URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
9. September 1999 (1)
„Wettbewerb Untätigkeitsklage Untersuchungspflicht der Kommission
Angemessene Frist“
In der Rechtssache T-127/98
UPS Europe SA, Gesellschaft belgischen Rechts mit Sitz in Brüssel,
Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Tom R. Ottervanger, Rotterdam, und Dirk
Arts, Brüssel, Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Loeff, Claeys und
Verbeke, 5, rue Charles Martel, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Barry Doherty und
Klaus Wiedner, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Feststellung gemäß Artikel 175 EG-Vertrag (jetzt Artikel 232 EG), daß die
Kommission untätig geblieben ist, indem sie es unterlassen hat, über die von der
Klägerin gemäß Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6.
Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des
Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), eingelegte Beschwerde zu entscheiden, mit
der bestimmte wettbewerbswidrige Praktiken der Deutsche Post AG beanstandet
werden,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten R. M. Moura Ramos sowie der Richterin V. Tiili
und des Richters P. Mengozzi,
Kanzler: B. Pastor, Hauptverwaltungsrätin
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9.
März 1999,
folgendes
Urteil
Der Klage zugrunde liegender Sachverhalt
- 1.
- Die Klägerin ist eine der Gesellschaften der Gruppe United Parcel Service (im
folgenden: UPS), die weltweit Pakete zustellt. Sie hat in allen Mitgliedstaaten der
Europäischen Gemeinschaft, darunter in Deutschland, Zweigniederlassungen.
- 2.
- Mit Schreiben vom 7. Juli 1994 legte die Klägerin bei der Kommission Beschwerde
ein und beantragte, ein Verfahren einzuleiten, um u. a. festzustellen, daß das
mißbräuchliche Verhalten der Deutschen Bundespost jetzt Deutsche Post AG (im
folgenden: Deutsche Post) auf dem Markt für Postdienste und die
Quersubventionierung des Postdienstes gegen die Artikel 86 EG-Vertrag (jetzt
Artikel 82 EG), 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 86 EG), 92 EG-Vertrag (nach
Änderung jetzt Artikel 87 EG) und 93 EG-Vertrag (jetzt Artikel 88 EG) verstießen.
- 3.
- Nach einem Treffen zwischen der Klägerin und der Kommission im August 1994
sandte die Kommission am 11. August 1994 die Beschwerde und ein erstes
Schreiben gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar
1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages
(ABl. 1962, Nr. 13, S. 204; im folgenden: Verordnung Nr. 17), an die Deutsche
Post, die darauf am 24. November 1994 antwortete. Die nichtvertrauliche Fassung
dieser Antwort wurde der Klägerin am 28. November 1994 durch die Kommission
zugesandt. Sie war außerdem Gegenstand einer Erörterung zwischen der Klägerin
und der Kommission.
- 4.
- Mit Schreiben vom 21. März 1995 teilte die Kommission der Klägerin mit, daß ihre
Beschwerde nur im Hinblick auf Artikel 86 des Vertrages geprüft werde und daß
sie, wenn sie dies wünsche, eine gesonderte, im wesentlichen auf weitere Beweise
gestützte Beschwerde auf der Grundlage von Artikel 92 des Vertrages einlegen
könne.
- 5.
- Am 3. April 1995 nahm die Klägerin zur Antwort der Deutschen Post vom 24.
November 1994 Stellung.
- 6.
- Am 10. Juli 1995 sandte die Kommission der Deutschen Post ein zweites Schreiben
gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17. Die Deutsche Post antwortete darauf am
2. Oktober 1995.
- 7.
- Am 13. Dezember 1995 erkundigte sich die Klägerin bei der Kommission nach den
Fortschritten bezüglich ihrer Beschwerde wegen Artikel 86 des Vertrages.
- 8.
- Am 30. April 1996 sandte die Kommission der Deutschen Post ein drittes Schreiben
gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17. Die Deutsche Post antwortete darauf mit
Schreiben vom 31. Mai, 27. Juni und 12. September 1996.
