern und Staatsanwälten).


15      Mit Urteil vom 30. Juni 2020 wurde das Urteil Nr. 38/S des Tribunalul Brașov (Regionalgericht Brașov, Rumänien) vom 13. März 2018 bestätigt.


16      Seiner Ansicht nach hat die Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) zur Folge, dass zahlreiche Verurteilungen zu Freiheitsstrafen aufgrund des Fehlens von Unterbrechungstatbeständen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unwirksam geworden seien. Dies führe zu einer Diskriminierung zwischen den Beschwerdeführern im vorliegenden Rechtsstreit einerseits und den Verurteilten, bei denen nicht zu ihren Gunsten der Grundsatz des milderen Gesetzes angewandt worden sei, andererseits.


17      Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist (Hervorhebung nur hier) oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a., C‑160/20, EU:C:2022:101, Rn. 82).


18      Urteil vom 26. Februar 2013, C‑617/10, EU:C:2013:105, im Folgenden: Urteil Åkerberg Fransson.


19      Urteil vom 8. September 2015, C‑105/14, EU:C:2015:555, im Folgenden: Urteil Taricco.


20      Urteil vom 5. Dezember 2017, C‑42/17, EU:C:2017:936, im Folgenden: Urteil M.A.S. und M.B.


21      Urteil vom 21. Dezember 2021, C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, im Folgenden: Urteil Euro Box Promotion.


22      Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).


23      Urteile Åkerberg Fransson (Rn. 25) und Taricco (Rn. 36). Konkret „geht … aus den Art. 2 und 273 der Richtlinie [2006/112] in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen“ (Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone, C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 26).


24      Zu ihrer Art, ihrem Inhalt und ihren Auswirkungen vgl. Urteile vom 18. Mai 2021, Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, im Folgenden: Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“, Rn. 152 bis 178), und Euro Box Promotion (Rn. 155 bis 175).


25      Dokument COM(2022) 664 final vom 22. November 2022, Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (im Folgenden: CVM-Bericht 2022), S. 13 und 27.


26      Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, im Folgenden: Urteil Kolev, Rn. 50), vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, im Folgenden: Urteil Dzivev, Rn. 25), und Euro Box Promotion (Rn. 181).


27      Urteile M.A.S. und M.B. (Rn. 31 und 32), Kolev (Rn. 51 und 52) und Euro Box Promotion (Rn. 182).


28      „[I]m Hinblick auf die Bedeutung, die dem Schutz der finanziellen Interessen der Union, einem ihrer Ziele …, beizumessen ist, [kann] der Begriff ‚rechtswidrige Handlung‘ nicht eng ausgelegt werden“ (Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone, C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


29      Urteil Euro Box Promotion (Rn. 186) und Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in jener Rechtssache (EU:C:2021:170, Nrn. 98 und 99).


30      „[J]ede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend … die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der [Union] oder aus den Haushalten, die von [der Union] oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden.“


31      Urteil Taricco (Rn. 41).


32      Urteil Taricco (Rn. 39).


33      „Es ist in erster Linie Aufgabe des nationalen Gesetzgebers, die Verjährung so zu regeln, dass sie den Anforderungen von Art. 325 AEUV im Licht der vom Gerichtshof in Rn. 58 des Urteils Taricco angestellten Erwägungen genügt. Er hat nämlich zu gewährleisten, dass die nationale Regelung der Verjährung in Strafsachen nicht dazu führt, dass eine beträchtliche Anzahl von schweren Betrugsfällen im Bereich der Mehrwertsteuer ungeahndet bleiben …“ (Urteil M.A.S, und M.B., Rn. 41).


34      Wie L. N. in seinen schriftlichen Erklärungen dargestellt hat, liegen die in Art. 154 des Strafgesetzbuchs von 2009 vorgesehenen Verjährungsfristen für schweren Mehrwertsteuerbetrug zwischen acht und zehn Jahren.


