Language of document : ECLI:EU:C:2021:104

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 10. Februar 2021(1)

Rechtssache C719/19

FS

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 15 – Entscheidung, die die Freizügigkeit beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird – Unrechtmäßiger Aufenthalt eines Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat – Ausweisungsverfügung – Physische Ausreise des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat – Zeitliche Wirkungen der Ausweisungsverfügung – Art. 5, 6 und 7 – Möglichkeit für den Unionsbürger, bei seiner Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat erneut das Recht auf Einreise oder Aufenthalt zu erhalten“






I.      Einleitung

1.        Kann sich ein Unionsbürger, der das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, verloren hat und gegen den aus diesem Grund eine Ausweisungsverfügung nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG(2) (im Folgenden: Aufenthaltsrichtlinie) ergangen ist, im Fall der sofortigen Rückkehr in diesen Mitgliedstaat, nachdem er dessen Hoheitsgebiet in Umsetzung dieser Ausweisungsverfügung verlassen hatte, erneut auf ein Aufenthaltsrecht nach dieser Richtlinie berufen? Falls dies verneint wird: Wie lange muss sich der Unionsbürger außerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats aufhalten, bevor er erneut ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat erlangen kann?

2.        Dies sind die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Fragen, auf die hin der Gerichtshof bestimmen wird, wann sich die Rechtswirkungen einer Ausweisungsverfügung, die im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie „nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ erlassen wurde, erschöpfen und unter welchen Voraussetzungen ein Unionsbürger daher erneut ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat erlangen kann.

3.        Diese Fragen werden es dem Gerichtshof ermöglichen, sich erstmals sowohl zu den zeitlichen Wirkungen einer solchen Ausweisungsverfügung als auch allgemein zum Zusammenspiel von Art. 15 mit Art. 5 (Recht auf Einreise), Art. 6 (Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten) und schließlich Art. 7 (Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate) dieser Richtlinie zu äußern(3).

4.        Die Antworten auf diese Fragen liegen nicht auf der Hand. Zum einen wird mit diesen Fragen das heikle Gleichgewicht hervorgehoben, das zwischen zwei Rechten herzustellen ist, die nicht leicht miteinander in Einklang gebracht werden können: das Recht der Unionsbürger, sich im Gebiet der Union frei aufzuhalten, und das Recht der Mitgliedstaaten, Personen aus ihrem Hoheitsgebiet auszuweisen, die nicht berechtigt sind, sich dort aufzuhalten. Zum anderen fügen sich diese Fragen in den besonderen Regelungszusammenhang des Fehlens von Kontrollen an den Binnengrenzen der Union ein(4), was gerade mit dem Begriff der „Ausweisung“ eines Unionsbürgers aus einem Mitgliedstaat in einen anderen schwer vereinbar ist.

5.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe darlegen, die meine Vorschläge stützen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:

–        Die Rechtswirkungen einer auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie erlassenen Ausweisungsverfügung können nicht allein dadurch erlöschen, dass der Unionsbürger das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats physisch verlässt, weil dies die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigen würde.

–        Der Vorschlag, die Wirkungen einer Ausweisungsverfügung systematisch während eines bestimmten Zeitraum nach der physischen Ausreise der betreffenden Person, konkret für mindestens drei Monate, fortbestehen zu lassen, würde eine ungerechtfertigte Beschränkung des Aufenthaltsrechts, wie es in Art. 21 AEUV verankert ist und durch die genannte Richtlinie konkretisiert wird, bedeuten.

–        Es ist Aufgabe der Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, die zeitlichen Wirkungen der nach Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie ergangenen Ausweisungsverfügungen – und erst recht die Möglichkeit, sich erneut auf ein Aufenthaltsrecht zu berufen – auf der Grundlage einer eingehenden Prüfung der Situation des Betroffenen unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände, insbesondere des Vorliegens einer tatsächlichen und effektiven Beendigung seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat und der Gefahr, dass er Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats unangemessen in Anspruch nimmt, zu beurteilen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

6.        Im 16. Erwägungsgrund der Aufenthaltsrichtlinie heißt es, dass, „[s]olange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, … keine Ausweisung erfolgen [sollte]. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sollte daher nicht automatisch zu einer Ausweisung führen. … In keinem Fall sollte eine Ausweisungsmaßnahme gegen Arbeitnehmer, Selbstständige oder Arbeitssuchende in dem vom Gerichtshof definierten Sinne erlassen werden, außer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit.“

7.        Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie gewährt u. a. Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, ein Recht auf Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten.

8.        Mit Art. 6 Abs. 1 der genannten Richtlinie wird dem Unionsbürger ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für eine Dauer von bis zu drei Monaten eingeräumt, wobei er „lediglich“ im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss „und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht“.

9.        Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie gewährt einem Unionsbürger ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er: a) Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in dem Mitgliedstaat verfügen oder c) Studierender ist und im Wesentlichen die gleichen Voraussetzungen wie die unter Buchst. b genannten erfüllt.

10.      Nach Art. 14 Abs. 1 und 2 der Aufenthaltsrichtlinie steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach Art. 6 dieser Richtlinie zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, und das Aufenthaltsrecht nach den Art. 7, 12 und 13 der Richtlinie, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen. Abweichend von diesen Vorschriften bestimmt Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie, dass gegen diese Unionsbürger auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden darf, wenn sie a) Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder b) in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen.

11.      Art. 15 („Verfahrensgarantien“) der Aufenthaltsrichtlinie bestimmt in Abs. 1, dass „[d]ie Verfahren der Artikel 30 und 31 … sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung [finden], die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird“. In Art. 15 Abs. 2 heißt es, dass, wenn „der Personalausweis oder Reisepass, der die Einreise des Betroffenen in den Aufnahmemitgliedstaat … ermöglicht hat, ungültig [wird], … dies keine Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaat [rechtfertigt]“. Art. 15 Abs. 3 schließlich bestimmt, dass „[e]ine Entscheidung gemäß Absatz 1, mit der die Ausweisung verfügt wird, … nicht mit einem Einreiseverbot des Aufnahmemitgliedstaats einhergehen [darf]“.

12.      Art. 30 Abs. 3 der Aufenthaltsrichtlinie bestimmt, dass „[i]n der Mitteilung [jeder Entscheidung nach Art. 27 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie] … anzugeben [ist], … binnen welcher Frist [der Betroffene gegebenenfalls] das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“

B.      Niederländisches Recht

13.      Die Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 495) sieht in den Art. 61 und 62 vor, dass ein Ausländer, der sich nicht oder nicht mehr rechtmäßig in den Niederlanden aufhält, diese innerhalb von vier Wochen nach Beendigung des rechtmäßigen Aufenthalts von sich aus zu verlassen hat. Nach Art. 63 Abs. 1 dieses Gesetzes kann ein Ausländer, der sich nicht rechtmäßig in den Niederlanden aufhält und diese nicht innerhalb dieser Frist von sich aus verlassen hat, ausgewiesen werden.

III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

14.      FS, der Berufungskläger des Ausgangsverfahrens, ist ein polnischer Staatsangehöriger, der sich am 9. November 2017 in das Register für Nicht-Einwohner(5) eintragen ließ.

15.      Mit Bescheid vom 1. Juni 2018 stellte der Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) fest, dass der Aufenthalt von FS unrechtmäßig sei, da er die Voraussetzungen des Art. 7 der Aufenthaltsrichtlinie betreffend das Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate nicht mehr erfülle(6), und forderte FS auf, das niederländische Hoheitsgebiet zu verlassen. Dabei wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass die Polizei FS relativ regelmäßig wegen mutmaßlicher Ladendiebstähle und Taschendiebstähle festgenommen hatte.

16.      Mit Bescheid vom 25. September 2018 erklärte der Staatssekretär den Widerspruch von FS gegen den Bescheid vom 1. Juni 2018 für unbegründet. Der Staatssekretär erkannte einerseits an, dass das Verhalten von FS keine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne von Art. 27 der Aufenthaltsrichtlinie darstelle, setzte aber andererseits eine Frist von vier Wochen für eine freiwillige Ausreise, nach deren Ablauf FS wegen seines unrechtmäßigen Aufenthalts ausgewiesen werden könnte. Das vorlegende Gericht führt aus, dass diese Ausweisungsverfügung eine „die Freizügigkeit eines Unionsbürgers beschränkende Entscheidung“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie darstelle. Da FS gegen diese Verfügung keinen Rechtsbehelf eingelegt hatte, wurde sie bestandskräftig (im Folgenden: Ausweisungsverfügung).

17.      Am 23. Oktober 2018 wurde FS von der deutschen Polizei wegen eines mutmaßlichen Ladendiebstahls festgenommen. Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens ist unstreitig, dass FS nachgewiesen hat, dass er die Niederlande innerhalb der ihm auferlegten Ausreisefrist von vier Wochen, d. h. vor dem 24. Oktober 2018, verlassen hatte. FS gab insoweit außerdem an, dass er sich seit seiner Ausreise, deren genaues Datum den Akten nicht zu entnehmen ist, bei Freunden in Kaldenkirchen (Deutschland) kurz hinter der niederländisch-deutschen Grenze aufgehalten habe. Er gab ferner an, dass er sich wegen seiner Abhängigkeit von Marihuana täglich in die Niederlande begebe, um solches zu erwerben. Schließlich erklärte er, am 21. November 2018 in die Niederlande eingereist zu sein, weil er eine Vorladung für den 23. November 2018 vor den Strafrichter erhalten habe.

18.      Am 22. November 2018 hielten Angestellte eines Supermarkts in den Niederlanden FS wegen eines mutmaßlichen Diebstahls fest. Die vor Ort gerufene Polizei nahm FS daraufhin fest, weil er kein Ausweisdokument vorweisen konnte. Im Anschluss an diese Festnahme nahm die Polizei FS zur in solchen Fällen nach nationalem Recht vorgesehenen Vernehmung in Gewahrsam.