- 9.
- Am 19. November 1996 übermittelte der Anwalt der Klägerin der Kommission
unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Artikel 175 EG-Vertrag (jetzt Artikel 232
EG) ein Mahnschreiben.
- 10.
- Auf dieses Schreiben sandte Herr Temple Lang, Direktor in der Generaldirektion
Wettbewerb der Kommission (GD IV), der Deutschen Post am 24. Januar 1997
eine Mitteilung, in der er erklärte:
„Die Generaldirektion Wettbewerb unterrichtet Sie hiermit davon, daß sie auf der
Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden Informationen beabsichtigt, ablehnend
zu dem Verhalten, über das sich UPS beschwert hat, Stellung zu nehmen und eine
Mitteilung der Beschwerdepunkte zu verfassen, um der Kommission vorzuschlagen,
den Erlaß einer negativen Entscheidung ins Auge zu fassen. Die Beschwerdepunkte
der Kommission in bezug auf das genannte Verhalten werden Ihnen nach den
gewöhnlichen Verfahren in einer umfassend begründeten Mitteilung übermittelt
werden.“
Weiter hieß es:
„Angesichts der derzeitigen Prioritäten der Kommission und ihrer augenblicklichen
Arbeitslast gilt für das weitere Vorgehen in dieser Sache folgender vorläufiger
Zeitplan:
Mitteilung der Beschwerdepunkte im April 1997;
schriftliche Bemerkungen der Parteien im Juni 1997;
Anhörung im Juli 1997;
Beratender Ausschuß im September 1997;
endgültige Entscheidung im Herbst 1997.“
- 11.
- Auf dieses Schreiben antwortete die Deutsche Post am 28. Februar 1997.
- 12.
- Am 3. Juli 1997 antwortete die Kommission auf eine erneute Anfrage der Klägerin
nach den Fortschritten in der Sache und teilte ihr mit, daß die Prüfung der
Angelegenheit aufgrund der am 23. Januar 1997 eingelegten Beschwerde eines
weiteren Konkurrenten der Deutschen Post länger dauern werde.
- 13.
- Am 3. Juli 1997 beauftragte die Kommission darüber hinaus eine externe
Beraterfirma, einen Bericht zu den von der Deutschen Post vorgelegten Studien zu
erstellen. Diesen Bericht erhielt sie am 11. September 1997.
- 14.
- Mit Schreiben vom 25. August 1997 teilte Herr Temple Lang der Klägerin mit, daß
die Kommission das Verfahren gemäß Artikel 86 des Vertrages bis auf weiteres
einstellen und gemäß Artikel 92 des Vertrages fortführen werde.
- 15.
- Am 22. Oktober 1997 forderte die Klägerin die Kommission unter ausdrücklicher
Bezugnahme auf Artikel 175 des Vertrages offiziell auf, Stellung zu ihrer
Beschwerde vom 7. Juli 1994 zu nehmen und den im Schreiben vom 25. August
1997 eingenommenen Standpunkt zum Verfahren gegen die Deutsche Post gemäß
Artikel 86 des Vertrages zu überdenken.
- 16.
- Am 19. Dezember 1997 sandte der Generaldirektor der GD IV der Klägerin ein
Schreiben, in dem auf Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission
vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze (1) und (2) der
Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, Nr. 127, S. 2268; im folgenden:
Verordnung Nr. 99/63) Bezug genommen wurde. In diesem Schreiben führte der
Generaldirektor aus:
„Wie oben dargelegt, ist die Kommission daher der Auffassung, daß Ihre
Beschwerde im Moment nur insoweit zu prüfen ist, als mit ihr Verstöße gegen die
Bestimmungen über staatliche Beihilfen geltend gemacht werden. Die Kommission
wird Anfang des nächsten Jahres das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 EG-Vertrag einleiten ... Aufgrund des Vorstehenden sind die Dienststellen der
Kommission zu dem Ergebnis gelangt, daß es keine Gründe dafür gibt, Ihrem
Antrag stattzugeben, soweit Artikel 86 EG-Vertrag betroffen ist.“
Der Generaldirektor forderte die Klägerin zudem auf, ihre Bemerkungen
mitzuteilen. Er schloß jedoch nicht aus, das Verfahren wegen Artikel 86 des
Vertrages erneut einzuleiten.
