Language of document : ECLI:EU:C:2018:660

Rechtssache C57/16 P

ClientEarth

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Zugang zu Dokumenten der Organe der Europäischen Union – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 – Folgenabschätzungsbericht, Entwurf eines Folgenabschätzungsberichts und Stellungnahme des Ausschusses für Folgenabschätzung – Gesetzesinitiativen in Umweltangelegenheiten – Verweigerung des Zugangs – Verbreitung der angeforderten Dokumente im Laufe des Verfahrens – Fortbestand des Rechtsschutzinteresses – Ausnahme zum Schutz des laufenden Entscheidungsprozesses eines Unionsorgans – Allgemeine Vermutung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 4. September 2018

1.        Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsschutzinteresse – Klage gegen einen Beschluss eines Organs, mit dem der Zugang zu Dokumenten verweigert wird – Übermittlung der angeforderten Dokumente durch das Organ im Laufe des Gerichtsverfahrens, ohne den ablehnenden Beschluss zurückzunehmen – Fortbestand des Rechtsschutzinteresses

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

2.        Rechtsmittel – Rechtsschutzinteresse – Voraussetzung – Rechtsmittel, das geeignet ist, dem Rechtsmittelführer einen Vorteil zu verschaffen – Rechtsmittel, mit dem ein Urteil des Gerichts zum Zugang zu Dokumenten angefochten wird, um zu verhindern, dass zukünftig weitere rechtswidrige Beschlüsse der Organe ergehen

(Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 149 und 190 Abs. 1)

3.        Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Enge Auslegung und Anwendung – Verpflichtung des Organs zu einer konkreten und individuellen Prüfung der Dokumente – Umfang – Ausschluss der Verpflichtung – Möglichkeit, sich auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten – Grenzen

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2)

4.        Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Verpflichtung, legislative Dokumente unmittelbar zugänglich zu machen – Begriff des legislativen Dokuments – Folgenabschätzungen der Kommission zur Vorbereitung von Gesetzesinitiativen – Einbeziehung

(Art. 10 Abs. 3 EUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, sechster Erwägungsgrund und Art. 12 Abs. 2)

5.        Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Antrag auf Zugang zu Umweltinformationen – Verordnung Nr. 1367/2006 – Geltungsbereich – Folgenabschätzungen der Kommission zur Vorbereitung von Gesetzesinitiativen in Umweltangelegenheiten – Einbeziehung

(Verordnung Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 und 2 Abs. 1 Buchst. d und v)

6.        Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Entscheidungsprozesses – Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten, die im Rahmen der Folgenabschätzungen der Kommission in Bezug auf einen laufenden Entscheidungsprozess in Umweltangelegenheiten erstellt wurden – Möglichkeit, sich auf die allgemeine Vermutung des Eingreifens der Ausnahme vom Zugangsrecht zu stützen – Ausschluss

(Art. 11 Abs. 2 EUV und 17 Abs. 1 bis 3 EUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, sechster Erwägungsgrund und Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1)

7.        Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Entscheidungsprozesses – Geltungsbereich – Vorläufige Dokumente

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1)

1.      Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage muss ebenso wie das Rechtsschutzinteresse auch der Streitgegenstand bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen – andernfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt –, was voraussetzt, dass die Klage der Partei, die sie erhoben hat, oder gegebenenfalls das Rechtsmittel der Partei, die es eingelegt hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann.

Bei einer Klage gegen Beschlüsse der Kommission, mit denen der Zugang zu Dokumenten verweigert wird, fällt der Gegenstand des Rechtsstreits nicht weg, wenn die Kommission die streitigen Beschlüsse, obwohl sie die verschiedenen vom Zugangsantrag erfassten Dokumente im Laufe des Verfahrens übermittelt hat, nicht zurückgenommen hat.

(vgl. Rn. 43, 45)

2.      Ein Kläger kann in bestimmten Fällen ein Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung und gegebenenfalls an der Aufhebung des Urteils des Gerichts, mit dem die Klage gegen diese Handlung abgewiesen wurde, behalten, um den Urheber der Handlung zu veranlassen, sie für die Zukunft in geeigneter Weise zu ändern, und um somit das Risiko zu vermeiden, dass sich die Rechtswidrigkeit, die der fraglichen Handlung anhaften soll, wiederholt. Der Fortbestand dieses Interesses setzt voraus, dass sich der Rechtsverstoß unabhängig von den besonderen Umständen der in Rede stehenden Rechtssache in Zukunft wiederholen kann.