19.      Mit Entscheidung vom 23. November 2018 ordnete der Staatssekretär gegen FS im Hinblick auf dessen Ausweisung in sein Herkunftsland Polen Verwaltungshaft an (im Folgenden: Verwaltungshaftentscheidung). Diese Entscheidung wurde mit der Gefahr begründet, dass FS sich der Ausländerkontrolle entziehen und die Vorbereitung der Ausreise oder des Ausweisungsverfahrens umgehen oder verhindern werde. Diese Gefahr ergebe sich daraus, dass sich FS erstens während eines bestimmten Zeitraums der Ausländerkontrolle entzogen habe, zweitens gegen ihn eine Ausweisungsverfügung ergangen sei, mit der er zum Verlassen des niederländischen Hoheitsgebiets verpflichtet worden sei, und er dieser Verfügung nicht innerhalb der darin gesetzten Frist Folge geleistet habe(7), drittens keinen festen Wohnsitz oder Aufenthaltsort gehabt habe, viertens nicht über ausreichende Mittel verfügt habe und fünftens der Begehung einer Straftat verdächtigt bzw. insoweit verurteilt worden sei.

20.      Mit Urteil vom 7. Dezember 2018 erklärte die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Groningen (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Groningen, Niederlande, im Folgenden: Rechtbank), die von FS gegen die Verwaltungshaftentscheidung erhobene Klage für unbegründet und wies den Antrag von FS auf Entschädigung zurück. FS legte gegen dieses Urteil Berufung beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) ein.

21.      Am 18. Dezember 2018 legte FS gegen die Verfügung zur Ausweisung nach Polen Widerspruch ein; die Ausweisung war für den 21. Dezember 2018 vorgesehen. Außerdem beantragte er beim Voorzieningenrechter van de rechtbank Den Haag (Richter des vorläufigen Rechtsschutzes des Gerichts Den Haag, Niederlande, im Folgenden: Voorzieningenrechter) eine einstweilige Anordnung zur Untersagung der Ausweisung.

22.      Mit Entscheidung vom 20. Dezember 2018 gab der Voorzieningenrechter zum einen dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung statt, da er der Ansicht war, dass nicht nachgewiesen worden sei, dass sich FS zu diesem Zeitpunkt unrechtmäßig in den Niederlanden aufgehalten habe, und untersagte zum anderen dem Staatssekretär, FS vor Ablauf einer Frist von vier Wochen ab der Entscheidung des Staatssekretärs über den Widerspruch auszuweisen.

23.      Der Staatssekretär entließ FS mit Entscheidung vom selben Tag auf der Grundlage der Entscheidung des Voorzieningenrechter aus der Verwaltungshaft.

24.      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hat FS trotz der Aufhebung der Verwaltungshaft weiterhin ein Interesse an der Berufung vor dem Raad van State (Staatsrat), da er Anspruch auf eine Entschädigung hätte, wenn diese Haft für rechtswidrig befunden würde. Dies wäre aber der Fall, wenn FS am 23. November 2018 (dem Tag, an dem er in Verwaltungshaft genommen wurde) ein Recht auf Aufenthalt in den Niederlanden auf der Grundlage des Unionsrechts gehabt hätte.

25.      Insoweit vertraten die Parteien des Ausgangsverfahrens im Rahmen der beim Raad van State (Staatsrat) eingelegten Berufung zwei entgegengesetzte Standpunkte.

26.      Auf der einen Seite wirft FS der Rechtbank vor, ihr Urteil vom 7. Dezember 2018 nicht ordnungsgemäß begründet zu haben, da er die Niederlande innerhalb der in der Ausweisungsverfügung gesetzten Frist effektiv verlassen habe und ihm daher an dem Tag, an dem er in Verwaltungshaft genommen worden sei, das Recht auf Aufenthalt in den Niederlanden nach Art. 6 der Aufenthaltsrichtlinie erneut zugestanden habe.

27.      Auf der anderen Seite räumt der Staatssekretär ein, dass FS nachgewiesen habe, dass er die Niederlande innerhalb der in der Ausweisungsverfügung gesetzten Frist verlassen habe, macht aber geltend, dass die Rechtswirkungen dieser Verfügung nicht erschöpft gewesen seien und FS daher nicht erneut über ein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden habe verfügen können. Diese Rechtswirkungen wären nämlich nur erschöpft gewesen, wenn sich FS nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(8) auf der Grundlage und unter Beachtung der in Art. 7 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie genannten Voraussetzungen in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hätte und einen „Aufenthalt von einer gewissen Dauer“ in diesem anderen Mitgliedstaat von mehr als drei Monaten nachweisen könnte. In Anbetracht der Angaben von FS zu seinem Aufenthalt in Deutschland sei dies aber nicht der Fall. Nach Ansicht des Staatssekretärs ermöglicht nur diese Auslegung die Verhinderung von Rechtsmissbrauch; andernfalls hätte sich FS nur einen einzigen Tag in Deutschland aufhalten müssen, um die Rechtswirkungen der Ausweisungsverfügung zu beseitigen und auf diese Weise erneut rechtmäßig in die Niederlande zurückzukehren und sich dort aufzuhalten.

28.      Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Frage, ob FS zu Recht in Verwaltungshaft genommen worden sei, aufgrund dessen, dass nunmehr feststehe, dass er das niederländische Hoheitsgebiet innerhalb der in der Ausweisungsverfügung vorgesehenen Frist verlassen habe, davon abhänge, ob er zu diesem Zeitpunkt erneut über ein Recht auf Aufenthalt in den Niederlanden, insbesondere nach Art. 6 der Aufenthaltsrichtlinie, verfügt habe. Diese letzte Frage hänge wiederum von den Rechtswirkungen ab, die diese Ausweisungsverfügung im Sinne von Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie erzeuge. Allerdings ergebe sich weder aus dem Wortlaut von Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie noch aus deren Systematik, ob eine Ausweisungsverfügung nach der Ausreise des Betroffenen aus dem Aufnahmemitgliedstaat für einen bestimmten Zeitraum Rechtswirkungen weiterhin entfalte oder ob eine solche Verfügung als im Zeitpunkt der Ausreise vollständig umgesetzt anzusehen sei.

29.      Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie dahin auszulegen, dass die nach dieser Vorschrift erlassene Verfügung zur Ausweisung eines Unionsbürgers aus dem Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats umgesetzt worden ist und sie keine Rechtsfolgen mehr entfaltet, sobald dieser Unionsbürger das Hoheitsgebiet dieses Aufnahmemitgliedstaats innerhalb der in dieser Verfügung gesetzten Frist für die freiwillige Ausreise nachweisbar verlassen hat?

2.      Falls Frage 1 zu bejahen ist: Steht diesem Unionsbürger bei einer sofortigen Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat das in Art. 6 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie vorgesehene Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten zu, oder darf der Aufnahmemitgliedstaat eine neue Ausweisungsverfügung erlassen, um zu verhindern, dass der Unionsbürger jeweils für einen kurzen Zeitraum in den Aufnahmemitgliedstaat einreist?

3.      Falls Frage 1 zu verneinen ist: Muss dieser Unionsbürger sich dann während eines bestimmten Zeitraums außerhalb des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, und welche Dauer hat dieser Zeitraum?

30.      FS, die niederländische, die tschechische und die dänische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der tschechischen Regierung haben sich diese Parteien außerdem in der mündlichen Verhandlung, die am 16. November 2020 stattgefunden hat, geäußert. Dort hat auch die belgische Regierung, die keine schriftlichen Erklärungen eingereicht hat, ihre Argumente vorgetragen.

IV.    Würdigung

A.      Vorbemerkungen

31.      Hintergrund des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist ein Rechtsstreit betreffend einen polnischen Staatsangehörigen, FS, gegen den, nachdem er sein Recht aus Art. 7 der Aufenthaltsrichtlinie, sich in den Niederlanden aufzuhalten, verloren hatte, eine Ausweisungsverfügung nach Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie erlassen wurde. Nachdem er diesen Mitgliedstaat innerhalb der in der Ausweisungsverfügung vorgesehenen Frist freiwillig verlassen hatte, hielt er sich bei Freunden in Deutschland nahe der Grenze zu den Niederlanden auf, wohin er sich täglich zum Erwerb von Marihuana begab. Einen Monat nach seiner Ausreise wurde er von der niederländischen Polizei festgenommen, da er kein Ausweisdokument vorlegen konnte, und im Hinblick auf die Ausweisung in sein Herkunftsland mit der Begründung in Verwaltungshaft genommen, dass die Gefahr bestehe, dass er sich der Ausländerkontrolle entziehen und die Vorbereitung seiner Ausweisung umgehen oder verhindern werde. Diese Gefahr rühre insbesondere daher, dass er im Wesentlichen die Ausweisungsverfügung nicht vollständig umgesetzt habe, da er nicht nachgewiesen habe, sich für eine gewisse Dauer in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten zu haben.

32.      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Ausweisungsverfügung nach Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie bereits dadurch vollständig umgesetzt wird, dass der Unionsbürger das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats physisch verlässt – in diesem Fall hätte er im Fall der Rückkehr erneut ein Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten nach Art. 6 dieser Richtlinie –, oder ob diese Ausweisungsverfügung vielmehr für einen bestimmten Zeitraum nach der physischen Ausreise des Unionsbürgers weiterhin Wirkungen entfaltet. Für letzteren Fall möchte es wissen, wie lange diese Wirkungen fortbestehen.

33.      Das vorlegende Gericht erläutert, dass die Antwort auf diese Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits, der die Rechtmäßigkeit der Verwaltungshaftentscheidung betreffe, unerlässlich sei. Sollten sich die Rechtswirkungen der Ausweisungsverfügung allein deshalb erschöpfen, weil FS sich, sei es auch nur für einen Tag, nach Deutschland begeben habe, hätte er nach seiner Rückkehr in die Niederlande erneut ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 der Aufenthaltsrichtlinie. Mangels einer neuen Ausweisungsverfügung wäre die Verwaltungshaftentscheidung rechtswidrig, so dass FS einen Anspruch auf eine Entschädigung hätte.