- 17.
- Mit Schreiben vom 2. Februar 1998 teilte die Klägerin ihre Bemerkungen zu dem
Schreiben vom 19. Dezember 1997 mit und wandte sich gegen die Absicht der
Kommission, die Untersuchung bezüglich Artikel 86 des Vertrages nicht
fortzusetzen. Sie forderte die Kommission auf, ihre Beschwerde, falls sie dies wolle,
innerhalb angemessener Frist durch eine förmliche Entscheidung zurückzuweisen.
- 18.
- Am 2. Juni 1998 sandte die Klägerin der Kommission unter ausdrücklicher
Bezugnahme auf Artikel 175 des Vertrages ein Mahnschreiben mit der
Aufforderung, eine endgültige Entscheidung bezüglich des Verfahrens gegen die
Deutsche Post gemäß Artikel 86 des Vertrages zu erlassen.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 19.
- Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 7. August 1998 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
- 20.
- Das Gericht hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche
Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. Im Rahmen
prozeßleitender Maßnahmen gemäß Artikel 64 der Verfahrensordnung ist jedoch
die Klägerin aufgefordert worden, eine Frage schriftlich zu beantworten.
- 21.
- Die Parteien haben in der Sitzung vom 9. März 1999 mündlich verhandelt und
Fragen des Gerichts beantwortet.
- 22.
- Die Klägerin beantragt,
gemäß Artikel 175 des Vertrages festzustellen, daß die Kommission untätig
geblieben ist, da sie keine Entscheidung über die am 7. Juli 1994 von der
Klägerin eingelegte Beschwerde erlassen hat;
der Beklagten die Kosten aufzuerlegen;
weitere Maßnahmen zu treffen, die das Gericht für geeignet hält.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ferner beantragt, der Kommission
eine Frist von einem Monat zu setzen, um gemäß Artikel 176 Absatz 1 EG-Vertrag
(jetzt Artikel 233 EG) nach Urteilsverkündung die erforderlichen Maßnahmen zu
ergreifen.
- 23.
- Die Kommission beantragt,
die Klage abzuweisen;
der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Zum Antrag auf Feststellung der Untätigkeit
Vorbringen der Parteien
- 24.
- Die Klägerin vertritt unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichtshofes vom 18.
März 1997 in der Rechtssache C-282/95 P (Guérin automobiles/Kommission, Slg.
1997, I-1503, Randnr. 36) die Auffassung, daß die Kommission nach ständiger
Rechtsprechung verpflichtet sei, entweder ein Verfahren gegen die Person
einzuleiten, gegen die sich die Beschwerde richte, oder eine endgültige
Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde zu erlassen, wenn der
Beschwerdeführer seine Bemerkungen zu dem Schreiben gemäß Artikel 6 der
Verordnung Nr. 99/63 mitgeteilt habe.
- 25.
- Die Entscheidung der Kommission müsse gemäß den Grundsätzen der
ordnungsgemäßen Verwaltung innerhalb einer angemessenen Frist nach dem
Eingang der Bemerkungen des Beschwerdeführers erlassen werden (Urteil Guérin
automobiles/Kommission, a. a. O., Randnr. 37). Als sie die vorliegende Klage
erhoben habe, also sechs Monate nach Abgabe ihrer Bemerkungen, habe die
Kommission immer noch nicht ihre Entscheidung erlassen.
- 26.
- Im übrigen habe sie ihre Beschwerde ursprünglich im Juli 1994 eingelegt; die
Kommission habe somit mehr als vier Jahre Zeit gehabt, um sie zu prüfen.
- 27.
