Language of document : ECLI:EU:C:2022:831

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

27. Oktober 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Lebensmittelsicherheit – Lebensmittel – Verordnung (EU) Nr. 609/2013 – Art. 2 Abs. 2 Buchst. g – Delegierte Verordnung (EU) 2016/128 – Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke – Sonstiger medizinisch bedingter Nährstoffbedarf – Lebensmittel, die dem Patienten allgemein einen Nutzen verschaffen – Abgrenzung gegenüber Arzneimitteln“

In der Rechtssache C‑418/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Entscheidung vom 28. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juli 2021, in dem Verfahren

Orthomol pharmazeutische Vertriebs GmbH

gegen

Verband Sozialer Wettbewerb e. V.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún und der Richter, F. Biltgen, N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,


Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Orthomol pharmazeutische Vertriebs GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt M. Hagenmeyer,

–        des Verbands Sozialer Wettbewerb e. V., vertreten durch Rechtsanwalt H. Reinhardt,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch V. Karra und A. Zacheilas als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Vignato, Avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Galindo Martín und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom 12. Juni 2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke und Tagesrationen für gewichtskontrollierende Ernährung und zur Aufhebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG, 2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der Richtlinie 2009/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnungen (EG) Nr. 41/2009 und (EG) Nr. 953/2009 der Kommission (ABl. 2013, L 185, S. 35) und zum anderen die Auslegung der Delegierten Verordnung (EU) 2016/128 der Kommission vom 25. September 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die besonderen Zusammensetzungs- und Informationsanforderungen für Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (ABl. 2016, L 25 S. 30).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Orthomol pharmazeutische Vertriebs GmbH (im Folgenden: Orthomol) und dem Verband Sozialer Wettbewerb e. V. (im Folgenden: VSW) wegen der Vermarktung durch Orthomol von Erzeugnissen als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung Nr. 609/2013

3        Die Erwägungsgründe 9, 10, 12, 13, 15 und 25 der Verordnung Nr. 609/2013 lauten:

„(9)      Aus einem Bericht der Kommission vom 27. Juni 2008 an das Europäische Parlament und den Rat über die Durchführung des Notifizierungsverfahrens [nach der Richtlinie 2009/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind (ABl. 2009, L 124, S. 21)] geht hervor, dass es bei der Definition von ‚Lebensmitteln, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind‘, die durch nationale Behörden anscheinend unterschiedlich ausgelegt werden kann, zu Problemen kommen kann. Daher kam die Kommission zu dem Schluss, dass eine Überarbeitung der [Richtlinie 2009/39] erforderlich ist, um eine wirksamere und einheitlichere Durchführung der Unionsrechtsakte zu gewährleisten.

(10)      Die Schlussfolgerungen des Kommissionsberichts vom 27. Juni 2008 über die Durchführung des Notifizierungsverfahrens wurden in einem Untersuchungsbericht von Agra CEAS Consulting vom 29. April 2009 über die Überarbeitung der [Richtlinie 2009/39] bestätigt; außerdem wurde in dem Bericht darauf hingewiesen, dass aufgrund der breiten Begriffsbestimmung in dieser Richtlinie derzeit immer mehr Lebensmittel als für eine besondere Ernährung geeignet gekennzeichnet und vermarktet werden. In dem Bericht wurde auch betont, dass die Art der Lebensmittel, auf die diese Richtlinie angewandt wird, je nach Mitgliedstaat sehr unterschiedlich ist; ähnliche Lebensmittel könnten gleichzeitig in verschiedenen Mitgliedstaaten in Verkehr gebracht werden und in dem einen als Lebensmittel für eine besondere Ernährung und in dem anderen als Lebensmittel des allgemeinen Verzehrs, einschließlich Nahrungsergänzungsmitteln, für die allgemeine Bevölkerung oder aber für Untergruppen, beispielsweise für schwangere oder postmenopausale Frauen, ältere Erwachsene, Kinder im Wachstum, Jugendliche, unterschiedlich aktive Menschen usw. vermarktet werden. Durch diese Situation wird der Binnenmarkt gestört, es kommt zu Rechtsunsicherheit für die zuständigen Behörden, Lebensmittelunternehmer, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU), und Verbraucher; Marktmissbrauch und Wettbewerbsverzerrung können nicht ausgeschlossen werden. Es ist daher notwendig, durch eine Vereinfachung des rechtlichen Rahmens die Auslegungsunterschiede zu beseitigen.

(12)      Darüber hinaus zeigt die Erfahrung, dass bestimmte in der [Richtlinie 2009/39] enthaltene oder in ihrem Rahmen erlassene Vorschriften das Funktionieren des Binnenmarktes nicht mehr wirksam gewährleisten.