34.      Das Interesse an den Fragen geht aber über den etwas ungewöhnlichen tatsächlichen Rahmen der vorliegenden Rechtssache hinaus. Die Vorlagefragen fügen sich nämlich in eine umfassendere Problematik ein, die die Art und Weise betrifft, in der ein Mitgliedstaat einen Unionsbürger, der sich nach einem rechtmäßigen Aufenthalt weiterhin in seinem Hoheitsgebiet aufhält, ohne jedoch die in der Aufenthaltsrichtlinie vorgesehenen Voraussetzungen zu erfüllen, so dass die Gefahr besteht, dass er die Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen wird (aus anderen Gründen als aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit), effektiv aus seinem Hoheitsgebiet ausweisen darf. Diese Problematik ist umso relevanter, als im Schengenraum(9) die Binnengrenzen überschritten werden können, ohne dass Personenkontrollen durchgeführt werden. Daher sind die Mittel, die einem Mitgliedstaat zur Verfügung stehen, um zu prüfen, ob die Ausweisung eines unrechtmäßig aufhältigen Unionsbürgers effektiv erfolgt ist, stark eingeschränkt.

35.      In Anbetracht dieser Feststellungen erscheint die Prüfung der zeitlichen Wirkungen einer Ausweisungsverfügung nach Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie untrennbar mit dem Zusammenspiel dieser Bestimmung mit den anderen Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie, die das Aufenthaltsrecht betreffen, verbunden. Ich halte es daher für zweckdienlich, vor Beginn der Prüfung einen Überblick über den anwendbaren rechtlichen Rahmen zu geben (1), der es auch ermöglichen wird, die Tragweite der vom vorlegenden Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zu klären (2).

1.      Zum maßgeblichen rechtlichen Rahmen

36.      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Unionsbürgerschaft – wie sie durch den Vertrag von Maastricht eingeführt wurde(10) – jedem Unionsbürger das elementare und persönliche Recht verleiht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieses Recht ist den Unionsbürgern gegenwärtig durch Art. 21 Abs. 1 AEUV in der durch Art. 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigten Form verliehen. Die Aufenthaltsrichtlinie, die u. a. die Bedingungen regelt, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen, soll die Ausübung dieses Rechts erleichtern und stärken(11).

37.      Die Aufenthaltsrichtlinie sieht zwei Aufenthaltsregelungen für Unionsbürger vor: das „Aufenthaltsrecht“, das in den Bestimmungen des Kapitels III geregelt ist und das Recht auf Aufenthalt „bis zu drei Monaten“ sowie „für mehr als drei Monate“ (im Folgenden zusammen: vorübergehender Aufenthalt) umfasst, und das „Recht auf Daueraufenthalt“, das in den Bestimmungen des Kapitels IV geregelt ist und dessen Erwerbsvoraussetzungen in den Art. 16 bis 18 dieser Richtlinie aufgeführt sind. Nur der vorübergehende Aufenthalt, um den es im vorliegenden Fall geht, wird nachstehend behandelt, was es ermöglicht, die eine Ausweisungsverfügung rechtfertigenden Gründe im Sinne von Art. 15 dieser Richtlinie herauszuarbeiten.

a)      In der Aufenthaltsrichtlinie vorgesehenes Recht zum vorübergehenden Aufenthalt

1)      Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten

38.      Nach Art. 6 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie hat ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich der Pflicht unterliegt, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses zu sein, und ansonsten keine weitere Bedingung zu erfüllen oder Formalität zu erledigen braucht. Obwohl Art. 6 dieser Richtlinie keine an die finanziellen Mittel des Unionsbürgers geknüpfte Voraussetzung aufstellt, erhält Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie dieses Aufenthaltsrecht während dieser drei Monate aufrecht, solange der Unionsbürger die Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nimmt(12). Diese Regel steht in Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie, der es dem Aufnahmemitgliedstaat u. a. gestattet, während der ersten drei Monate des Aufenthalts keinen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.

39.      Was die Prüfung dieser Aufenthaltsvoraussetzungen betrifft, kann dieser Mitgliedstaat von Unionsbürgern zwar nicht verlangen, sich bei den zuständigen Behörden registrieren zu lassen(13), doch ist er berechtigt, Unionsbürgern die Verpflichtung aufzuerlegen, ihre Identität und ihre Staatsangehörigkeit nachzuweisen, muss diese Verpflichtung dann aber auch seinen eigenen Staatsangehörigen hinsichtlich ihres Personalausweises auferlegen(14). Der Mitgliedstaat kann jedoch das Aufenthaltsrecht nicht allein aus dem Grund in Zweifel ziehen, dass der Unionsbürger weder das eine noch das andere der genannten Dokumente vorgelegt habe, insbesondere wenn der Betroffene gleichwohl in der Lage ist, seine Staatsangehörigkeit auf andere Weise eindeutig nachzuweisen(15).

2)      Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate

40.      Ein Unionsbürger hat ferner ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat für mehr als drei Monate, wenn er die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, b oder c der Aufenthaltsrichtlinie abschließend aufgeführten Voraussetzungen erfüllt, d. h. im Wesentlichen, wenn er a) Arbeitnehmer oder Selbständiger in diesem Mitgliedstaat ist oder b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Mitgliedstaat verfügen oder c) Student ist und über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt.

41.      Die Mitgliedstaaten können von Unionsbürgern verlangen, sich bei den zuständigen Behörden anzumelden; die Frist für die Anmeldung muss aber mindestens drei Monate ab dem Zeitpunkt der Einreise betragen(16). Außerdem können die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 Unterabs. 2 der Aufenthaltsrichtlinie, wenn begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die Voraussetzungen des Art. 7 erfüllen, prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung darf jedoch nicht systematisch durchgeführt werden. Schließlich kann der Mitgliedstaat von dem Betroffenen verlangen, dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums nach seiner Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats meldet(17).

3)      Abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen

42.      Die Familienangehörigen eines Unionsbürgers können sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sofern sie die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 (für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten) oder des Art. 7 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Aufenthaltsrichtlinie (für einen Aufenthalt von mehr als drei Monaten) erfüllen, d. h., den Unionsbürger, dem das Aufenthaltsrecht zusteht, begleiten oder ihm nachziehen(18).

b)      Gründe, die den Erlass einer Ausweisungsverfügung auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie rechtfertigen

43.      Die Aufenthaltsrichtlinie enthält nicht nur Vorschriften über die Voraussetzungen für den Erwerb der verschiedenen Arten von Aufenthaltsrechten, die sie vorsieht, sondern auch eine Reihe von Bestimmungen, die die Situation regeln sollen, die sich aus dem Verlust eines dieser Rechte ergibt.

44.      Die Aufenthaltsrichtlinie sieht insoweit zwei Fallgestaltungen vor, bei denen die Mitgliedstaaten Ausweisungsverfügungen erlassen können: entweder „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ (Art. 27 der Richtlinie), oder „nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ (Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie), d. h. aus anderen Gründen(19).

45.      Zur zweiten Fallkonstellation, um die es im Ausgangsverfahren geht, ist zunächst festzustellen, dass Art. 15 in Kapitel III der Aufenthaltsrichtlinie nur die zum vorübergehenden Aufenthalt berechtigten Personen betrifft und nicht die zum unbefristeten Aufenthalt berechtigten Personen(20). Anders als für Entscheidungen nach Art. 27 der Aufenthaltsrichtlinie(21) gehen die Situationen, in denen die Aufnahmemitgliedstaaten Entscheidungen erlassen können, mit denen die Freizügigkeit beschränkt wird, insbesondere Ausweisungsverfügungen, jedoch nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut von Art. 15 dieser Richtlinie hervor. Die letztgenannte Bestimmung enthält nämlich keine näheren Angaben zu den anderen Gründen, die „nicht [die in Art. 27 der Richtlinie vorgesehenen Gründe]“ sind.

46.      Obwohl der Normtext insoweit schweigt, hat der Gerichtshof Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie dahin ausgelegt, dass diese Vorschrift den Fall regelt, dass ein aufgrund der Richtlinie bestehendes Recht zum vorübergehenden Aufenthalt endet, insbesondere wenn ein Unionsbürger oder ein Angehöriger seiner Familie, dem in der Vergangenheit ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt zustand, die Voraussetzungen für das betreffende Aufenthaltsrecht nicht mehr erfüllt und daher vom Aufnahmemitgliedstaat grundsätzlich ausgewiesen werden darf(22).

47.      Aus den vorstehenden Erwägungen lässt sich daher ableiten, dass die Gründe, die den Erlass einer Ausweisungsverfügung auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie rechtfertigen, nur auf der Grundlage einer Zusammenschau der übrigen Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie betreffend die Voraussetzungen für das Recht auf vorübergehenden Aufenthalt ermittelt werden können.

48.      Insoweit ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie, dass Entscheidungen, mit denen die Freizügigkeit beschränkt wird, sowohl für Unionsbürger als auch für deren Familienangehörige gelten(23). In Bezug auf Unionsbürger könnte daher eine Ausweisungsverfügung wegen Nichterfüllung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 (Aufenthalt bis zu drei Monaten) oder des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a bis c (Aufenthalt von mehr als drei Monaten) dieser Richtlinie, wie sie in den Nrn. 38 und 40 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt worden sind, erlassen werden. Bei Familienangehörigen könnte eine solche Entscheidung auch wegen Nichterfüllung der in Nr. 42 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Voraussetzungen für das abgeleitete Aufenthaltsrecht oder für dessen Aufrechterhaltung erlassen werden.

49.      Die Richtlinie enthält jedoch zwei Ausnahmen von der Regel, dass eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt ist, wenn die Voraussetzungen für einen vorübergehenden Aufenthalt nicht mehr erfüllt sind.

50.      Zum einen wird im 16. Erwägungsgrund der Aufenthaltsrichtlinie klargestellt, dass, sowohl was Unionsbürger als auch was deren Familienangehörige anbelangt, „keine Ausweisung erfolgen“ sollte, „[s]olange [sie] die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen“(24). Dieses Erfordernis steht erstens im Einklang mit Art. 15 Abs. 2 dieser Richtlinie, in dem es im Wesentlichen heißt, dass der Umstand, dass der Personalausweis oder Reisepass, der die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat ermöglicht hat, ungültig wird, keine Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaat rechtfertigt, zweitens mit Art. 14 Abs. 3 dieser Richtlinie, der vorsieht, dass die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf, und drittens mit den Bestimmungen von Art. 14 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie, die die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen betreffen (vgl. Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge).

51.      Daher könnte im Rahmen eines Aufenthalts nach Art. 6 oder Art. 7 der Aufenthaltsrichtlinie eine Ausweisungsverfügung nach Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie gegen einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen nur dann gerechtfertigt sein, wenn die fehlende Voraussetzung für den Aufenthalt an das Kriterium der unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats anknüpfen würde, da die Voraussetzungen betreffend den Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses für sich allein eindeutig nicht genügen(25).