- In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ferner vorgetragen, daß die
Artikel 86 und 92 des Vertrages einander nicht ausschlössen. Die Kommission sei
daher verpflichtet gewesen, die Untersuchung auf der Grundlage dieser beiden
Vorschriften auf die gleiche Art und Weise und gleichzeitig durchzuführen.
- 28.
- Die Beklagte macht geltend, mit der Beschwerde werde insbesondere beanstandet,
daß die Deutsche Post Einkünfte aus ihrem Briefmarktmonopol für eine
Quersubventionierung ihrer Paketdienste verwende. Die Beschwerde werfe
komplexe Fragen der wirtschaftlichen Analyse auf, vor allem hinsichtlich der von
der Deutschen Post verlangten Preise und ihrer Kostenstruktur. Sie verlange von
der Kommission außerdem, daß sie den Umfang der Verpflichtungen der
Deutschen Post zur Erbringung öffentlicher Dienstleistungen untersuche. Die
Kommission müsse auch noch eine Parallelbeschwerde gegen die Deutsche Post
berücksichtigen.
- 29.
- Nach Eingang des Schreibens der Klägerin vom 2. Februar 1998 habe sie ihrenStandpunkt überdacht und beschlossen, die Untersuchung im Hinblick auf Artikel
86 des Vertrages erneut einzuleiten und ihre Ermittlungen nach Artikel 92 des
Vertrages einzustellen. Dieses neue Vorgehen erfordere jedoch eine gründliche
Prüfung, die nicht innerhalb weniger Wochen abgeschlossen werden könne.
- 30.
- Unter diesen Umständen könne man vernünftigerweise nicht erwarten, daß sie ihre
Untersuchung in diesem Stadium abgeschlossen habe, was ausschließe, daß sie sich
einer Untätigkeit schuldig gemacht habe.
- 31.
- In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission erläutert, daß sie
wahrscheinlich praktisch einen Verstoß gegen Artikel 175 des Vertrages begangen
habe, daß sie aber im vorliegenden Fall nicht hätte anders handeln können. Die
Klägerin habe einen Anspruch darauf, daß eine Entscheidung darüber ergehe, ob
ein Verstoß gegen Artikel 86 des Vertrages vorliege, doch angesichts der Umstände
habe sie die möglicherweise begründete Beschwerde nicht zurückweisen wollen.
- 32.
- Die Kommission räumt ein, daß die Artikel 86 und 92 des Vertrages einander nicht
ausschlössen, sie fügt aber hinzu, daß es eine Verschwendung von Ressourcen wäre,
wenn man den Verstoß gegen diese beiden Artikel gleichzeitig prüfen würde.
Würdigung durch das Gericht
- 33.
- Zunächst ist zu klären, welchen Gegenstand der Klageantrag auf Feststellung der
Untätigkeit hat. Dieser Antrag ist auf die Feststellung gerichtet, daß die
Kommission hinsichtlich der Beschwerde der Klägerin vom 7. Juli 1994 untätig
geblieben ist, da sechs Monate verstrichen waren, seit die Klägerin am 2. Februar
1998 ihre Bemerkungen zu dem Schreiben der Kommission vom 19. Dezember
1997 gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 mitgeteilt hatte. In der mündlichen
Verhandlung hat die Beklagte eingeräumt, daß sie wahrscheinlich praktisch einen
Verstoß gegen Artikel 175 des Vertrages begangen habe, und nicht bestritten, daß
der Antrag auf Feststellung der Untätigkeit den oben genannten Gegenstand hat.
Im übrigen hat die Klägerin auf eine schriftliche Frage des Gerichts bestätigt, daß
ihre Klageschrift nur die etwaige Untätigkeit der Kommission bei der Prüfung ihrer
auf Artikel 86 des Vertrages gestützten Beschwerde betreffe.
- 34.