(13)      Daher sollte das Konzept ‚Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind‘ abgeschafft und die [Richtlinie 2009/39] durch den vorliegenden Rechtsakt ersetzt werden. Um die Anwendung des vorliegenden Rechtsakts zu vereinfachen und um die Einheitlichkeit der Anwendung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sollte für diesen Rechtsakt die Form einer Verordnung gewählt werden.

(15)      Eine begrenzte Zahl von Lebensmittelkategorien stellt die teilweise oder einzige Nahrungsquelle für bestimmte Bevölkerungsgruppen dar. Diese Lebensmittelkategorien sind für die Regulierung bestimmter Krankheitsbilder und/oder, um den Ernährungsanforderungen bestimmter eindeutig bezeichneter gefährdeter Bevölkerungsgruppen gerecht zu werden, unverzichtbar. Zu diesen Lebensmittelkategorien gehören Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung, Getreidebeikost und andere Beikost sowie Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Erfahrungsgemäß reichen die Bestimmungen der Richtlinien 1999/21/EG [der Kommission vom 25. März 1999 über diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (ABl. 1999, L 91, S. 29)], 2006/125/EG [der Kommission vom 5. Dezember 2006 über Getreidebeikost und andere Beikost für Säuglinge und Kleinkinder (ABl. 2006, L 339, S. 16)] und 2006/141/EG [der Kommission vom 22. Dezember 2006 über Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung (ABl. 2006, L 401, S. 1)] aus, um den freien Verkehr dieser Lebensmittelkategorien auf zufriedenstellende Weise zu gewährleisten und gleichzeitig ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu garantieren. Daher sollte der Schwerpunkt der vorliegenden Verordnung unter Berücksichtigung der [Richtlinien 1999/21, 2006/125 und 2006/141] auf den allgemeinen Zusammensetzungs- und Informationsanforderungen in Bezug auf diese Lebensmittelkategorien liegen.

(25)      Die Kennzeichnung, Aufmachung und Bewerbung von Lebensmitteln, die unter diese Verordnung fallen, sollten diesen Lebensmitteln keine Eigenschaften der Vorbeugung, Behandlung oder Heilung einer menschlichen Krankheit zuschreiben oder den Eindruck dieser Eigenschaften entstehen lassen. Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sind jedoch zum Diätmanagement von Patienten bestimmt, deren Fähigkeit beispielsweise zur Aufnahme gewöhnlicher Lebensmittel aufgrund einer spezifischen Krankheit oder Störung oder spezifischer Beschwerden eingeschränkt, behindert oder gestört ist. Der Hinweis auf Diätmanagement von Krankheiten, Störungen oder Beschwerden, für die das Lebensmittel bestimmt ist, sollte nicht als Zuschreibung einer Eigenschaft hinsichtlich der Vorbeugung, Behandlung oder Heilung einer menschlichen Krankheit gelten.“

4        Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2013 bestimmt:

„(1)      Mit dieser Verordnung werden Zusammensetzungs- und Informationsanforderungen bezüglich folgender Lebensmittelkategorien festgelegt:

a)      Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung;

b)      Getreidebeikost und andere Beikost;

c)      Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke;

d)      Tagesrationen für eine gewichtskontrollierende Ernährung.“

5        Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 enthält folgende Definition:

„‚Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke‘ [sind] unter ärztlicher Aufsicht zu verwendende Lebensmittel zum Diätmanagement von Patienten, einschließlich Säuglingen, die in spezieller Weise verarbeitet oder formuliert werden; sie sind zur ausschließlichen oder teilweisen Ernährung von Patienten mit eingeschränkter, behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte oder von Patienten mit einem sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf bestimmt …, für deren Diätmanagement die Modifizierung der normalen Ernährung allein nicht ausreicht“.

6        Art. 9 Abs. 1 und 5 der Verordnung Nr. 609/2013 sieht vor:

„(1)      Die Zusammensetzung der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Lebensmittel muss so beschaffen sein, dass sie gemäß allgemein anerkannten wissenschaftlichen Daten den Ernährungsanforderungen der Personen, für die sie bestimmt sind, entsprechen und für diese Personen geeignet sind.


