Language of document : ECLI:EU:T:2020:461

Verbundene Rechtssachen T479/11 und T157/12 RENV

Französische Republik und IFP Énergies nouvelles

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 5. Oktober 2020

„Staatliche Beihilfen – Erdölsuche – Von Frankreich durchgeführte Beihilferegelung – Unbeschränkte staatliche Garantie, die dem IFPEN durch die Verleihung des Status eines EPIC gewährt wird – Vorteil – Vermutung des Bestehens eines Vorteils – Verhältnismäßigkeit“

1.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Staatliche Garantie zugunsten eines Unternehmens, das nicht den gewöhnlichen Sanierungs- und Abwicklungsverfahren unterliegt – Nachweispflicht der Kommission hinsichtlich des Vorliegens eines Vorteils – Beurteilung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte – Vermutung eines Vorteils des durch die Garantie begünstigten Unternehmens in seinen Beziehungen zu Lieferanten und Kunden – Voraussetzungen – Vorherige Prüfung der Frage, ob Marktbedingungen vorliegen, die es rechtfertigen, von einem ähnlichen Vorteil auszugehen wie dem, den das begünstigte Unternehmen in seinen Beziehungen zu Kredit- und Finanzinstituten hat – Fehlen


(vgl. Rn. 74, 75, 82, 83, 87-92, 94-104)

2.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Staatliche Garantie zugunsten eines Unternehmens, das nicht den gewöhnlichen Sanierungs- und Abwicklungsverfahren unterliegt – Nachweis des Vorliegens eines Vorteils mittels der Vermutung der Verbesserung der finanziellen Position des Unternehmens – Widerlegung der Vermutung – Voraussetzungen – Nachweis des Fehlens eines tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteils in der Vergangenheit und in der Zukunft

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 77, 124-132, 140-151)

3.      Staatliche Beihilfen – Beschluss der Kommission – Beurteilung der Rechtmäßigkeit anhand der bei Erlass des Beschlusses verfügbaren Informationen

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 132, 133)

4.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Verpflichtungen der Kommission – Sorgfältige und unparteiische Prüfung – Berücksichtigung möglichst vollständiger und verlässlicher Informationen – Umfang der Verpflichtung

(Art. 107 und Art. 108 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 134-143)

5.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beschluss, mit dem die Beihilfe unter bestimmten Voraussetzungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 202-207)

Zusammenfassung

Das Institut français du pétrole, jetzt IFP Énergies nouvelles (im Folgenden: IFPEN) ist eine französische öffentlich-rechtliche Einrichtung mit den Aufgaben Forschung und Entwicklung, Ausbildung sowie Information und Dokumentation. Bis 2006 war das IFPEN eine juristische Person des Privatrechts, die der wirtschaftlichen und finanziellen Kontrolle der französischen Regierung unterlag. 2006 wurde das IFPEN in eine juristische Person des öffentlichen Rechts umgewandelt, nämlich in ein „établissement public à caractère industriel et commercial“ (öffentlich-rechtliche Einrichtung in den Bereichen Industrie und Handel, EPIC).

Die Europäische Kommission stellte 2011(1) fest, dass dem IFPEN mit der Verleihung dieses Status eine unbeschränkte staatliche Garantie für sämtliche Tätigkeiten gewährt worden sei. Sie folgerte daraus, dass die Absicherung der wirtschaftlichen Tätigkeiten des IFPEN (u. a. Technologietransfer und Auftragsforschung) durch diese Garantie eine staatliche Beihilfe darstelle. Die Kommission war nämlich zu der Einschätzung gelangt, dass das IFPEN durch die implizit gewährte unbeschränkte staatliche Garantie nicht nur in seinen Beziehungen zu Kredit- und Finanzinstituten, sondern auch in seinen Beziehungen zu Lieferanten und Kunden einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt habe. Dieser Vorteil sei selektiv, da für die Wettbewerber des IFPEN, die den allgemeinen Insolvenzverfahren unterlägen, keine vergleichbare staatliche Garantie bestehe. Die Kommission kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die auf diese Weise gewährte Beihilfe vorbehaltlich der Erfüllung bestimmter Bedingungen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden könne.