- Um über die Begründetheit des Antrags auf Feststellung der Untätigkeit
entscheiden zu können, ist zu prüfen, ob die Kommission zu der Zeit, als sie nach
Artikel 175 des Vertrages zum Tätigwerden aufgefordert wurde, eine Verpflichtung
zum Handeln hatte (Urteil des Gerichts vom 15. September 1998 in der
Rechtssache T-95/96, Gestevisión Telecinco/Kommission, Slg. 1998, II-3407,
Randnr. 71).
- 35.
- Nach der Rechtsprechung stellt ein an den Beschwerdeführer gerichtetes Schreiben,
das den Voraussetzungen von Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 entspricht, eine
Stellungnahme gemäß Artikel 175 Absatz 2 des Vertrages dar (Urteil des
Gerichtshofes vom 18. Oktober 1979 in der Rechtssache 125/78,
GEMA/Kommission, Slg. 1979, 3173, Randnr. 21). Eine solche Stellungnahme
beendet die Untätigkeit der Kommission (Urteil Guérin automobiles/Kommission,
a. a. O., Randnrn. 30 und 31).
- 36.
- Es entspricht ebenfalls ständiger Rechtsprechung, daß die Kommission, wenn der
Beschwerdeführer seine Bemerkungen zu der Mitteilung gemäß Artikel 6 der
Verordnung Nr. 99/63 abgegeben hat, verpflichtet ist, entweder ein Verfahren
gegen die Person einzuleiten, gegen die sich die Beschwerde richtet, oder eine
endgültige Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde zu erlassen, die
mit einer Nichtigkeitsklage vor dem Gemeinschaftsrichter angefochten werden kann
(Urteil Guérin automobiles/Kommission, a. a. O., Randnr. 36).
- 37.
- Die endgültige Entscheidung der Kommission muß nach derselben Rechtsprechung
gemäß den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Verwaltung innerhalb einer
angemessenen Frist nach dem Eingang der Bemerkungen des Beschwerdeführers
erlassen werden (Urteil Guérin automobiles/Kommission, a. a. O., Randnr. 37).
- 38.
- Die Angemessenheit der Dauer eines Verwaltungsverfahrens beurteilt sich nach
den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere nach
dessen Kontext, den verschiedenen Verfahrensabschnitten, die die Kommission zu
durchlaufen hat, dem Verhalten der Beteiligten im Laufe des Verfahrens, der
Komplexität der Angelegenheit sowie ihrer Bedeutung für die verschiedenen
Beteiligten (Urteile des Gerichts vom 19. März 1997 in der Rechtssache T-73/95,
Oliveira/Kommission, Slg. 1997, II-381, Randnr. 45, und vom 22. Oktober 1997 in
den Rechtssachen T-213/95 und T-18/96, SCK und FNK/Kommission, Slg. 1997, II-1739, Randnr. 57).
- 39.
- Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerde der Klägerin am 7. Juli 1994 eingelegt.
Am 2. Februar 1998 gab die Klägerin ihre Bemerkungen zu der gemäß Artikel 6
der Verordnung Nr. 99/63 zugesandten Mitteilung vom 19. Dezember 1997 ab. Am
2. Juni 1998 wurde die Kommission zum Tätigwerden aufgefordert, und die
Klageschrift ist am 7. August 1998 beim Gericht eingereicht worden. Folglich waren
zu dem Zeitpunkt, als die Kommission gemäß Artikel 175 des Vertrages zum
Tätigwerden aufgefordert wurde, und im Zeitpunkt der Klageerhebung vier und
sechs Monate seit dem Eingang der Bemerkungen der Klägerin verstrichen.
- 40.
- Um beurteilen zu können, ob diese Zeiträume ausreichten, ist zu prüfen, was die
Kommission in dieser Zeit hätte unternehmen müssen. Wie das Gericht in seinem
Urteil vom 10. Juli 1990 in der Rechtssache T-64/89 (Automec/Kommission, Slg.