(5)      Kennzeichnung und Aufmachung der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Lebensmittel sowie die Werbung dafür müssen Informationen über die angemessene Verwendung dieser Lebensmittel bieten und dürfen weder irreführend sein noch diesen Erzeugnissen Eigenschaften der Vorbeugung, Behandlung oder Heilung einer menschlichen Krankheit zuschreiben oder den Eindruck dieser Eigenschaft erwecken.“

 Delegierte Verordnung 2016/128

7        Die Erwägungsgründe 3 bis 5 der Delegierten Verordnung 2016/128 lauten:

„(3)      Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke werden in enger Zusammenarbeit mit Angehörigen der Gesundheitsberufe für die Ernährung von Patienten entwickelt, die an diagnostizierten spezifischen Krankheiten, Störungen oder Beschwerden, die es ihnen sehr schwer oder unmöglich machen, ihren Ernährungsbedarf durch den Verzehr anderer Lebensmittel zu decken, oder an einer dadurch hervorgerufenen Mangelernährung leiden. Daher sind Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke unter ärztlicher Aufsicht, gegebenenfalls mit Unterstützung anderer kompetenter Angehöriger der Gesundheitsberufe, zu verwenden.

(4)      Die Zusammensetzung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke kann stark variieren, beispielsweise je nach der Krankheit oder Störung bzw. den Beschwerden der Patienten, für deren Diätmanagement sie bestimmt sind, und je nach dem Alter der Patienten, dem Ort, an dem sie medizinisch behandelt werden, und dem Verwendungszweck des Erzeugnisses. Insbesondere können Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke in verschiedene Kategorien eingeordnet werden, je nachdem, ob es sich um Lebensmittel mit einer Standardformulierung oder einer für eine Krankheit, eine Störung oder bestimmte Beschwerden angepassten Nährstoffformulierung handelt, und je nachdem, ob sie die einzige Nahrungsquelle für die Personen darstellen, für die sie bestimmt sind.

(5)      Angesichts des breiten Spektrums an diesen Lebensmitteln, der Tatsache, dass sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ihnen zugrunde liegen, rasch weiterentwickeln, und der Notwendigkeit, hinreichende Flexibilität für die Entwicklung innovativer Erzeugnisse zu gewährleisten, ist es nicht angezeigt, detaillierte Vorschriften für die Zusammensetzung solcher Lebensmittelerzeugnisse festzulegen. Es ist jedoch wichtig, auf der Grundlage allgemein anerkannter wissenschaftlicher Daten spezifische Grundsätze und Anforderungen dafür festzulegen, um zu gewährleisten, dass sie sicher, nutzbringend und wirksam für die Personen sind, für die sie bestimmt sind.“

8        Art. 2 der Delegierten Verordnung 2016/128 lautet:

„(1)      Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke werden in folgende drei Kategorien unterteilt:

a)      diätetisch vollständige Lebensmittel mit einer Nährstoff-Standardformulierung, die bei Verwendung nach den Anweisungen des Herstellers die einzige Nahrungsquelle für die Personen, für die sie bestimmt sind, darstellen;

b)      diätetisch vollständige Lebensmittel mit einer für eine bestimmte Krankheit oder Störung oder für bestimmte Beschwerden spezifischen angepassten Nährstoffformulierung, die bei Verwendung nach den Anweisungen des Herstellers die einzige Nahrungsquelle für die Personen, für die sie bestimmt sind, darstellen können;

c)      diätetisch unvollständige Lebensmittel mit einer Standardformulierung oder einer für eine bestimmte Krankheit oder Störung oder für bestimmte Beschwerden spezifischen angepassten Nährstoffformulierung, die sich nicht für die Verwendung als einzige Nahrungsquelle eignen.

Die unter den Buchstaben a und b genannten Lebensmittel können auch eingesetzt werden, um die Ernährung der Patienten zu ergänzen oder teilweise zu ersetzen.

(2)      Die Formulierung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke muss auf vernünftigen medizinischen und diätetischen Grundsätzen beruhen. Sie müssen sich gemäß den Anweisungen des Herstellers sicher und nutzbringend verwenden lassen und wirksam sein in dem Sinne, dass sie den besonderen Ernährungsanforderungen der Personen, für die sie bestimmt sind, entsprechen, was durch allgemein anerkannte wissenschaftliche Daten zu belegen ist.

(3)      Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, die für die Ernährungsanforderungen von Säuglingen entwickelt wurden, müssen den Zusammensetzungsanforderungen des Anhangs I Teil A genügen.

Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, die nicht für die Ernährungsanforderungen von Säuglingen entwickelt wurden, müssen den Zusammensetzungsanforderungen des Anhangs I Teil B genügen.