35      Zwischen dem 25. Juni 2018 (Datum der amtlichen Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]) und dem 30. Mai 2022 (Datum der amtlichen Veröffentlichung und des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 71/2022).


36      Für den Fall der Anwendung des milderen Strafgesetzes (wegen des Wegfalls der Tatbestände für die Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit) auf Personen, die wegen Fahrens ohne Führerschein verurteilt wurden, hat der Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen mit Beschluss vom 12. Januar 2023, SNI (C‑506/22, nicht veröffentlicht, EU:C:2023:46), für unzulässig erklärt.


37      Vorlageentscheidung (Rn. 121).


38      In einer vergleichbaren Argumentation erklärt die Kommission, dass die ordentlichen Gerichte im Zeitraum von 2018 bis 2022 bis zur Veröffentlichung der Verordnung Nr. 71/2022 das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) in dem Sinn angewandt hätten, dass die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch die dem Beschuldigten mitgeteilten Handlungen unterbrochen worden sei. Da diese Lösung mit der aus dem Strafgesetzbuch von 1969 übereinstimme, habe es im fraglichen Zeitraum kein milderes Strafgesetz gegeben, so dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht unangewandt bleiben müsse.


39      Urteile vom 4. März 2020, Telecom Italia (C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 59 und 60), und vom 4. Mai 2023, Agenția Națională de Integritate (C‑40/21, EU:C:2023:367, Rn. 71).


40      Eine Auslegung contra legem des rumänischen Rechts verstieße wahrscheinlich gegen Art. 147 Abs. 4 der rumänischen Verfassung, wobei es jedoch allein Sache der nationalen Gerichte ist, dies zu entscheiden.


41      Urteil Taricco (Rn. 51).


42      Urteile Kolev (Rn. 65) und Dzivev (Rn. 31).


43      Urteile Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ (Rn. 149) und Euro Box Promotion (Rn. 156).


44      Urteile Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ (Rn. 178) und Euro Box Promotion (Rn. 175).


45      Urteile Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ (Rn. 172) und Euro Box Promotion (Rn. 169).


46      „Nach einer von der DNA [(Nationale Antikorruptionsbehörde)] veröffentlichten Schätzung könnten insgesamt 557 Strafverfahren, in denen strafrechtliche Ermittlungen laufen, oder die vor Gericht anhängig sind, als Folge davon eingestellt werden. Zwar müsste der genaue Schaden von Fall zu Fall bewertet werden, doch die DNA schätzt den Gesamtschaden in diesen Fällen auf rund 1,2 Mrd. EUR und das finanzielle Gesamtvolumen der Bestechungen und unerlaubten Einflussnahmen auf rund 150 Mio. EUR … Abgesehen von den Korruptionsfällen wären nach einer Schätzung der mit Terrorismus und organisierter Kriminalität befassten Fachabteilung der Staatsanwaltschaft insgesamt 605 laufende Fälle mit einem Gesamtschadensvolumen von schätzungsweise über 1 Mrd. EUR betroffen … Schätzungen der Generalstaatsanwaltschaft zu anderen Straftaten lagen nicht vor“ (Dokument COM[2022] 664 final, S. 27).


47      Urteil Taricco (Rn. 50 bis 52).


48      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 39).


49      Urteile Kolev (Rn. 68 und 71), Dzivev (Rn. 33) und Euro Box Promotion (Rn. 204).


50      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 52): „Dieser in Art. 49 der Charta niedergelegte Grundsatz [der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen] bindet die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta, etwa wenn sie im Rahmen der ihnen durch Art. 325 AEUV auferlegten Verpflichtungen die Verhängung von Strafen wegen Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer vorsehen. Die Verpflichtung, eine wirksame Erhebung der Mittel der Union zu garantieren, darf diesem Grundsatz deshalb nicht zuwiderlaufen.“


51      Bereits zuvor hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Grundsatz aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten folgt und dementsprechend zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, die das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts zu berücksichtigen hat: Urteile vom 7. August 2018, Clergeau u. a. (C‑115/17, EU:C:2018:651, im Folgenden: Urteil Clergeau, Rn. 26), vom 6. Oktober 2016, Paoletti u. a. (C‑218/15, EU:C:2016:748, im Folgenden: Urteil Paoletti, Rn. 25), und vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 68 und 69).