Die Französische Republik und das IFPEN erhoben beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses. Mit dem ursprünglichen Urteil vom 26. Mai 2016(2) hatte das Gericht den Klagen teilweise stattgegeben und den angefochtenen Beschluss für nichtig erklärt, soweit darin die mit dem Status des IFPEN als EPIC einhergehende Garantie als staatliche Beihilfe eingestuft worden war. In seinem ursprünglichen Urteil hatte das Gericht festgestellt, dass sich die Kommission zum Nachweis eines wirtschaftlichen Vorteils von IFPEN in seinen Beziehungen zu Lieferanten und Kunden nicht auf die durch den Gerichtshof(3) aufgestellte Vermutung habe berufen können, wonach einem EPIC durch die mit dessen Status implizit einhergehende unbeschränkte staatliche Garantie ein Vorteil verschafft werde. Das Gericht hatte ferner festgestellt, dass diese Vermutung, was die Beziehungen von IFPEN zu Kredit- und Finanzinstituten angehe, widerlegt sei, da das IFPEN in dem im angefochtenen Beschluss untersuchten Zeitraum keinen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteil in Form von günstigeren Finanzierungsbedingungen erlangt habe. Das Gericht hatte insoweit weiter festgestellt, dass die Vermutung, da sie für den maßgeblichen Zeitraum widerlegt sei, ohne eine wesentliche Änderung der Umstände, unter denen sie widerlegt worden sei, nicht für die Zukunft herangezogen werden könne.

Die Kommission beantragte beim Gerichtshof die Aufhebung des ursprünglichen Urteils. In seinem Rechtsmittelurteil(4) entschied der Gerichtshof, dass das Gericht die Tragweite der Vermutung eines wirtschaftlichen Vorteils nicht richtig beurteilt habe. Nach dem Urteil des Gerichtshofs genügt der bloße Umstand, dass der Begünstigte einer implizit gewährten unbeschränkten staatlichen Garantie in der Vergangenheit keinen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteil aus seinem Status als EPIC gezogen hat, für sich genommen nicht, um die Vermutung eines Vorteils zu widerlegen. Die einfache Vermutung kann nur widerlegt werden, soweit nachgewiesen wird, dass das EPIC in der Vergangenheit keinerlei tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteil aus der Garantie erlangt hat und aller Voraussicht nach auch in der Zukunft nicht erlangen wird. Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass das Gericht rechtsfehlerhaft entschieden hat, dass die Vermutung des Bestehens eines Vorteils nur für Beziehungen gelte, die mit einer Finanzierung zu tun hätten, wie etwa die Beziehungen zwischen dem EPIC und Kredit- und Finanzinstituten. Der Gerichtshof hat jedoch darauf hingewiesen, dass die Vermutung nicht automatisch auf die Beziehungen eines EPIC zu seinen Lieferanten und Kunden erweitert werden kann, ohne dass vorher geprüft wird, ob der Vorteil, den das EPIC daraus ziehen kann, angesichts des Verhaltens dieser Akteure auf dem Markt dem Vorteil ähnelt, den es aus seinen Beziehungen zu Kredit- und Finanzinstituten zieht, was zu überprüfen Sache der Kommission ist.

Mit seinem nach Zurückverweisung durch den Gerichtshof ergehenden Urteil vom 5. Oktober 2020 erklärt das Gericht den angefochtenen Beschluss teilweise für nichtig, weil in ihm das Vorliegen eines Vorteils, den das IFPEN in seinen Beziehungen zu Lieferanten und Kunden durch die staatliche Garantie erlangen konnte, nicht nachgewiesen wurde, weshalb die Bedingungen, die auferlegt wurden, um zu gewährleisten, dass die Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, als unverhältnismäßig eingestuft werden.