(4)      Die Zusammensetzungsanforderungen des Anhangs I gelten für gebrauchsfertige Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, die als solche im Handel sind oder nach den Anweisungen des Herstellers zubereitet wurden.“

9        Art. 5 Abs. 2 Buchst. e und g der Delegierten Verordnung 2016/128 bestimmt:

„(2)      [Für] Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke [sind] folgende Angaben verpflichtend:

e)      der Hinweis ‚Zum Diätmanagement bei …‘, ergänzt durch die Krankheit, die Störung oder die Beschwerden, für die das Erzeugnis bestimmt ist;

g)      eine Beschreibung der Eigenschaften und/oder Merkmale, denen das Erzeugnis seine Zweckdienlichkeit in Bezug auf die Krankheit, die Störung oder die Beschwerden verdankt, für deren Diätmanagement es vorgesehen ist, gegebenenfalls, hinsichtlich der besonderen Verarbeitung und Formulierung, mit Angaben zu Nährstoffen, die vermehrt, vermindert, eliminiert oder auf andere Weise verändert wurden, sowie die Begründung für die Verwendung des Erzeugnisses“.

10      Art. 9 der Delegierten Verordnung 2016/128 sieht vor:

„Wird ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke in Verkehr gebracht, so übermittelt der Lebensmittelunternehmer den zuständigen Behörden aller Mitgliedstaaten, in denen das betreffende Erzeugnis in Verkehr gebracht wird, die Angaben, die auf dem Etikett erscheinen, indem er ihnen ein Muster des für das Erzeugnis verwendeten Etiketts übermittelt, sowie alle anderen Informationen[,] die die zuständige Behörde vernünftigerweise verlangen kann, um sich von der Einhaltung der vorliegenden Verordnung zu überzeugen, es sei denn, ein Mitgliedstaat befreit den Lebensmittelunternehmer im Rahmen einer nationalen Regelung, die eine wirksame amtliche Überwachung des betreffenden Erzeugnisses gewährleistet, von dieser Verpflichtung.“

 Richtlinie 2001/83/EG

11      Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. 2001, L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. 2004, L 136, S. 34) geänderten Fassung lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

2.      Arzneimittel:

a)      Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind, oder

b)      alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.“

 Verordnung Nr. 178/2002

12      Art. 2 („Definition von ‚Lebensmittel‘“) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. 2002, L 31, S. 1) lautet:

„Im Sinne dieser Verordnung sind ‚Lebensmittel‘ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.

Nicht zu ‚Lebensmitteln‘ gehören:

d)      Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG [des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (ABl. 1965, Nr. 22, S. 369)] und 92/73/EWG des Rates [vom 22. September 1992 zur Erweiterung des Anwendungsbereichs der Richtlinien 65/65/EWG und 75/319/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneimittel und zur Festlegung zusätzlicher Vorschriften für homöopathische Arzneimittel (ABl. 1992, L 297, S. 8)]“.

13      Die in der vorstehenden Randnummer genannten Richtlinien 65/65 und 92/73 wurden durch die Richtlinie 2001/83 kodifiziert.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

14      Orthomol ist ein pharmazeutisches Unternehmen, das die Erzeugnisse „Orthomol Immun“ und „Orthomol AMD extra“ als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke vermarktet. Es wirbt für diese Erzeugnisse mit dem Hinweis, das erste Erzeugnis diene der „ernährungsmedizinischen Unterstützung des Immunsystems“ und „zum Diätmanagement bei nutritiv bedingten Immundefiziten (z. B. bei rezidivierenden Atemwegsinfekten)“, und das zweite Erzeugnis diene „zum Diätmanagement bei fortgeschrittener altersabhängiger Makuladegeneration“ (im Folgenden: AMD).

15      VSW, ein Verband, zu dessen satzungsmäßigen Aufgaben u. a. die Einhaltung der Regeln des lauteren Wettbewerbs gehört, erhob gegen Orthomol Klage und beantragte, zu untersagen, die in Rede stehenden Erzeugnisse als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke in den Verkehr zu bringen.

16      Insoweit trug VSW vor, dass diese Erzeugnisse nicht die Anforderungen an eine solche Einordnung erfüllten. Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 definiere Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke anhand von zwei Fallgestaltungen, die auf die in Rede stehenden Erzeugnisse nicht zuträfen. So seien die Krankheiten, denen diese Erzeugnisse entgegenwirken sollten, nämlich das nutritiv bedingte Immundefizit und die AMD, keine Krankheiten, die zu einer eingeschränkten, behinderten oder gestörten Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte im Sinne der ersten in dieser Bestimmung genannten Fallgestaltung führten. Außerdem betreffe die zweite in Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 vorgesehene Fallgestaltung allein Krankheiten, die – wie Mukoviszidose, Tumorkachexie, schwere Wunden/Verbrennungen/Drucknekrosen – zu einem besonderen Energie- und Nährstoffbedarf führten, aber nicht Stoffe, die der Behandlung der Krankheit selbst dienten.