52      Vgl. insbesondere Art. 15 Abs. 1 Satz 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, zur Unterzeichnung aufgelegt am 19. Dezember 1966 (UN Treaty Series, Band 999, S. 171).


53      Urteile Clergeau (Rn. 33) und Paoletti (Rn. 27).


54      Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in den verbundenen Rechtssachen Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2004:624, Nrn. 159 bis 161) und in der Rechtssache Clergeau u. a. (C‑115/17, EU:C:2018:240, Nrn. 39 und 40), sowie des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Scialdone (C‑574/15, EU:C:2017:553, Nrn. 155 bis 160). Vgl. auch Urteil Paoletti (Rn. 27).


55      Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 17. September 2009, Scoppola/Italien (Nr. 2) (CE:ECHR:2009:0917JUD001024903, im Folgenden: Urteil Scoppola/Italien, § 108).


56      EGMR, Urteil Scoppola/Italien (§ 108).


57      EGMR, Urteil Scoppola/Italien (§ 108).


58      EGMR, Urteile Scoppola/Italien (§ 109) und vom 18. März 2014, Öcalan/Türkei (Nr. 2) (CE:ECHR:2014:0318JUD002406903, § 175). Vgl. auch Urteile des EGMR vom 12. Januar 2016, Gouarré Patt/Andorra (CE:ECHR:2016:0112JUD003342710, § 28), vom 12. Juli 2016, Ruban/Ukraine (CE:ECHR:2016:0712JUD000892711, Rn. 37), und vom 24. Januar 2017, Koprivnikar/Slowenien (CE:ECHR:2017:0124JUD006750313, § 49).


59      Urteile Clergeau (Rn. 33) und Paoletti (Rn. 27).


60      Später wurde mit Art. 12 der SFI-Richtlinie eine teilweise Harmonisierung der Verjährungsvorschriften für diese Art von Straftaten vorgenommen, ohne jedoch zu klären, ob die Vorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Natur sind.


61      Ebenso wie die Rechtsvorschriften über die Straftatbestände und das Strafmaß, die ebenfalls dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unterliegen (Urteil M.A.S. und M.B., Rn. 45).


62      In Belgien, Deutschland und Frankreich zählen die Verjährungsvorschriften zum Verfahrensrecht. In Griechenland, Spanien, Italien, Lettland, Schweden und Rumänien fallen diese Vorschriften hingegen in den Bereich des materiellen Strafrechts. In Polen und Portugal stellen sie sowohl materiell- als auch verfahrensrechtliche Vorschriften dar.


63      Urteil Taricco (Rn. 55 bis 57).


64      Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks (C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 46): „… im Unterschied zu den Verfahrensfristen [bezieht sich] die Verjährungsfrist dadurch, dass sie zum Untergang der Klage führt, auf das materielle Recht …, denn sie betrifft die Ausübung eines subjektiven Rechts, auf das sich der Betroffene vor Gericht nicht mehr wirksam berufen kann.“ Daher ordnet der Gerichtshof Art. 10 („Verjährung“) der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1) dem materiellen und nicht dem Verfahrensrecht zu.


65      EGMR, Urteile vom 22. Juni 2000, Coëme u. a./Belgien (CE:ECHR:2000:0622JUD003249296, § 149), vom 12. Februar 2013, Previti/Italien (CE:ECHR:2013:0212DEC000184508, § 80), und vom 22. September 2015, Borcea/Rumänien (CE:ECHR:2015:0922DEC005595914, § 64).