52.      Zum anderen bestimmen Art. 14 Abs. 4 und der letzte Satz des 16. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie im Wesentlichen, dass eine Ausweisungsmaßnahme in keinem Fall gegen Arbeitnehmer, Selbständige oder Arbeitsuchende erlassen werden sollte, außer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden(26).

53.      Daher darf im Rahmen eines Aufenthalts nach Art. 7 der Aufenthaltsrichtlinie gegen einen Unionsbürger – oder einen Angehörigen seiner Familie –, der die Aufenthaltsvoraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie, der sich auf Arbeitnehmer und Selbständige bezieht, nicht erfüllt, keine Ausweisungsverfügung ergehen, und zwar unabhängig davon, ob dieser Unionsbürger oder sein Familienangehöriger Sozialhilfeleistungen – sei es sogar unangemessen – in Anspruch nimmt.

2.      Zur Tragweite der Vorlagefragen

54.      Nach alledem halte ich es für zweckdienlich, folgende Klarstellungen zur Tragweite der Vorlagefragen vorzunehmen.

55.      Erstens erscheint mir der Hinweis angebracht, dass das vorlegende Gericht erläutert, dass der Staatssekretär die Ausweisungsverfügung trotz des strafbaren Verhaltens von FS nicht auf Art. 27, sondern ausschließlich auf Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie gestützt habe. Daher muss sich der Gerichtshof nicht zu der Frage äußern, ob dieses strafbare Verhalten eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des genannten Art. 27 hätte darstellen und eine Ausweisungsmaßnahme aus diesem Grund rechtfertigen können(27).

56.      Zweitens ist zu bemerken, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausweisungsverfügung zwar wegen Nichterfüllung der in Art. 7 der Aufenthaltsrichtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erlassen wurde, die Vorlagefragen, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert wurden, jedoch allgemein auf sämtliche Ausweisungsverfügungen abzielen, die auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie erlassen werden können. Wie oben ausgeführt, findet Art. 15 der Richtlinie aber Anwendung, wenn ein Recht zum vorübergehenden Aufenthalt nach dieser Richtlinie endet, weil die Gefahr besteht, dass der Betroffene Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen wird. Daher kann sich die vom vorlegenden Gericht erbetene Antwort meines Erachtens nicht auf Situationen beschränken, in denen ein Unionsbürger ausschließlich aus Gründen, die mit Art. 7 der Aufenthaltsrichtlinie zusammenhängen, ausgewiesen wird, auch wenn diese Gründe in Wirklichkeit die Mehrheit der Gründe für die Ausweisung darstellen.

57.      Drittens liegt der Prüfung, wie sich aus den Nrn. 45 und 53 der vorliegenden Schlussanträge ergibt, die Annahme zugrunde, dass ausgeschlossen ist, dass es sich bei den betroffenen Unionsbürgern um Bürger, die ein Recht auf Daueraufenthalt haben, Arbeitnehmer, Selbständige oder Arbeitsuchende handelt, für die die Ausnahmen des Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Aufenthaltsrichtlinie gelten.

58.      Viertens und letztens ist darauf hinzuweisen, dass die zeitlichen Wirkungen von Ausweisungsverfügungen mangels Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Union nur dann beurteilt werden, wenn sich ein ausgewiesener Bürger bei den Behörden eines Mitgliedstaats erneut auf ein Aufenthaltsrecht beruft. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass diese Beurteilung je nach Mitgliedstaat, der diesen neuen Antrag auf ein Aufenthaltsrecht bearbeitet, unterschiedlich ausfällt. Wenn sich dieser Unionsbürger nämlich nach Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat (oder gar in einem Drittstaat) erneut auf ein Aufenthaltsrecht beruft, hat dieser grundsätzlich keinen Grund, nicht davon auszugehen, dass die Rechtswirkungen der Ausweisungsverfügung des Aufnahmemitgliedstaats zwischenzeitlich weggefallen sind. Die nachfolgende Prüfung betrifft somit ausschließlich die Konstellation der vorliegenden Rechtssache, in der der betreffende Unionsbürger den Aufnahmemitgliedstaat verlassen hat und sich in demselben Mitgliedstaat erneut auf ein Aufenthaltsrecht beruft, ohne dass ihm zwischenzeitlich förmlich ein Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat gewährt worden wäre(28).

B.      Prüfung der Vorlagefragen

1.      Zur physischen Ausreise eines Unionsbürgers als für die vollständige Umsetzung einer auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie ergangenen Ausweisungsverfügung hinreichender Umstand

59.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Umstand, dass der Unionsbürger das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats physisch verlassen hat, für sich allein genügt, um eine Ausweisungsverfügung nach Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie als vollständig umgesetzt anzusehen, so dass sie keine zeitlichen Rechtswirkungen mehr erzeugt.

60.      Die Beteiligten, die schriftliche und mündliche Erklärungen abgegeben haben, haben zwei unterschiedliche Auffassungen vertreten. Auf der einen Seite schlägt FS vor, diese Frage zu bejahen, so dass im Wesentlichen eine solche Ausweisungsverfügung schon deshalb vollständig umgesetzt wäre, weil der Betroffene vor Ablauf der vorgesehenen Frist, und sei es auch nur für begrenzte Zeit, das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats verlassen hat, und zwar in dem Zeitpunkt, zu dem er dies tat. Dieser Betroffene müsse sich daher erneut auf ein Recht auf Aufenthalt von drei Monaten nach Art. 6 der Aufenthaltsrichtlinie berufen können. Auf der anderen Seite teilen alle Regierungen, die schriftliche und mündliche Erklärungen abgegeben haben, sowie die Kommission die Auffassung des Staatssekretärs, wonach im Wesentlichen die bloße physische Ausreise des Unionsbürgers nicht genügen könne, um die Rechtswirkungen einer solchen Entscheidung zu erschöpfen, und machen geltend, dass eine solche Auslegung der praktischen Wirksamkeit dieser Richtlinie zuwiderlaufe(29).

61.      Aus den folgenden Gründen schließe ich mich dieser zweiten Auffassung an.

62.      Vorab weise ich darauf hin, dass eine autonome und einheitliche Auslegung von Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie nicht nur dessen Wortlaut, sondern auch seinen Kontext und die verfolgten Ziele zu berücksichtigen hat. Außerdem darf diese Vorschrift nicht eng ausgelegt und keinesfalls ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt werden(30).

63.      Erstens stelle ich in Bezug auf den Wortlaut von Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie fest, dass dieser Wortlaut nichts enthält, was es ermöglichen könnte, die zeitlichen Wirkungen der auf der Grundlage dieser Vorschrift erlassenen Ausweisungsverfügungen zu beurteilen. In Abs. 1 dieser Vorschrift heißt es nämlich lediglich, dass „[d]ie Verfahren der Artikel 30 und 31 … sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung [finden], die die Freizügigkeit … beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird“, in Abs. 2, dass, „[wenn] der Personalausweis oder Reisepass … ungültig [wird], … dies keine Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaat [rechtfertigt]“, und in Abs. 3, dass „[e]ine Entscheidung …, mit der die Ausweisung verfügt wird, … nicht mit einem Einreiseverbot des Aufnahmemitgliedstaats einhergehen [darf]“.

64.      Außerdem enthalten die Art. 30 und 31 der Aufenthaltsrichtlinie, auf die Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie verweist und die entsprechend anwendbar sind(31), zwar Bestimmungen, die die Umsetzung von Ausweisungsverfügungen berühren könnten, jedoch nicht in Bezug auf die zeitlichen Wirkungen(32). Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 30 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie u. a. vorsieht, dass die Mitgliedstaaten Ausweisungsverfügungen dem Betroffenen unter Angabe der für das Verlassen ihres Hoheitsgebiets gesetzten Frist schriftlich mitzuteilen haben, und klarstellt, dass diese Frist „[a]ußer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen … mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen [muss]“.

65.      Diese Bestimmungen bewirken somit im Wesentlichen, dass der Aufenthalt einer ausgewiesenen Person um längstens einen Monat beginnend mit der Mitteilung der Ausweisungsverfügung verlängert wird. Es ließe sich daher die Auffassung vertreten, dass diese Verlängerung ohne jeden Nutzen wäre, wenn es für die vollständige Umsetzung einer Ausweisungsverfügung genügen würde, dass sich der Betroffene physisch in einen benachbarten Mitgliedstaat begibt. Betrachtet man Art. 30 Abs. 3 der Aufenthaltsrichtlinie jedoch in seinem breiteren Kontext, so ist er nicht darauf gerichtet, die zeitlichen Wirkungen von Ausweisungsverfügungen zu regeln, sondern soll vielmehr zum einen gewährleisten, dass der Betroffene die von den Mitgliedstaaten eröffneten Rechtsbehelfe sachdienlich nutzen kann(33), und ihm zum anderen eine angemessene Frist einräumen, die es ihm ermöglicht, seine Ausreise zu organisieren.

66.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass weder Art. 15 noch die Art. 30 und 31 der Aufenthaltsrichtlinie eine abschließende Antwort darauf ermöglichen, wie eine Ausweisungsverfügung ihre Rechtswirkungen erschöpft.

67.      Was zweitens den Kontext anbelangt, in den sich Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie einfügt, ist darauf hinzuweisen, dass diese die Beschränkung der Freizügigkeit eines Unionsbürgers „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ und „nicht aus [diesen Gründen]“, d. h. aus anderen Gründen, zulässt (vgl. Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge). Zwar schreibt die Richtlinie nicht die Maßnahmen vor, mit denen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit beschränken können, sie enthält jedoch eine Bestimmung, die die zeitlichen Wirkungen einer dieser Maßnahmen regelt, nämlich der Entscheidung, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet untersagt wird.

68.      Art. 32 der Aufenthaltsrichtlinie ermöglicht es nämlich, nach „einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei Jahre nach Vollstreckung des … endgültigen Aufenthaltsverbots“ einen Antrag auf Aufhebung dieses Verbots „unter Hinweis darauf ein[zu]reichen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben“.