17      Das erstinstanzliche Gericht, das Landgericht Düsseldorf (Deutschland), gab der Klage mit der Begründung statt, dass es für die Einstufung eines Erzeugnisses als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke nicht ausreiche, dass die Nährstoffe positive Auswirkungen auf das Auftreten oder den Verlauf einer Krankheit in dem Sinne hätten, dass sie hälfen, ihr vorzubeugen, sie zu lindern oder sie zu heilen.

18      Orthomol legte gegen dieses Urteil beim Oberlandesgericht Düsseldorf (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.

19      Das vorlegende Gericht muss bestimmen, ob die Erzeugnisse „Orthomol Immun“ und „Orthomol AMD extra“ als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke eingestuft werden können. In diesem Rahmen möchte es wissen, wie dieser Begriff auszulegen ist. Es verweist darauf, dass der Bundesgerichtshof (Deutschland) die vor der Verordnung Nr. 609/2013 geltenden Rechtsvorschriften, d. h. die Richtlinie 1999/21 und die Richtlinie 2009/39, dahin ausgelegt habe, dass ein besonderer Ernährungszweck nicht nur dann vorliege, wenn ein medizinisch bedingtes Nährstoffdefizit bestünde, sondern auch dann, wenn durch die Nährstoffzufuhr auf andere Art und Weise Erkrankungen entgegengewirkt werden solle und der Verbraucher aus der kontrollierten Aufnahme bestimmter Nährstoffe besonderen Nutzen ziehen könne. Diese Rechtsprechung sei dahin gehend kommentiert worden, dass dadurch derartige Lebensmittel in den Rang eines „kleinen Arzneimittels“ gerückt worden seien.

20      Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob diese Auslegung im Rahmen der Verordnung Nr. 609/2013 aufrechterhalten werden kann. Aus der Entstehungsgeschichte und dem Wortlaut dieser Verordnung ergebe sich nämlich, dass Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke für Patienten entwickelt, bestimmt und geeignet sein müssten, deren Nährstoffbedarf aufgrund bestimmter Erkrankungen, Störungen oder spezifischer Beschwerden nicht durch den Verzehr normaler Lebensmittel gedeckt werden könne.

21      Da im vorliegenden Fall das nutritiv bedingte Immundefizit und die AMD Krankheiten darstellten, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Einstufung als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 voraussetzt, dass das Erzeugnis entwickelt worden ist, um einen besonderen Nährstoffbedarf zu decken, oder ob es ausreicht, dass dieses Erzeugnis dem Patienten allgemein einen Nutzen insoweit verschafft, als die darin enthaltenen Stoffe dazu beitragen, einer Krankheit vorzubeugen, sie zu lindern oder sie zu heilen.

22      Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Unter welchen Umständen liegt ein sonstiger medizinischer Nährstoffbedarf nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 vor,

nämlich: setzt dies – neben der in der 1. Alternative angesprochenen eingeschränkten, behinderten oder gestörten Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechselung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel – voraus, dass krankheitsbedingt ein erhöhter Nährstoffbedarf besteht, der durch das Lebensmittel gedeckt werden soll, oder reicht es aus, wenn der Patient allgemein aus der Aufnahme dieses Lebensmittels Nutzen zieht, weil darin enthaltene Stoffe der Störung entgegenwirken oder deren Symptome lindern?

2.      Für den Fall, dass die 1. Frage im Sinne der letztgenannten Alternative zu beantworten ist: Setzen „allgemein anerkannte wissenschaftliche Daten“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2016/128 in jedem Falle eine randomisierte, placebokontrollierte Doppelblindstudie voraus, die zwar nicht das fragliche Erzeugnis selbst betrifft, aber zumindest Ansatzpunkte für die angegebenen Wirkungen bietet?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

23      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 und insbesondere der Begriff „sonstiger medizinisch bedingter Nährstoffbedarf“ dahin auszulegen sind, dass es für die Einstufung eines Erzeugnisses als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke erforderlich ist, dass krankheitsbedingt ein erhöhter Nährstoffbedarf besteht, der durch das Lebensmittel gedeckt werden soll, oder ob es ausreicht, dass der Patient allgemein aus der Aufnahme dieses Lebensmittels Nutzen zieht, weil darin enthaltene Stoffe der Störung entgegenwirken oder deren Symptome lindern.

24      Bei der Auslegung dieser Vorschrift und insbesondere des Begriffs „sonstiger medizinisch bedingter Nährstoffbedarf“ sind bei der Bestimmung ihres Sinns und ihrer Tragweite nach ständiger Rechtsprechung nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 17. Dezember 2020, A. M. [Etikettierung kosmetischer Mittel], C‑667/19, EU:C:2020:1039, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Als Erstes ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013, dass Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zwei Merkmale aufweisen, anhand deren sie sich von anderen Kategorien von Erzeugnissen unterscheiden lassen. Zum einen sind sie Lebensmittel, die zur ausschließlichen oder teilweisen Ernährung von Patienten bestimmt sind, bei denen eine bestimmte Krankheit oder eine bestimmte Störung vorliegt bzw. bestimmte Beschwerden vorliegen. Zum anderen werden sie in spezieller Weise so verarbeitet oder formuliert, dass sie den sich aus dieser Krankheit, dieser Störung oder diesen Beschwerden ergebenden besonderen Ernährungsanforderungen entsprechen.