66      Gutachten P16-2021-001 vom 26. April 2022 über die Anwendung der Verjährungsfristen auf die Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung von Straftaten, die den Tatbestand der Folter erfüllen, §§ 72 bis 77, und EGMR, Urteil vom 18. Juni 2020, Antia und Khupenia/Georgien (CE:ECHR:2020:0618JUD000752310, §§ 38 bis 43).


67      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 54 bis 58).


68      Urteile des EGMR vom 15. November 1996, Cantoni/Frankreich (CE:ECHR:1996:1115JUD001786291, § 29), vom 7. Februar 2002, E.K./Türkei, (CE:ECHR:2002:0207JUD002849695, § 51), vom 29. März 2006, Achour/Frankreich, (CE:ECHR:2006:0329JUD006733501, § 41); und vom 20. September 2011, OAO Neftyanaya Kompaniya Yukos/Russland, (CE:ECHR:2011:0920JUD001490204, §§ 567 bis 570).


69      Urteil vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 162).


70      Der Gerichtshof kann nicht im Wege der Rechtsprechung eine Harmonisierung vornehmen, die der Unionsgesetzgeber bisher nicht erreicht hat, selbst wenn dies wünschenswert wäre, um eine höhere Effizienz bei der Verfolgung von schweren Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu erzielen.


71      Kelsen, H., „La garantie juridictionnelle de la constitution (la justice constitutionnelle)“, Revue du droit public et de la science politique en France et à l’étranger, 1928, S. 197 bis 257.


72      Vgl. ähnlich auch das Urteil der Cour de cassation, chambre criminelle (Kassationsgerichtshof, Strafkammer, Frankreich) vom 8. Juni 2021, Nr. 20-87.078 (FR:CCASS:2021:CR00864): „les décisions du Conseil constitutionnel s’imposant aux pouvoirs publics et à toutes les autorités administratives et juridictionnelles en vertu de l’article 62 de la Constitution, les déclarations de non-conformité ou les réserves d’interprétation qu’elles contiennent et qui ont pour effet qu’une infraction cesse, dans les délais, conditions et limites qu’elles fixent, d’être incriminée doivent être regardées comme des lois pour l’application de l’article 112-4, alinéa 2, du code pénal“ (Hervorhebung nur hier). Der genannte Artikel des französischen Strafgesetzbuches bestimmt, dass eine Strafe nicht weiter vollstreckt wird, wenn sie für eine Handlung verhängt wurde, die gemäß einem nach dem Urteil erlassenen Gesetz nicht mehr den Charakter einer Straftat hat.


73      Der Gerichtshof hat bestätigt, dass Art. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegenstehen. Dies setzt voraus, dass das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive gewährleistet. Die Vorabentscheidungsersuchen in anderen Rechtssachen sowie in der vorliegenden Rechtssache enthalten jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), der u. a. gemäß Art. 146 Buchst. d und e der Verfassung Rumäniens die Zuständigkeit übertragen ist, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen zu prüfen und über verfassungsrechtliche Konflikte zwischen Trägern staatlicher Gewalt zu entscheiden, den unionsrechtlichen Erfordernissen der Unabhängigkeit nicht genügen würde (vgl. in diesem Sinne Urteile Euro Box Promotion, Rn. 230 und 232, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, im Folgenden: Urteil RS, Rn. 44).


74      Urteil RS (Rn. 45 und 46).


75      EGMR, Urteil vom 12. Juli 2016, Ruban/Ukraine (CE:ECHR:2016:0712JUD000892711, §§ 41 bis 46).


76      EGMR, Urteil Scoppola/Italien, § 109: „Wenn das zum Zeitpunkt der Begehung einer Straftat geltende Strafrecht und spätere, vor Ergehen eines endgültigen Urteils erlassene Strafgesetze voneinander abweichen, muss das Gericht das Gesetz anwenden, dessen Bestimmungen für den Beschuldigten günstiger sind“.