69.      Meines Erachtens kann aber der Umstand, dass diese Richtlinie die zeitlichen Wirkungen von Entscheidungen regelt, mit denen die Einreise in das Hoheitsgebiet untersagt wird, und keine Bestimmung enthält, die ihrem Art. 32 entspräche und die die zeitliche Wirkung anderer Entscheidungen festlegen würde, mit denen die Freizügigkeit eines Unionsbürgers beschränkt wird, insbesondere von auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie erlassenen Ausweisungsverfügungen, weder im Wege einer analogen Auslegung belegen, dass die Wirkungen solcher Ausweisungsverfügungen für einen angemessenen Zeitraum fortdauern, noch im Wege einer Auslegung e contrario, dass der Unionsgesetzgeber beabsichtigt hätte, dass die Rechtswirkungen einer Ausweisungsverfügung durch den bloßen Umstand, dass der Unionsbürger den Aufnahmemitgliedstaat physisch verlässt, erlöschen(34).

70.      Daraus folgt, dass sich aus einer systematischen Auslegung der Aufenthaltsrichtlinie keine Klarstellung hinsichtlich der Art und Weise ergibt, in der eine Ausweisungsverfügung ihre zeitlichen Wirkungen erschöpft.

71.      Da die wörtliche und die systematische Auslegung nicht zu einer Lösung geführt haben, können somit nur im Licht der teleologischen Auslegung der Aufenthaltsrichtlinie und ihrer praktischen Wirksamkeit möglicherweise Anhaltspunkte für die Beantwortung der ersten Frage gefunden werden.

72.      Was somit drittens den Zweck von Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie angeht, weise ich zunächst darauf hin, dass diese Bestimmung einem doppelten Zweck dient. Zum einen soll mit ihr für die auf ihrer Grundlage erlassenen Entscheidungen eine Regelung mit Verfahrensgarantien geschaffen werden, die derjenigen vergleichbar ist, die für die auf der Grundlage von Art. 27 dieser Richtlinie erlassenen Entscheidungen gilt, mit denen die Freizügigkeit beschränkt wird(35). Zum anderen verfolgt der genannte Art. 15 dadurch, dass er den Erlass von Entscheidungen, mit denen die Freizügigkeit beschränkt wird, erlaubt, wenn ein Unionsbürger oder ein Angehöriger seiner Familie bestimmte Voraussetzungen des vorübergehenden Aufenthalts nicht mehr erfüllt, ein weniger offensichtliches, aber ebenso wichtiges Ziel. Dieser Artikel stellt nämlich die einzige Bestimmung der Aufenthaltsrichtlinie dar, auf die sich die Mitgliedstaaten berufen können, um auf der Grundlage des Unionsrechts Personen, die die Voraussetzungen für einen vorübergehenden Aufenthalt nicht mehr erfüllen und ihre Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nehmen, aus ihrem Hoheitsgebiet auszuweisen. Diese Bestimmung soll somit die praktische Wirksamkeit der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen sicherstellen und zugleich die öffentlichen Finanzmittel eines Mitgliedstaats schützen(36).

73.      Im Hinblick auf diesen zweiten Zweck von Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie ist meines Erachtens zu beurteilen, ob die physische Ausreise eines Unionsbürgers für sich allein genügt, damit eine Ausweisungsverfügung vollständig umgesetzt ist.

74.      Insoweit bin ich der Ansicht, dass eine Auslegung von Art. 15 der genannten Richtlinie, wonach eine Ausweisungsverfügung gewissermaßen mechanisch keine Rechtswirkungen mehr entfaltet, sobald der Unionsbürger das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats physisch verlassen hat, im Wesentlichen darauf hinausliefe, nicht nur diesem Artikel die praktische Wirksamkeit zu nehmen, sondern folglich auch sämtlichen Bestimmungen, die die Voraussetzungen für das Recht zum vorübergehenden Aufenthalt festlegen.

75.      Wie in den Nrn. 43 bis 53 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, können die Gründe, die den Erlass einer Ausweisungsverfügung auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie rechtfertigen, nämlich je nach der Art des Aufenthaltsrechts, das der Unionsbürger oder dessen Familienangehöriger vor der Ausweisung genoss, variieren. Sie weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Die Person sollte nicht ausgewiesen werden, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nimmt.

76.      Meines Erachtens liegt es auf der Hand, dass ein Unionsbürger oder ein Angehöriger seiner Familie seinen Status nicht dadurch von einem Tag auf den anderen ändern kann, dass er die Grenzen des Aufnahmemitgliedstaats überschreitet, so dass er die Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats nicht mehr unangemessen in Anspruch nehmen kann. Wäre dies der Fall, hätten die auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie erlassenen Entscheidungen in Wirklichkeit keine verbindliche Wirkung. Dem Begriff „Ausweisung“ würde nämlich jede praktische Wirksamkeit genommen, wenn z. B. ein Unionsbürger geltend machen könnte, der Ausweisungsverfügung allein aufgrund seiner vorübergehenden physischen Anwesenheit in einem angrenzenden Mitgliedstaat nachgekommen zu sein.

77.      Nach alledem schlage ich vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine auf der Grundlage dieser Bestimmung ergangene Ausweisungsverfügung nicht allein dadurch, dass ein Unionsbürger das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats physisch verlassen hat, vollständig umgesetzt sein kann, so dass sie keine Rechtswirkungen mehr entfalten würde.

78.      Auch wenn die zweite Vorlagefrage nicht zu beantworten ist, bleibt somit gleichwohl die Dauer der Rechtswirkungen solcher Verfügungen zu bestimmen.

2.      Zu den zeitlichen Wirkungen einer auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie ergangenen Ausweisungsverfügung

79.      Da der Vorschlag, wonach die Rechtswirkungen einer Ausweisungsverfügung dadurch erlöschen sollen, dass der Betroffene die Grenze des Aufnahmemitgliedstaats überschritten hat, unter Berücksichtigung der praktischen Wirksamkeit von Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie zurückgewiesen worden ist, bin ich aus Gründen der Kohärenz der Auffassung, dass die zwingenden Erfordernisse im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der praktischen Wirksamkeit von Art. 15 dieser Richtlinie auch bei meiner Prüfung der zeitlichen Wirkungen von Ausweisungsverfügungen als Richtschnur zu beachten sind.

a)      Zum Kriterium der „materiellen Änderung der Umstände“, die die Ausweisungsverfügung rechtfertigten

80.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine Ausweisungsmaßnahme nach Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie zwangsläufig ihre Daseinsberechtigung verliert und damit hinfällig wird, wenn es der ausgewiesenen Person gelingt, nachzuweisen, dass es ihr nach ihrer Ausweisung – auch schon am auf den Tag, an dem sie das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats verlassen hat, folgenden Tag – aufgrund einer „materiellen Änderung der Umstände“(37) möglich ist, nunmehr die Aufenthaltsvoraussetzungen zu erfüllen, die nicht erfüllt waren und die Ausweisungsverfügung gerechtfertigt hatten.

81.      In diesem Fall muss es einem Unionsbürger nämlich möglich sein, gegenüber der Verwaltung dieses Mitgliedstaats nachzuweisen, dass die Ausweisungsverfügung hinfällig geworden ist, um sich erneut auf ein Aufenthaltsrecht, insbesondere nach Art. 6 der Aufenthaltsrichtlinie, berufen zu können. Es versteht sich von selbst, dass eine solche materielle Änderung der Umstände zu dem Zeitpunkt eintritt, zu dem dieser Unionsbürger erneut als Arbeitnehmer oder Selbständiger oder als Arbeitsuchender im früheren Aufnahmemitgliedstaat angesehen werden kann, da ein solcher Status den Verlust des Aufenthaltsrechts nach Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie ausschließt und daher mit dem gleichzeitigen Vorliegen einer Ausweisungsverfügung unvereinbar wäre(38).

82.      Obwohl solche Situationen möglich sind, ist es in der Realität selten, dass eine solche materielle Änderung der Umstände kurze Zeit nach der Ausweisung der betroffenen Person eintritt. Eine solche Änderung tritt vielmehr zumeist erst nach einem Aufenthalt in einem anderen Land ein. Es stellt sich daher die Frage, ob die einzige Möglichkeit für diese Person, sich erneut im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten zu dürfen, darin besteht, eine solche materielle Änderung der Umstände nachzuweisen.

83.      Die Antwort auf diese Frage muss meines Erachtens eindeutig negativ ausfallen. Es widerspräche nämlich dem Geist der Aufenthaltsrichtlinie, die die Ausübung des Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei aufzuhalten, erleichtern und stärken soll, wenn man annähme, dass eine Ausweisungsverfügung weiterhin Wirkungen entfaltet, solange keine materielle Änderung des Status des Betroffenen vorliegt. Ein solcher Ansatz könnte dazu führen, dass die zeitlichen Wirkungen dieser Verfügung – gegebenenfalls unbegrenzt – fortbestehen, was zu einer unverhältnismäßigen Behinderung der Aufenthaltsfreiheit führen würde.

84.      Um eine solche Situation zu vermeiden, können zwei Lösungen in Betracht gezogen werden: Die erste Lösung bestünde darin, die Dauer der Rechtswirkungen einer Ausweisungsverfügung unter Berücksichtigung der genauen Dauer des Aufenthalts außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats nach der Ausweisung zu bestimmen, was dann als Bezugspunkt systematisch gelten würde, während die zweite Lösung darin bestünde, die Dauer der Wirkungen der Ausweisungsverfügung nicht ausschließlich auf der Grundlage der Dauer des Aufenthalts außerhalb dieses Mitgliedstaats, sondern auf der Grundlage einer Gesamtheit weiterer Aspekte zu bestimmen.

85.      Aus den nachfolgend skizzierten Gründen schlage ich vor, die erste der beiden Lösungen zu verwerfen und der zweiten zu folgen.

b)      Zum Kriterium eines „Aufenthalts für einen bestimmten Zeitraum“ außerhalb des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats

86.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Unionsbürger, gegen den eine Ausweisungsverfügung nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie ergangen ist, sich für einen bestimmten Zeitraum außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten muss, damit diese Entscheidung als vollständig umgesetzt angesehen wird. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, ersucht es den Gerichtshof, die Dauer dieses Zeitraums zu bestimmen.