26      Somit ist zunächst festzustellen, dass Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke schon ihrer Bezeichnung nach Lebensmittel sind, die wesensgemäß zum menschlichen Verzehr und zur menschlichen Ernährung bestimmt sind.

27      Diese Funktion der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zur Ernährung wird durch den Umstand bestätigt, dass sie nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 zur „ausschließlichen oder teilweisen Ernährung“ bestimmter Patienten bestimmt sind, und zwar insbesondere der Patienten, die aufgrund ihrer Beschwerden „einen sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf“ haben.

28      Gleichwohl sind Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke keine gewöhnlichen Lebensmittel. Es handelt sich bei ihnen nämlich – wie aus ihrer Bezeichnung hervorgeht – um Lebensmittel „für besondere medizinische Zwecke“.

29      So ergibt sich aus Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 insbesondere, dass ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ein Lebensmittel ist, das zum besonderen Diätmanagement der Patienten „in spezieller Weise verarbeitet oder formuliert“ wird und nur unter ärztlicher Aufsicht zu verwenden ist.

30      Des Weiteren hat der Unionsgesetzgeber den Begriff „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ dadurch definiert, dass er zwei Arten von besonderen medizinischen Zwecken in Betracht gezogen hat, für die diese Lebensmittel bestimmt sein können.

31      Sie sind entweder für Patienten mit eingeschränkter, behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte bestimmt.

32      Oder sie sind für Patienten mit einem sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf bestimmt, für deren Diätmanagement die Modifizierung der normalen Ernährung allein nicht ausreicht.

33      Somit betrifft die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 zuerst in Betracht gezogene Fallgestaltung die Kategorien von Patienten, deren Aufnahme- oder Resorptionsprozess oder Stoffwechsel gestört ist. Die in dieser Bestimmung genannte zweite Fallgestaltung betrifft Patienten, die sich in einer besonderen physiologischen Verfassung befinden und folglich in Bezug auf die Zusammensetzung, Beschaffenheit oder Form von Lebensmitteln spezifische Bedürfnisse haben.

34      Das Erfordernis, dass das Lebensmittel hinsichtlich seiner Zusammensetzung, seiner Beschaffenheit oder seiner Form für die Ernährungsanforderungen angemessen ist, die durch eine Krankheit, eine Störung oder Beschwerden bedingt sind und denen es gerecht werden soll, schließt es jedoch aus, ein Erzeugnis allein deshalb als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke einzustufen, weil die Nährstoffe, aus denen es besteht, positive Auswirkungen in dem Sinne haben, dass sie dem Patienten allgemein einen Nutzen verschaffen und dazu beitragen, dessen Krankheit, Störung oder Beschwerden vorzubeugen, sie zu lindern oder sie zu heilen.

35      Denn zum einen müssen Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zwar so konzipiert sein, dass sie den durch eine Krankheit, eine Störung oder Beschwerden bedingten spezifischen Ernährungsanforderungen entsprechen, doch ergibt sich aus Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 keineswegs, dass es für die Einstufung als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ausreicht, dass ein Erzeugnis solche Auswirkungen hat und dem Patienten allgemein einen Nutzen verschafft.

36      Zum anderen veranschaulicht dieses Angemessenheitserfordernis den spezifischen Charakter der Ernährungsfunktion der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. So kann ein Erzeugnis, das dem Patienten zwar allgemein einen Nutzen verschafft oder – wie von Orthomol in Bezug auf die in Rede stehenden Erzeugnisse behauptet wird – durch Nährstoffzufuhr einer Krankheit, einer Störung oder Beschwerden entgegenwirkt, aber keine solche Ernährungsfunktion hat, nicht als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke eingestuft werden.

37      In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass sich Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sowohl von gewöhnlichen Lebensmitteln, die unter die Verordnung Nr. 178/2002 fallen, als auch von Arzneimitteln unterscheiden und dass für diese drei Kategorien von Erzeugnissen in Anbetracht ihrer besonderen Merkmale unterschiedliche Definitionen und rechtliche Regelungen gelten, die Ausschließlichkeitscharakter haben.

38      Insoweit unterscheiden sich die Merkmale und Funktionen der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke von denen der Arzneimittel, worunter nach Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen verstanden werden, die als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind, oder alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.