77      EGMR, Urteile vom 12. Januar 2016, Gouarré Patte/Andorra (CE:ECHR:2016:0112JUD003342710, §§ 33 bis 36); vom 12. Juli 2016, Ruban/Ukraine (CE:ECHR:2016:0712JUD000892711, § 39); und vom 24. Januar 2017, Koprivnikar/Slowenien (CE:ECHR:2017:0124JUD006750313, § 49).


78      Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne (C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 56).


79      Nach Art. 23 Abs. 2 des spanischen Strafgesetzbuchs kommt ein den Täter begünstigendes Strafgesetz auch dann rückwirkend zur Anwendung, wenn zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens bereits ein rechtskräftiges Urteil ergangen ist und der Betreffende eine Strafe verbüßt. Ähnliche Bestimmungen gibt es in den Rechtssystemen Litauens, Portugals oder Polens.


80      Dies ist beispielsweise in Art. 112-4 Satz 2 des französischen Strafgesetzbuchs und Art. 2 Abs. 2 des italienischen Strafgesetzbuchs vorgesehen.


81      In Deutschland kann ein Verurteilter gegen ein rechtskräftiges Strafurteil die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozessordnung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074 ff., insbesondere S. 1319), in der durch das Gesetz vom 25. März 2022 (BGBl. I S. 571) geänderten Fassung, beantragen, wenn dieses Urteil auf einer vom Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Vgl. Schmidt-Bleibtreu, Klein, Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 62. Aufl., 2022, C. H. Beck, München, § 79, Rn. 25.


82      Die Anwendung des Grundsatzes des milderen Gesetzes kann Änderungen unterliegen, u. a. bei nur vorübergehend geltenden Gesetzen, bei Gesetzen, die nur Geldstrafen festlegen, oder bei Gesetzen, die für später wegfallende Ausnahmesituationen erlassen wurden.


83      Vgl. insbesondere Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof).


84      Urteile Åkerberg Fransson (Rn. 29), vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60), M.A.S. und M.B. (Rn. 47), vom 29. Juli 2019, Pelham u. a. (C‑476/17, EU:C:2019:624, Rn. 80), und Euro Box Promotion (Rn. 211).


85      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 45 und 58).


86      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 47 und 48).


87      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 49, 50 und 59).


88      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 59 und 61).


89      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 41, 42 und 60).


90      Danach sind Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Berufungsurteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen.


91      Urteil Euro Box Promotion (Rn. 206). In Rn. 207 wird hinzugefügt: „[D]er Verfassungsgerichtshof [hat] in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen zwar entschieden, dass die frühere Praxis des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, die namentlich auf der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise beruhte, in Bezug auf die Spezialisierung und die Besetzung der Spruchkörper in Korruptionssachen nicht mit den geltenden nationalen Bestimmungen vereinbar gewesen sei, jedoch ist nicht ersichtlich, dass diese Praxis einen offenkundigen Verstoß gegen eine Grundregel des rumänischen Justizsystems darstellen würde, der geeignet wäre, den Charakter der Spruchkörper für Korruptionssachen des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, wie sie gemäß der genannten Praxis vor diesen Urteilen des Verfassungsgerichtshofs gebildet wurden, als ‚zuvor durch Gesetz errichtetes‘ Gericht in Frage stellen könnte.“


92      Urteil Euro Box Promotion (Rn. 209).


93      Urteil Euro Box Promotion (Rn. 210).


94      Urteil Euro Box Promotion (Rn. 212).


95      Urteil Euro Box Promotion (Rn. 210).


96      Urteil M.A.S. und M.B. (Rn. 55 und 56).


97      Urteile Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“, Euro Box Promotion und RS.


98      Vorlageentscheidung (Rn. 145 und 146).


99      Urteil RS (Rn. 83 und die dort angeführten Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 137), und Euro Box Promotion (Rn. 238).


100      Urteil RS (Rn. 84 und die dort angeführten Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 138), und Euro Box Promotion (Rn. 239).


101      Urteil RS (Rn. 87 und das dort angeführte Urteil Euro Box Promotion, Rn. 242).


102      Urteil RS (Rn. 93 und Tenor Nr. 2).