87.      Zwar sind alle Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, und die Kommission übereinstimmend der Ansicht, dass die bloße physische Ausreise aus dem Aufnahmemitgliedstaat für sich allein nicht ausreiche, um die Wirkungen einer Ausweisungsverfügung zu erschöpfen, doch nur die niederländische Regierung vertritt die Auffassung, dass eine solche Erschöpfung nur eintritt, wenn ein Unionsbürger diesen Mitgliedstaat tatsächlich und effektiv für einen bestimmten Zeitraum, nämlich für mindestens drei Monate, verlassen habe. Hinsichtlich der Anwendung dieses Kriteriums hat die niederländische Regierung – u. a. in der mündlichen Verhandlung – klargestellt, dass sich eine aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesene Person während dieser drei Monate (außer im Fall einer „materiellen Änderung der Umstände“) nicht erneut auf ein Aufenthaltsrecht berufen könne, aber nach Art. 5 der Aufenthaltsrichtlinie weiterhin in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einreisen dürfe. Dieses Recht auf Einreise würde jedoch nur dann gewährt, wenn ein spezifischer und konkreter Grund nachgewiesen würde, der die Anwesenheit in diesem Hoheitsgebiet rechtfertige (z. B. eine medizinische Untersuchung oder ein einmaliger Kauf). Ohne eine solche Rechtfertigung würde vermutet, dass sich der Betroffene in diesem Hoheitsgebiet in Fortsetzung seines früheren Aufenthaltsrechts und damit unter Verstoß gegen die Ausweisungsverfügung aufhalte.

88.      Der Vorschlag der niederländischen Regierung bietet unbestreitbar Vorteile unter dem Aspekt der effektiven Umsetzung von Ausweisungsverfügungen. Würde nämlich in allen Fällen ein und derselbe Mindestzeitraum eines Aufenthalts außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats auf Unionsebene verlangt, so garantierte dies eine gewisse Vorhersehbarkeit und damit Rechtssicherheit, da dadurch sowohl den Unionsbürgern als auch den Mitgliedstaaten ermöglicht würde, im Voraus zu wissen, wie lange die Ausweisungsverfügung Rechtswirkungen entfaltet. Diese Vorhersehbarkeit wäre umso mehr gewährleistet, als dieser Zeitraum gemäß Art. 30 Abs. 3 der Aufenthaltsrichtlinie zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich einen Monat nach der Mitteilung der Ausweisungsverfügung, beginnen könnte, ohne dass ein Nachweis einer effektiven Aufenthaltsbeendigung verlangt würde, der ohne Binnengrenzen schwer zu erbringen wäre.

89.      Mit der Feststellung, dass die Rechtswirkungen einer Ausweisungsverfügung stets während eines Zeitraums von mindestens drei Monaten fortbestehen müssten, würde der Unionsbürger jedoch in Wirklichkeit verpflichtet, einen Aufenthalt von drei Monaten außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats nachzuweisen, bevor er sich erneut auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 der Aufenthaltsrichtlinie berufen könnte. Ein solcher Ansatz widerspräche meines Erachtens nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geist dieser Richtlinie.

90.      Zum einen würde nämlich ein solcher Ansatz den Aufenthalt für einen Zeitraum von drei Monaten außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats als unabdingbare Voraussetzung für das Grundrecht jedes Unionsbürgers festlegen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. In Anbetracht der grundlegenden Natur dieses Rechts(39) kann es jedoch nicht nur nicht restriktiv ausgelegt werden(40), sondern gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV nur eingeschränkt werden, wenn eine solche Einschränkung im AEU-Vertrag oder im Sekundärrecht vorgesehen ist(41).

91.      Hierzu ist festzustellen, dass keine Vorschrift des Sekundärrechts, insbesondere keine Vorschrift der Aufenthaltsrichtlinie, die Ausübung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger, insbesondere derjenigen, gegen die eine Ausweisungsverfügung ergangen ist, vom Nachweis eines Aufenthalts außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats für einen bestimmten Zeitraum, sei es für einen Zeitraum von drei Monaten oder für einen kürzeren Zeitraum, abhängig macht. Billigte man den Vorschlag der niederländischen Regierung, so würde dies eine richterliche Schöpfung darstellen, da sich der Gerichtshof an die Stelle des Unionsgesetzgebers setzen würde, um eine spezifische Regelung hinsichtlich der Dauer der Rechtswirkungen von Ausweisungsverfügungen aufzustellen. Eine solche Billigung verstieße nicht nur gegen den Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 AEUV, sondern auch gegen die in Art. 13 Abs. 2 EUV verankerten Grundsätze des institutionellen Gleichgewichts und der begrenzten Einzelermächtigung. Darüber hinaus ist der Unionsgesetzgeber durch nichts daran gehindert, in der Aufenthaltsrichtlinie eine konkrete Dauer für die zeitlichen Wirkungen der nach Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie erlassenen Ausweisungsverfügungen vorzusehen, wie er es in Bezug auf die zeitlichen Wirkungen von Aufenthaltsverboten getan hat(42).

92.      Zum anderen stünde der Vorschlag der niederländischen Regierung auch im Widerspruch zur Ausübung des durch Art. 5 der Aufenthaltsrichtlinie gewährleisteten Rechts auf Freizügigkeit, da er automatisch eine zusätzliche Voraussetzung für das Recht auf Einreise festlegen würde, nämlich die „spezifische und konkrete“ Rechtfertigung des Besuchs des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat. Die Ausübung des Rechts auf Einreise, das Ausdruck der Freiheit ist, sich in der Union frei zu bewegen, ist jedoch schwer mit einer solchen Rechtfertigungspflicht vereinbar, insbesondere, weil sie in Anbetracht ihres subjektiven und potenziell willkürlichen Charakters die Betroffenen davon abhalten könnte, von diesem Recht tatsächlich Gebrauch zu machen. Innerhalb des Schengenraums wäre eine solche Rechtfertigung in Ermangelung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zwar nur in Ausnahmefällen, insbesondere bei Polizeikontrollen, erforderlich. Eine solche Praxis einer Kontrolle in großem Maßstab würde jedoch von den Betroffenen zweifellos als mittelbare Einführung eines Verbots der Einreise in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wahrgenommen, da die angeführten Gründe systematisch als für eine Rechtfertigung ihrer Anwesenheit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats unzureichend angesehen werden könnten. Eine solche Praxis liefe gerade dem Geist von Art. 15 Abs. 3 der Aufenthaltsrichtlinie zuwider, der es diesem Mitgliedstaat verbietet, eine Ausweisungsverfügung mit einem Einreiseverbot zu verbinden.

93.      Nach alledem schlage ich vor, festzustellen, dass der Vorschlag der niederländischen Regierung zurückzuweisen ist, wonach die Rechtswirkungen einer Ausweisungsverfügung systematisch(43) während eines Zeitraums von mindestens drei Monaten fortbestehen müssen.

94.      Diese Feststellung kann nicht durch die Argumente in Frage gestellt werden, die diese Regierung im Umkehrschluss aus den den „Missbrauch“ betreffenden Bestimmungen der Leitlinien der Kommission(44) und aus dem Urteil vom 12. März 2014, O. und B.(45), herleitet, um nachzuweisen, dass ein neues Aufenthaltsrecht nach Art. 6 der Aufenthaltsrichtlinie erst ab dem Zeitpunkt entstehen kann, zu dem ein „tatsächlicher Aufenthalt von einer gewissen Dauer“ außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats gegeben war.

95.      Zunächst ist festzustellen, dass das Verhalten von Personen, die, nachdem sie aus dem Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats ausgewiesen worden sind, dorthin zurückkehren möchten, um sich dort aufzuhalten, nicht als „missbräuchlich“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der Leitlinien der Kommission beschrieben werden kann, soweit es sich nicht um ein künstliches Verhalten handelt, das ausschließlich zu dem Zweck gewählt wurde, das Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt nach dem Unionsrecht zu erhalten, und das trotz formaler Erfüllung der nach der Unionsregelung vorgesehenen Voraussetzungen den mit dieser verfolgten Zweck nicht erreicht(46). Im vorliegenden Fall geht es vielmehr nur darum, zu bestimmen, ob diesen Personen, wenn sie somit die nach dieser Regelung vorgesehenen Voraussetzungen formal erfüllen, ein neues Aufenthaltsrecht gewährt werden kann.

96.      Sodann ist in der Sache der Anknüpfungspunkt zwischen dem Urteil O. und B. und dem Fall einer Person, die sich erneut im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten möchte, schwach, da es sich um nicht vergleichbare Fälle handelt. Im Urteil O. und B hatte der Gerichtshof nämlich die Frage zu entscheiden, ob das Unionsrecht einem Mitgliedstaat verbietet, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, bei der Rückkehr des Unionsbürgers dorthin das Aufenthaltsrecht zu verwehren, wenn dieser sich vor seiner Rückkehr mit dem betreffenden Familienangehörigen allein in seiner Eigenschaft als Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat. Es ging also um die Voraussetzungen für die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts für den Drittstaatsangehörigen, und in diesem speziellen Kontext wurde das Kriterium des „Aufenthalts von einer gewissen Dauer“ des Unionsbürgers und seines Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat dahin angesehen, dass es ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht bei der Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, eröffnete(47). In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens möchte der Betroffene aber kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht geltend machen, das er dadurch erworben hätte, dass er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem Aufnahmemitgliedstaat niedergelassen hätte, um daraus bei seiner Rückkehr dort Nutzen zu ziehen.