39      Aus Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 lässt sich nämlich nicht ableiten, dass Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, da sie zum Diätmanagement von Patienten bestimmt sind, dazu dienen, menschliche Krankheiten zu verhüten oder zu heilen, die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen.

40      Mithin ermöglichen es Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke als solche nicht, einer Krankheit, einer Störung oder Beschwerden entgegenzuwirken, aber sie lassen sich anhand ihrer spezifischen Ernährungsfunktion charakterisieren, so dass ein Erzeugnis, das nicht dazu bestimmt ist, eine solche Funktion zu erfüllen, nicht entsprechend eingestuft werden kann.

41      Wenn ein Patient aus der Aufnahme eines Erzeugnisses jedoch insoweit allgemein einen Nutzen zieht, als dessen Inhaltsstoffe dazu beitragen, einer Krankheit vorzubeugen, sie zu lindern oder sie zu heilen, dann zielt dieses Erzeugnis nicht darauf ab, diesen Patienten zu ernähren, sondern ihn zu heilen, einer Krankheit vorzubeugen oder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen, was dafür spricht, dieses Erzeugnis anders denn als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke einzustufen.

42      Als Zweites bestätigt der Zusammenhang, in den sich Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 einfügt, eine solche Auslegung dieser Bestimmung.

43      So heißt es im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 609/2013, dass Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke für bestimmte Bevölkerungsgruppen „die teilweise oder einzige Nahrungsquelle [darstellen]“ und „für die Regulierung bestimmter Krankheitsbilder und/oder, um den Ernährungsanforderungen … [dieser] Bevölkerungsgruppen gerecht zu werden, unverzichtbar“ sind.

44      Außerdem wird durch die Bestimmungen der Verordnung Nr. 609/2013 und der Delegierten Verordnung 2016/128, die die Zusammensetzung und Kennzeichnung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke betreffen, bestätigt, dass ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke den Ernährungsanforderungen notwendigerweise angemessen sein muss, die durch die Krankheit, die Störungen oder die Beschwerden bedingt sind und denen es gerecht werden soll.

45      Insoweit ist hervorzuheben, dass nach Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 609/2013 die Zusammensetzung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke so beschaffen sein muss, dass sie den Ernährungsanforderungen der Personen, für die sie bestimmt sind, entsprechen und für diese Personen geeignet sind.

46      So stellt Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 609/2013 klar, dass die Kennzeichnung und Aufmachung der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sowie die Werbung dafür diesen Lebensmitteln keine Eigenschaften der Vorbeugung, Behandlung oder Heilung einer menschlichen Krankheit zuschreiben dürfen.

47      Es wäre aber inkonsequent, wenn ein Erzeugnis mit der Begründung als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke eingestuft würde, dass der Patient allgemein aus der Aufnahme dieses Erzeugnisses Nutzen zieht, weil die darin enthaltenen Stoffe der Störung entgegenwirken oder deren Symptome lindern, und wenn zugleich untersagt würde, dies in der Kennzeichnung eines solchen Erzeugnisses anzugeben.

48      Das Erfordernis der Angemessenheit eines als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke eingestuften Erzeugnisses zu den Ernährungsanforderungen, die durch die Krankheit, die Störung oder die Beschwerden bedingt sind, denen das Lebensmittel gerecht werden soll, ergibt sich auch aus den Bestimmungen der Delegierten Verordnung 2016/128.

49      So verlangt Art. 2 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2016/128 mit seiner Definition der drei Kategorien von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke, dass sie in ihrer jeweiligen Zusammensetzung den Ernährungsanforderungen einer bestimmten Krankheit oder Störung oder bestimmter Beschwerden angepasst sind. Ebenso wird in Art. 2 Abs. 2 darauf hingewiesen, dass die Verwendung dieser Lebensmittel insbesondere in dem Sinne angepasst sein muss, dass sie den besonderen Ernährungsanforderungen der Personen, für die sie bestimmt sind, entspricht.

50      Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 Buchst. e und g der Delegierten Verordnung 2016/128, dass jedes Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zum einen die Angabe der Ernährungsanforderungen und der Krankheit, der Störung oder der Beschwerden, für die es bestimmt ist, und zum anderen eine Beschreibung der Eigenschaften und/oder Merkmale enthalten muss, denen das Erzeugnis seine Zweckdienlichkeit in Bezug auf die Krankheit, die Störung oder die Beschwerden verdankt, für deren Diätmanagement es vorgesehen ist.

51      Eine solche Angabe setzt voraus, dass die Ernährungsanforderungen identifiziert werden, die durch die Krankheit, die Störung oder die Beschwerden bedingt sind und denen das Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke entsprechen soll.