1990, II-367, Randnrn. 45 bis 47) ausgeführt hat, besteht das Verfahren zur Prüfung
einer Beschwerde aus drei aufeinanderfolgenden Phasen. Während der ersten
Phase nach der Einreichung der Beschwerde ermittelt die Kommission die
Umstände, die ihr die Entscheidung darüber ermöglichen, wie sie die Beschwerde
weiter behandeln soll. Diese Phase kann einen informellen Meinungsaustausch
zwischen der Kommission und dem Beschwerdeführer umfassen, durch den die
tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die Gegenstand der Beschwerde sind,
geklärt werden sollen und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit gegeben werden
soll, seinen Standpunkt darzulegen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung einer
ersten Reaktion der Dienststellen der Kommission. In der zweiten Phase legt die
Kommission dem Beschwerdeführer in einer Mitteilung im Sinne von Artikel 6 der
Verordnung Nr. 99/63 die Gründe dar, aus denen sie es nicht für gerechtfertigt hält,
seiner Beschwerde stattzugeben, und gibt ihm Gelegenheit, innerhalb einer von ihr
gesetzen Frist Bemerkungen vorzubringen. In der dritten Phase des Verfahrens
nimmt die Kommission von den Bemerkungen des Beschwerdeführers Kenntnis.
Obwohl Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 diese Möglichkeit nicht ausdrücklich
vorsieht, ist die Kommission am Ende dieses Abschnitts verpflichtet, entweder ein
Verfahren gegen die Person einzuleiten, gegen die sich die Beschwerde richtet,
oder eine endgültige Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde zu
erlassen, die mit einer Nichtigkeitsklage vor dem Gemeinschaftsrichter angefochten
werden kann (Urteil Guérin automobiles/Kommission, a. a. O., Randnr. 36).
- 41.
- Als im vorliegenden Fall die Klägerin die Kommission am 2. Juni 1998 gemäß
Artikel 175 des Vertrages aufforderte, zu ihrer Beschwerde Stellung zu nehmen,
befand sich das Verfahren zur Prüfung der Beschwerde in seiner dritten und letzten
Phase. Die Kommission war mit der Beschwerde wegen Verstoßes gegen Artikel
86 des Vertrages seit 47 Monaten befaßt und hatte bereits mit der Untersuchung
der Angelegenheit begonnen. Um zu prüfen, ob der Zeitraum zwischen den
Bemerkungen der Klägerin zu der Mitteilung gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr.
99/63 und der Aufforderung der Kommission zum Tätigwerden vertretbar ist, sind
folglich die bereits abgelaufenen Untersuchungsjahre, der gegenwärtige Stand der
Untersuchung und das Verhalten der Beteiligten insgesamt zu berücksichtigen.
- 42.
- Danach mußte die Kommission zum Zeitpunkt der Aufforderung entweder ein
Verfahren gegen die Person einleiten, gegen die sich die Beschwerde richtete, oder
eine endgültige Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde erlassen. Sie
konnte nicht erneut in die Prüfung der Beschwerde eintreten. Daher kann dem
Verteidigungsvorbringen der Kommission nicht gefolgt werden, daß die Situation
erst nach Eingang der Bemerkungen der Klägerin zur Mitteilung gemäß Artikel 6
der Verordnung Nr. 99/63 überdacht worden sei und man vernünftigerweise nicht
erwarten könne, daß sie ihre Untersuchung in diesem Stadium kurz nachdem sie
beschlossen habe, sich auf den Verstoß gegen Artikel 86 des Vertrages zu
konzentrieren abgeschlossen habe.
- 43.
- Die Kommission hätte vielmehr vernünftigerweise in der Lage sein müssen,
entweder ein Verfahren gegen die Person einzuleiten, gegen die sich die
Beschwerde richtete, oder eine endgültige Entscheidung über die Zurückweisung
der Beschwerde zu erlassen, es sei denn, sie hätte nachweisen können, daß
außergewöhnliche Umstände den Ablauf derartiger Zeiträume rechtfertigten (Urteil
Gestevisión Telecinco/Kommission, a. a. O., Randnr. 81).
- 44.
- Es ist jedoch festzustellen, daß keines der von der Kommission vorgebrachten
Argumente ihre Untätigkeit in den betreffenden Zeiträumen rechtfertigen kann.