97.      Schließlich gibt es im Gegensatz zum Urteil O. und B. nach einer Ausweisungsverfügung keinen Grund, einen „langfristigen Aufenthalt“ oder einen „Aufenthalt von einer gewissen Dauer“ in einem anderen Mitgliedstaat als dem, der diese Ausweisungsverfügung erlassen hat, zu verlangen. Entscheidend ist, dass der Betroffene seinen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der die Verfügung erlassen hat, beendet hat. Die Verpflichtung, das Hoheitsgebiet im Anschluss an eine Ausweisungsverfügung zu verlassen, kann nämlich nicht zu einer Verpflichtung führen, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen und einen neuen „Aufenthalt von einer gewissen Dauer“ zu erwerben, da eine solche Verpflichtung gegen die Grundfreiheit des Unionsbürgers verstößt, sich im Gebiet der Union aufzuhalten, wo immer er dies möchte.

c)      Zu den übrigen relevanten Aspekten

98.      Aus meiner Analyse ergibt sich zum einen, dass die Rechtswirkungen der Ausweisungsverfügungen nach Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie sich nicht dadurch erschöpfen, dass der betreffende Unionsbürger das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats physisch verlässt, und zum anderen, dass diese Wirkungen nur fortdauern können, sofern dieser Bürger die Voraussetzungen eines Aufenthalts oder einer bestimmten Dauer eines Aufenthalts außerhalb dieses Mitgliedstaats nicht erneut erfüllt. Daraus kann daher geschlossen werden, dass die nationalen Behörden und Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats die zeitlichen Wirkungen von Ausweisungsverfügungen von Fall zu Fall beurteilen müssen.

99.      Insoweit muss zwar die praktische Wirksamkeit der Bestimmungen der Aufenthaltsrichtlinie die Richtschnur für die Festlegung der relevanten Aspekte sein, doch bin ich der Ansicht, dass zumindest drei Arten von Aspekten Teil des von den nationalen Behörden zu berücksichtigenden Bündels von Indizien sein sollten.

100. Erstens bin ich der Auffassung, dass es, damit die Wirkungen einer Ausweisungsverfügung gegenüber einer Person erschöpft sind und diese erneut das Recht erlangen kann, sich im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, erforderlich ist, dass sie das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verlassen hat und ihren Aufenthalt in diesem Land effektiv beendet hat. In diesem Fall müsste die Verwaltung prüfen, ob eine Person tatsächlich alle erforderlichen Schritte unternommen hat, um nachzuweisen, dass sie nicht mehr in diesem Mitgliedstaat wohnhaft ist. Die nachfolgend dargelegten Aspekte, die je nach Art des betreffenden Aufenthalts variieren, können für die Feststellung, ob es sich um eine tatsächliche und effektive Beendigung des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat handelt, von Bedeutung sein. Wenn sich die betroffene Person also gemäß Art. 6 der Richtlinie im Aufnahmemitgliedstaat aufhielt und deshalb ausgewiesen wurde, weil sie die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung dieses Rechts nach Art. 14 der Richtlinie nicht mehr erfüllte, ist der Beweis, den diese Person erbringen muss, um ihre effektive Ausreise aus diesem Hoheitsgebiet nachzuweisen, seiner Natur nach und aufgrund dessen, dass sie nicht die Zeit hatte, sich im Aufnahmemitgliedstaat zu integrieren, leichter zu erbringen. Wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits festgestellt hat, will sich ein Unionsbürger, der seine Rechte aus Art. 6 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie ausübt, im Aufnahmemitgliedstaat nämlich nicht auf eine Weise niederlassen, die der Entwicklung oder Festigung eines Familienlebens in diesem Mitgliedstaat förderlich ist(48). Hielt sich der Betroffene hingegen gemäß Art. 7 dieser Richtlinie im Aufnahmemitgliedstaat auf, können die Anforderungen an den vom Betroffenen zu erbringenden Beweis strenger sein. Dieser Bürger muss z. B. nachweisen können, dass er die Löschung in einem Einwohnermelderegister beantragt hat, einen Mietvertrag oder einen Vertrag über die Lieferung von Wasser oder Energie gekündigt hat, einen Umzug beauftragt hat, sich von einem Arbeitseingliederungsdienst abgemeldet hat oder andere Beziehungen beendet hat, die eine dauerhafte Anwesenheit voraussetzen. Hierzu ist festzustellen, dass die Dauer der Abwesenheit vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zwar weder für sich genommen ausschlaggebend sein noch isoliert betrachtet werden kann, aber einen der wichtigen Aspekte darstellen könnte, die von den nationalen Behörden zu berücksichtigen sind. Es versteht sich von selbst, dass eine lange Abwesenheitsdauer für eine tatsächliche und effektive Beendigung des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat und damit für eine Erschöpfung der Rechtswirkungen einer Ausweisungsverfügung spricht.

101. Zweitens sollte, wie bereits festgestellt, keine Ausweisung erfolgen, solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Um gemäß dem 16. Erwägungsgrund der Aufenthaltsrichtlinie festzustellen, ob der Begünstigte Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nimmt, und gegebenenfalls seine Ausweisung zu verfügen, hat dieser Mitgliedstaat zu prüfen, „ob es sich … um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag [zu] berücksichtigen“. In Anlehnung an diese Kriterien müssten die nationalen Behörden daher auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung überprüfen können, ob die ausgewiesene Person, auch wenn sie die Voraussetzungen des Art. 7 der Aufenthaltsrichtlinie nicht erfüllt, die Sozialhilfeleistungen nicht mehr unangemessen in Anspruch nimmt und sich daher auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 dieser Richtlinie berufen kann. Diese Beurteilung könnte darin bestehen, die persönliche Situation und das Verhalten des Betroffenen nach seiner Ausweisung zu beurteilen. Insoweit weise ich darauf hin, dass der Begriff „Sozialhilfe“ weit ist und alle Leistungen umfasst, für die der Unionsbürger keinen Beitrag erbracht hat und die durch allgemeine Steuermittel finanziert werden(49). Wenn beispielsweise eine Person wie der Kläger des Ausgangsverfahrens nach ihrer Ausweisung wiederholt ein strafbares Verhalten an den Tag legt(50), könnte dieses Verhalten relevant sein, da es die Gefahr widerspiegeln könnte, dass sie aufgrund ihres Verhaltens wegen der Mobilisierung eines erheblichen Teils polizeilicher Ressourcen Leistungen unangemessen beansprucht. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob eine solche Inanspruchnahme von Sozialhilfe unangemessen ist.

102. Drittens und letztens könnte ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden, nämlich die etwaige Absicht des Betroffenen, der Ausweisungsverfügung nachzukommen und die bestehenden Verbindungen zum Aufnahmemitgliedstaat aufzulösen. Dieser Aspekt wirft jedoch eine Reihe praktischer Schwierigkeiten bei der Umsetzung auf, insbesondere, weil es schwierig erscheint, die tatsächliche Absicht von jemandem, seinen Aufenthalt zu beenden, objektiv zu beurteilen. Ein solches Erfordernis würde die nationale Verwaltung nämlich zu einer reinen Unterstellung verpflichten, die nur schwer durch objektive Anhaltspunkte gestützt werden könnte, vor allem dann, wenn eine zeitliche Nähe zwischen dem Zeitpunkt der Ausreise und der Überprüfung durch die Verwaltung oder eine geografische Nähe zwischen dem Ort, an dem sich diese Person aufhält, und dem Aufnahmemitgliedstaat besteht.

V.      Ergebnis

103. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) wie folgt zu beantworten:

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG in der durch die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine auf der Grundlage dieser Bestimmung ergangene Ausweisungsverfügung eines Aufnahmemitgliedstaats nicht allein deshalb als vollständig umgesetzt und keine Rechtswirkungen mehr entfaltend angesehen werden kann, weil die von dieser Verfügung betroffene Person das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats physisch verlassen hat. Es ist Aufgabe der Behörden dieses Mitgliedstaats, die zeitlichen Wirkungen solcher Verfügungen auf der Grundlage einer individuellen Prüfung der betroffenen Person unter Berücksichtigung einer etwaigen materiellen Änderung der Umstände zu beurteilen, die es dieser Person ermöglicht, die Aufenthaltsvoraussetzungen – an denen es mangelte, was die Ausweisungsverfügung rechtfertigte – erneut zu erfüllen, oder, wenn eine solche Änderung nicht gegeben ist, einer Gesamtheit von Aspekten wie u. a. einer tatsächlichen und effektiven Beendigung des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat – wobei die Dauer des Aufenthalts außerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats insoweit ein indikatives, aber für sich genommen nicht entscheidendes Kriterium darstellt – sowie der Gefahr, dass diese Person Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen wird.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 (ABl. 2011, L 141, S. 1, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35) geänderten Fassung,


3      Der Gerichtshof hatte einige andere Aspekte von Art. 15 der Aufenthaltsrichtlinie, darunter die Tragweite der in dieser Vorschrift vorgesehenen Verfahrensgarantien, in den Urteilen vom 12. Juli 2018, Banger (C‑89/17, EU:C:2018:570, Rn. 42 bis 52), und vom 10. September 2019, Chenchooliah (C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 71 bis 88), auszulegen. Diese Verfahrensgarantien wurden auch in den Schlussanträgen des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache G. M. A. (Arbeitsuchender) (C‑710/19, EU:C:2020:739, Nrn. 86 bis 99) ausgelegt.


4      Vgl. Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1).


5      Dieses Register ist integraler Bestandteil des Einwohnermelderegisters und enthält u. a. die Daten der Personen, die für einen Zeitraum von weniger als vier Monaten in den Niederlanden wohnen.


6      Es wurde nämlich festgestellt, dass FS fünf Monate in den Niederlanden gearbeitet habe, aber keinerlei wirtschaftliche Tätigkeit mehr ausübe, nicht nachgewiesen habe, unfreiwillig arbeitslos zu sein oder Arbeitsuchender zu sein, und nicht über ausreichende Mittel verfüge, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.


7      Der Staatssekretär hat diese Beurteilung inzwischen korrigiert und eingeräumt, dass FS dieser Entscheidung innerhalb der gesetzten Frist nachgekommen sei (vgl. Nr. 27 der vorliegenden Schlussanträge).


8      Vgl. Urteil vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 53 und 56).


9      Vgl. Art. 5 Abs. 1 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19).


10      Vgl. Art. 8 EG (ABl. 1992, C 191, S. 1).


11      Mit dem Erlass der Aufenthaltsrichtlinie wollte der Unionsgesetzgeber das frühere Sekundärrecht, das Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandelte, in einem einzigen Text kodifizieren, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht der Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken (vgl. Erwägungsgründe 3 und 4). Über diesen fragmentarischen Ansatz hinaus hat die Richtlinie dieses abgeleitete Recht geändert oder aufgehoben und der Freizügigkeit auf der Grundlage der Unionsbürgerschaft eine neue Dimension verliehen (Urteil vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, EU:C:2010:592, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Vgl. zehnter Erwägungsgrund der Aufenthaltsrichtlinie sowie Urteil vom 11. November 2014, Dano (C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      Vgl. Art. 8 Abs. 1 und 2 der Aufenthaltsrichtlinie.