52      Das Erfordernis dieser Angabe bestätigt eindeutig, dass ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke den Ernährungsanforderungen entsprechen muss, die durch eine spezifische Krankheit, eine spezifische Störung oder spezifische Beschwerden bestimmt sind, und dass ein Erzeugnis, das dem Patienten allgemein einen Nutzen verschafft, grundsätzlich keine solchen Eigenschaften und Merkmale hat, da es nicht dazu dient, solchen besonderen Ernährungsanforderungen zu entsprechen. Daraus folgt, dass ein solches Erzeugnis aus diesem Grund nicht als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke eingestuft werden kann.

53      Als Drittes wird diese Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 durch die Ziele dieser Verordnung gestützt.

54      Wie sich aus den Erwägungsgründen 9 und 10 der Verordnung Nr. 609/2013 ergibt, soll sie nämlich u. a. den in der Richtlinie 2009/39 genannten Begriff „Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind“ klarstellen und eine einheitliche und angemessene Auslegung und Anwendung der verschiedenen Kategorien von Lebensmitteln, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, innerhalb der Union gewährleisten.

55      Ein solches Ziel setzt u. a. voraus, dass der Begriff „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ in Bezug auf bestimmte Erzeugnisse nicht so weit ausgelegt wird, dass es zu Überschneidungen mit anderen Kategorien von Erzeugnissen käme, für die im Unionsrecht Sonderregelungen gelten.

56      Mit einer Auslegung, der zufolge es für die Einstufung als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ausreichte, dass der Patient allgemein aus der Aufnahme eines Erzeugnisses Nutzen zöge, weil darin enthaltene Stoffe einer Störung entgegenwirkten oder deren Symptome linderten, würden die Besonderheiten der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke verkannt und insbesondere die Unterscheidung zwischen solchen Lebensmitteln und Arzneimitteln in Frage gestellt.

57      Würde so verfahren, so ließe sich ein Erzeugnis als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke einstufen, wenn es einer beim Patienten vorliegenden Krankheit oder Störung entgegenwirkt, obgleich es nicht den sich aus dieser Krankheit oder Störung ergebenden Ernährungsanforderungen entspricht, sondern unter die Regelung für Arzneimittel fällt, die das Inverkehrbringen solcher Erzeugnisse von einer Zulassung abhängig macht.


58      Folglich reicht der Umstand, dass ein Erzeugnis es ermöglicht, durch Nährstoffzufuhr einer Krankheit, einer Störung oder Beschwerden anderweitig entgegenzuwirken, nicht aus, um dieses Erzeugnis als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke einzustufen, wenn das fragliche Erzeugnis nicht dazu dient, den durch eine Krankheit, eine Störung oder Beschwerden bedingten besonderen Ernährungsanforderungen gerecht zu werden.

59      Nach alledem sind Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 609/2013 und insbesondere der Begriff „sonstiger medizinisch bedingter Nährstoffbedarf“ dahin auszulegen, dass ein Erzeugnis ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke darstellt, wenn krankheitsbedingt ein erhöhter oder spezifischer Nährstoffbedarf besteht, der durch das Lebensmittel gedeckt werden soll, so dass es für eine solche Einstufung nicht ausreicht, dass der Patient allgemein aus der Aufnahme dieses Lebensmittels deswegen Nutzen zieht, weil darin enthaltene Stoffe der Störung entgegenwirken oder deren Symptome lindern.

 Zur zweiten Frage

60      Angesichts der Antwort auf die erste Vorlagefrage erübrigt sich eine Beantwortung der zweiten Vorlagefrage.

 Kosten

61      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke und Tagesrationen für gewichtskontrollierende Ernährung und zur Aufhebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG, 2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der Richtlinie 2009/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnungen (EG) Nr. 41/2009 und (EG) Nr. 953/2009 des Rates und der Kommission und insbesondere der Begriff „sonstiger medizinisch bedingter Nährstoffbedarf“

sind dahin auszulegen, dass

ein Erzeugnis ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke darstellt, wenn krankheitsbedingt ein erhöhter oder spezifischer Nährstoffbedarf besteht, der durch das Lebensmittel gedeckt werden soll, so dass es für eine solche Einstufung nicht ausreicht, dass der Patient allgemein aus der Aufnahme dieses Lebensmittels deswegen Nutzen zieht, weil darin enthaltene Stoffe der Störung entgegenwirken oder deren Symptome lindern.

Prechal

Arastey Sahún

Biltgen

Wahl

 

Passer

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. Oktober 2022.

Der Kanzler

 

Die Kammerpräsidentin

A. Calot Escobar

 

A. Prechal


*      Verfahrenssprache: Deutsch.