- 45.
- Im übrigen bestreitet die Kommission ihre Verpflichtung zum Tätigwerden nicht.
Zudem hat sie auf eine Frage des Gerichts bestätigt, daß zum Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung seit Eingang der Bemerkungen der Klägerin zum
Schreiben vom 19. Dezember 1997 keine konkrete Maßnahme bezüglich ihrer
Beschwerde gemäß Artikel 86 des Vertrages getroffen worden sei. Sie hat somit
eingeräumt, daß sie nach wie vor weder ein Verfahren gegen die Person eingeleitet
hat, gegen die sich die Beschwerde richtete, noch eine endgültige Entscheidung
über die Zurückweisung der Beschwerde erlassen hat. In der mündlichen
Verhandlung hat sie sogar eingeräumt, daß ihr Handeln im vorliegenden Fall nicht
„beeindruckend“ gewesen sei und daß offenkundig ein Verstoß gegen Artikel 175
des Vertrages vorliege.
- 46.
- Nach alledem befand sich die Kommission am 2. August 1998, als die Frist von
zwei Monaten nach Eingang der Aufforderung zum Tätigwerden vom 2. Juni 1998
ablief, im Zustand der Untätigkeit, da sie es unterlassen hat, ein Verfahren gegen
die Person einzuleiten, gegen die sich die am 7. Juli 1994 eingereichte Beschwerde
der Klägerin richtete, oder eine endgültige Entscheidung über die Zurückweisung
dieser Beschwerde zu erlassen.
- 47.
- Der Antrag auf Feststellung der Untätigkeit bezüglich Artikel 86 des Vertrages ist
somit begründet.
Zum Antrag, der Kommission eine Frist von einem Monat zum Tätigwerden
gemäß Artikel 176 des Vertrages zu setzen
Vorbringen der Parteien
- 48.
- In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin beantragt, der Kommission eine
Frist von einem Monat zu setzen, um gemäß Artikel 176 Absatz 1 des Vertrages
nach Urteilsverkündung die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Andernfalls
müßte eine weitere Klage gemäß Artikel 175 des Vertrages erhoben werden.
Dieser Antrag sei angesichts der allgemein gehaltenen Formulierung des dritten
Klageantrags zulässig.
- 49.
- Die Kommission bestreitet, daß das Gericht zur Auferlegung einer derartigen
Pflicht befugt sei.
Würdigung durch das Gericht
- 50.
- Dieser Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen. Das Gericht ist nämlich nicht
befugt, den Gemeinschaftsorganen Anweisungen zu erteilen (Beschluß des Gerichts
vom 12. November 1996 in der Rechtssache T-47/96, SDDDA/Kommission, Slg.
1996, II-1559, Randnr. 45). Folglich hat das Gericht gemäß Artikel 175 des
Vertrages nur die Möglichkeit, das Vorliegen einer rechtswidrigen Untätigkeit
festzustellen. Anschließend obliegt es gemäß Artikel 176 des Vertrages dem
betroffenen Organ, die sich aus dem Urteil des Gerichts ergebenden Maßnahmen
zu ergreifen.
Kosten
- 51.
- Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
- 52.
- Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend
dem Antrag der Klägerin deren Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Kommission hat gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag
verstoßen, indem sie es nach Eingang der Bemerkungen vom 2. Februar
1998 zur Mitteilung an die Klägerin gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr.
99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach
Artikel 19 Absätze (1) und (2) der Verordnung Nr. 17 des Rates unterlassen
hat, ein Verfahren gegen die Person einzuleiten, gegen die sich die am 7.
Juli 1994 eingereichte Beschwerde der Klägerin richtete, oder eine
endgültige Entscheidung über die Zurückweisung dieser Beschwerde zu
erlassen.
2. Im übrigen wird die Klage als unzulässig abgewiesen.
3. Die Kommission trägt die Kosten der Verfahrens.
Moura RamosTiili
Mengozzi
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. September 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
R. M. Moura Ramos