14      Vgl. Urteil vom 17. Februar 2005, Oulane (C‑215/03, EU:C:2005:95, Rn. 21 und 35).


15      Vgl. Urteil vom 17. Februar 2005, Oulane (C‑215/03, EU:C:2005:95, Rn. 24 und 25).


16      Vgl. Art. 8 Abs. 1 und 2 der Aufenthaltsrichtlinie.


17      Vgl. Art. 5 Abs. 5 der Aufenthaltsrichtlinie.


18      Vgl. Urteil vom 10. September 2019, Chenchooliah (C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem sieht die Aufenthaltsrichtlinie Situationen vor, in denen das abgeleitete Aufenthaltsrecht aufrechterhalten wird, wenn das Erfordernis, den Unionsbürger zu begleiten bzw. ihm nachzuziehen, nicht mehr möglich ist, nämlich im Fall des Todes oder des Wegzugs des Unionsbürgers (Art. 12) oder im Fall der Scheidung oder der Aufhebung der Ehe oder der Beendigung einer eingetragenen Partnerschaft (Art. 13). In diesen Situationen müssen Familienangehörige, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie (Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1) erfüllen, um ihr Aufenthaltsrecht behalten zu können, während Familienangehörige, die Staatsangehörige eines Drittstaats sind, die hierfür in Art. 12 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen besonderen Voraussetzungen erfüllen müssen (vgl. Urteil vom 10. September 2019, Chenchooliah, C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 66).


19      Es ist festzustellen, dass weder Art. 27 Abs. 1 noch Art. 15 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie den Begriff „Ausweisungsverfügungen“ verwenden, sondern allgemein auf eine „[Beschränkung der] Freizügigkeit und [des] Aufenthaltsrecht[s]“ bzw. auf eine „Entscheidung …, die die Freizügigkeit … beschränkt“, Bezug nehmen. Aus den übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie geht jedoch hervor, dass „Ausweisungsverfügungen“ eindeutig zu diesen Maßnahmen gehören (vgl. Art. 28 Abs. 1 bzw. Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie).


20      Nach Art. 28 Abs. 2 der Aufenthaltsrichtlinie darf ein Mitgliedstaat gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.


21      Vgl. Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) der Aufenthaltsrichtlinie.


22      Urteil vom 10. September 2019, Chenchooliah (C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 74).


23      Nach Art. 3 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie fallen auch die Familienangehörigen des Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, in den Geltungsbereich der Richtlinie und sind Berechtigte der durch diese gewährten Rechte (vgl. Urteil vom 10. September 2019, Chenchooliah, C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung]).


24      Mit dem 16. Erwägungsgrund der Aufenthaltsrichtlinie wird außerdem klargestellt, dass „[d]er Aufnahmemitgliedstaat … prüfen [sollte], ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen [sollte], um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall seine Ausweisung zu veranlassen“.


25      Die Anwendung des Kriteriums der Unangemessenheit der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen könnte auch die nicht an das Sozialhilfesystem anknüpfenden Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 der Aufenthaltsrichtlinie bezüglich der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung einer eingetragenen Partnerschaft betreffen.


26      Vgl. Urteile vom 20. Februar 1997, Kommission/Belgien (C‑344/95, EU:C:1997:81, Rn. 12 bis 18), und vom 17. Dezember 2020, G. M. A. (Arbeitsuchender) (C‑710/19, EU:C:2020:1037, Rn. 22 bis 27).


27      Für alle Fälle ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie sie in Art. 27 Abs. 2 der Aufenthaltsrichtlinie kodifiziert wurde, Ausweisungsmaßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nur gerechtfertigt wären, wenn das fragliche Verhalten eine „tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr …, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“, darstellen würde. Insoweit wies die Kommission darauf hin, dass in manchen Fällen eine Vielzahl kleinerer Straftaten zusammengenommen eine einheitliche Tat darstellen könne, die eine hinreichend schwere Gefährdung für die öffentliche Ordnung darstellen könne. Vgl. Ziff. 3.2 der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der [Aufenthaltsrichtlinie] (KOM[2009] 313 endgültig, S. 13, im Folgenden: Leitlinien der Kommission). Ich weise jedoch darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Vorliegen mehrerer Verurteilungen für sich genommen nicht genügt, um eine solche Gefahr festzustellen, und dass dieser Vorschlag der Kommission daher nur ausnahmsweise angewandt werden sollte (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Oktober 2007, Polat, C‑349/06, EU:C:2007:581, Rn. 28 bis 39).


28      Wenn nämlich ein anderer Mitgliedstaat als der Aufnahmemitgliedstaat erneut ein Aufenthaltsrecht gewährt, setzt dieses Aufenthaltsrecht der Ausweisungsverfügung erga omnes, also auch gegenüber dem Aufnahmemitgliedstaat, ein Ende.


29      Vgl. Nr. 27 der vorliegenden Schlussanträge. Die niederländische Regierung vertritt die Auffassung, dass, wenn bei jedem Grenzübertritt eine neue Dreimonatsfrist zu laufen begänne, dies de facto ein unbegrenztes und automatisches Recht zum Aufenthalt für aufeinanderfolgende Dreimonatszeiträume zugunsten von Unionsbürgern schaffen würde, die die Voraussetzungen des Art. 7 der Aufenthaltsrichtlinie nicht erfüllten.


30      Urteil vom 11. April 2019, Tarola (C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn. 37 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


31      Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass das Wort „sinngemäß“ dahin zu verstehen ist, dass die Bestimmungen der Art. 30 und 31 der Aufenthaltsrichtlinie im Rahmen ihres Art. 15 nur dann Anwendung finden, wenn sie – gegebenenfalls nach den erforderlichen Anpassungen – tatsächlich auf Entscheidungen angewandt werden können, die aus anderen Gründen als denen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit getroffen wurden (Urteil vom 10. September 2019, Chenchooliah, C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 81).


32      Vgl. auch Art. 31 Abs. 4 der Aufenthaltsrichtlinie.


33      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ (C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 48).


34      Außerdem weise ich darauf hin, dass eine Entscheidung, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet untersagt wird, eine Maßnahme ist, deren Dauer potenziell zeitlich unbegrenzt sein kann („ein Aufenthaltsverbot auf Lebenszeit“), was die durch die Aufenthaltsrichtlinie Begünstigten unverhältnismäßig beeinträchtigen würde (vgl. 27. Erwägungsgrund). Eine Ausweisungsverfügung könnte hingegen sofort vollzogen werden, und auch wenn die Rechtswirkungen einer solchen Verfügung nach der Ausweisung in Form eines Verbots eines neuen Aufenthaltsrechts fortbestehen können, kann dieses Verbot nicht zeitlich unbegrenzt fortbestehen, da es sich dann um ein Aufenthaltsverbot auf Lebenszeit handeln würde.


35      Urteil vom 10. September 2019, Chenchooliah (C‑94/18, EU:C:2019:693, Rn. 74).


36      Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Brey (C‑140/12, EU:C:2013:337, Nr. 44).


37      Formulierung in Anlehnung an Art. 32 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie, der Aufenthaltsverbote betrifft, aber auf Ausweisungsverfügungen entsprechend angewandt werden kann. Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 18. Mai 1982, Adoui und Cornuaille (115/81 und 116/81, EU:C:1982:183, Rn. 12).


38      Im Übrigen müssen Familienangehörige, die vor ihrer Ausweisung über ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht verfügten, auch dann in den Genuss dieser Möglichkeit kommen können, wenn sie erneut die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 oder des Art. 7 Abs. 2 der Aufenthaltsrichtlinie erfüllen. Die Situation ist jedoch für die Familienangehörigen, die sich auf die „Aufrechterhaltung“ eines solchen Rechts im Sinne der Art. 12 und 13 dieser Richtlinie berufen, weniger offensichtlich, da eine solche Aufrechterhaltung voraussetzt, dass das in Rede stehende Aufenthaltsrecht nicht unterbrochen wurde. Eine solche Unterbrechung findet jedoch eindeutig statt, wenn das Aufenthaltsrecht endet und eine Ausweisungsverfügung erlassen wird. Wurde ein solcher Familienangehöriger ausgewiesen, kann er sich daher meines Erachtens nicht auf die Bestimmungen berufen, die für die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts gelten. Daher würde eine materielle Änderung der Umstände nur dann ein Aufenthaltsrecht erneut rechtfertigen, wenn der Familienangehörige selbst die in Art. 6 oder 7 der Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Aufenthaltsrichtlinie Drittstaatsangehörigen kein eigenständiges Recht verleihen, da die ihnen möglicherweise verliehenen Rechte daraus abgeleitet werden, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat (Urteil vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 36).


39      Vgl. Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge.


40      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 84), und vom 11. April 2019, Tarola (C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn. 38).


41      Im gleichen Sinne muss, da dieses Recht durch Art. 45 Abs. 1 der Grundrechtecharta gewährleistet wird, gemäß deren Art. 52 jede Einschränkung der Ausübung dieses Rechts „gesetzlich vorgesehen sein und [dessen] Wesensgehalt … achten“.


42      Vgl. Nrn. 68 und 69 der vorliegenden Schlussanträge.


43      Dies bedeutet nicht, dass die Rechtswirkungen einer Ausweisungsverfügung auf der Grundlage einer Einzelfallbeurteilung nicht länger als drei Monate andauern können.


44      Vgl. Fn. 27, Leitlinien der Kommission, Ziff. 4.3. („Andere Formen des Rechtsmissbrauchs“), S. 19.


45      C‑456/12, EU:C:2014:135.


46      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke (C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 52 ff.), und vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 58).


47      Vgl. Urteil vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 56 und 57).


48      Urteil vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 52).


49      Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Brey (C‑140/12, EU:C:2013:337, Nr. 41); vgl. auch Urteil vom 19. September 2013, Brey (C‑140/12, EU:C:2013:565, Rn. 61).


50      Das vorlegende Gericht führt aus, dass „[d]ie Polizei … nach der Aufhebung der Haft noch zwei den Ausländer betreffende Meldungen erhalten [hat]“.