Das Gericht weist darauf hin, dass die Kommission, wenn sie sich auf die Vermutung eines Vorteils in den Beziehungen des EPIC zu seinen Lieferanten und Kunden stützen will, nach dem Rechtsmittelurteil des Gerichtshofs zu prüfen hat, ob das Verhalten der Lieferanten und Kunden auf dem Markt es rechtfertigt, von einem ähnlichen Vorteil auszugehen wie dem, der in den Beziehungen des EPIC zu Kredit- und Finanzinstituten vorliegt. Das Gericht stellt fest, dass die Kommission dies nicht vorher geprüft hat. Was zum einen die Beziehungen des IFPEN zu seinen Lieferanten angeht, räumt die Kommission ein, dass der angefochtene Beschluss nicht den Nachweis eines ähnlichen Vorteils wie dem, der in den Beziehungen des IFPEN zu Kredit- und Finanzinstituten vorliegt, enthält. Was zum anderen die Beziehungen des IFPEN zu seinen Kunden angeht, stellt das Gericht fest, dass die Kommission eine hypothetische Überlegung angestellt hat und dass sie keine vorherige Prüfung der wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen durchgeführt hat, die es rechtfertigen würde, in den Beziehungen des IFPEN zu seinen Kunden einen ähnlichen Vorteil für plausibel zu erachten wie den, der in den Beziehungen des IFPEN zu Kredit- und Finanzinstituten vorliegt. Das Gericht gelangt deshalb zu dem Schluss, dass die Kommission nicht den ihr obliegenden Nachweis erbracht hat, dass in den Beziehungen des IFPEN zu seinen Lieferanten und Kunden eine staatliche Beihilfe vorliegt. Die Verpflichtung des IFPEN, gegenüber der Kommission jährlich Angaben zu den bei Lieferanten beschafften Waren und zum Wert der von ihm mit seinen Kunden ausgeführten wirtschaftlichen Tätigkeiten zu machen, die auferlegt wurde, um die Vereinbarkeit der nicht nachgewiesenen Beihilfen mit dem Binnenmarkt zu überprüfen, ist daher weder geeignet noch erforderlich, um die mit den Regeln über staatliche Beihilfen verfolgten Ziele zu erreichen. Das Gericht gibt dem Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht wird, deshalb teilweise statt.

Hingegen gelangt das Gericht hinsichtlich der Beziehungen des IFPEN zu Kredit- und Finanzinstituten zu dem Schluss, dass die Kommission zu Recht angenommen hat, dass dem IFPEN durch die staatliche Garantie, die ihm aufgrund seines Status als EPIC zugutekam, insoweit ein wirtschaftlicher Vorteil verschafft wurde. Das Gericht führt hierzu aus, dass, auch wenn die Vermutung eines Vorteils für die Vergangenheit widerlegt wurde, es der Französischen Republik und dem IFPEN nicht gelungen ist, sie gemäß den Anforderungen des Rechtsmittelurteils für die Zukunft zu widerlegen, da ihr entsprechendes Vorbringen unzulässig ist. Es bezieht sich nämlich auf Informationen, die der Kommission im förmlichen Prüfverfahren hätten übermittelt werden müssen, und auf Informationen aus der Zeit nach Erlass des angefochtenen Beschlusses.


1      Beschluss 2012/26/EU der Kommission vom 29. Juni 2011 über die staatliche Beihilfe C 35/08 (ex NN 11/08) Frankreichs zugunsten des „Institut Français du Pétrole“ (ABl. 2012, L 14, S. 1) (im Folgenden: angefochtener Beschluss).


2      Urteil des Gerichts vom 26. Mai 2016, France und IFP Énergies nouvelles/Kommission, T‑479/11 und T‑157/12, EU:T:2016:320.


3      Urteil des Gerichtshofs vom 3. April 2014, Frankreich/Kommission, C‑559/12 P, EU:C:2014:217.


4      Urteil des Gerichtshofs vom 19. September 2018, Kommission/Frankreich und IFP Énergies nouvelles, C‑438/16 P, EU:C:2018:737.