Das ist der Fall bei einem Rechtsmittel gegen ein Urteil des Gerichts, mit dem dieses eine allgemeine Vermutung für die Vertraulichkeit von angeforderten Dokumenten anerkannt hat, die im Rahmen der Vorbereitung einer laufenden Folgenabschätzung erstellt wurden, da zum einen das betreffende Organ eine solche Vermutung zukünftig bei neuen Anträgen auf Zugang zu solchen Dokumenten wieder anwenden kann und es zum anderen wahrscheinlich ist, dass der Kläger als eine Einrichtung ohne Gewinnerzielungsabsicht, deren Aufgabe u. a. darin besteht, sich um mehr Transparenz und Legitimität des Gesetzgebungsverfahrens der Union zu bemühen, zukünftig erneut Zugang zu ähnlichen Dokumenten wie den streitigen beantragen wird und das betreffende Organ diesen Antrag wieder auf der Grundlage dieser allgemeinen Vermutung ablehnen wird.

(vgl. Rn. 48, 53, 54)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 78-80)

4.      Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission sollte ein umfassenderer Dokumentenzugang in den Fällen gewährt werden, in denen die Unionsorgane als Gesetzgeber tätig sind. Die Möglichkeit für die Bürger, alle Informationen zu überprüfen und zu kennen, auf deren Grundlage die Gesetzgebungstätigkeit der Union erfolgt, ist nämlich eine Voraussetzung dafür, dass sie ihre u. a. in Art. 10 Abs. 3 EUV anerkannten demokratischen Rechte effektiv ausüben können. Die Ausübung dieser Rechte setzt nicht nur voraus, dass die Bürger über die betreffenden Informationen verfügen, um die Entscheidungen der Unionsorgane im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu verstehen, sondern auch, dass sie rechtzeitig Zugang zu diesen Informationen haben können, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie zu den Entscheidungen sachgerecht Stellung nehmen können.

Art. 12 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001, mit dem der aus dem sechsten Erwägungsgrund dieser Verordnung hervorgehende Grundsatz umgesetzt wird, ist zu entnehmen, dass nicht nur die vom Unionsgesetzgeber erlassenen Rechtsakte als „legislative Dokumente“ anzusehen und daher vorbehaltlich der Art. 4 und 9 der Verordnung direkt zugänglich zu machen sind, sondern allgemeiner auch die Dokumente, die im Laufe der Verfahren zur Annahme von Rechtsakten, die in den oder für die Mitgliedstaaten rechtlich bindend sind, erstellt wurden oder eingegangen sind.

Zu den legislativen Dokumenten im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001 gehören ihrem Gegenstand und ihrem Inhalt nach Folgenabschätzungen, die zur Vorbereitung von Gesetzesinitiativen der Kommission durchgeführt wurden. Solche Folgenabschätzungen sind nämlich nach den Leitlinien zur Folgenabschätzung Schlüsselinstrumente zur Gewährleistung dafür, dass die Initiativen der Kommission und die Rechtsvorschriften der Union auf der Grundlage transparenter, vollständiger und ausgewogener Informationen ausgearbeitet werden. Anhand dieser Informationen kann die Kommission die Zweckmäßigkeit, die Notwendigkeit, die Natur und den Inhalt solcher Initiativen beurteilen. Die Folgenabschätzungsberichte enthalten insbesondere eine Darstellung der verschiedenen erwogenen politischen Optionen, eine Analyse der Auswirkungen, der Vor- und Nachteile dieser Optionen sowie einen Vergleich der Optionen. Die in den Gesetzesvorschlägen der Kommission getroffenen politischen Entscheidungen stützen sich auf den Inhalt dieser Folgenabschätzungen. Daraus folgt, dass die Folgenabschätzungsberichte und die sie begleitenden Stellungnahmen des Ausschusses für Folgenabschätzung in einem solchen Kontext Informationen enthalten, die wichtige Bestandteile des Gesetzgebungsverfahrens der Union sind und zur Grundlage der Gesetzgebungstätigkeit der Union gehören. Auch wenn es in der Phase der Folgenabschätzung unsicher ist, ob die Kommission einen Gesetzesvorschlag unterbreiten wird, kann die Verbreitung dieser Dokumente zu einer größeren Transparenz und Offenheit des gesamten Gesetzgebungsverfahrens und insbesondere der vorbereitenden Phasen dieses Verfahrens beitragen und auf diese Weise den demokratischen Charakter der Union stärken, indem sie den Unionsbürgern die Möglichkeit gibt, diese Informationen zu überprüfen und zu versuchen, das Gesetzgebungsverfahren zu beeinflussen.

Im Übrigen wird die Bedeutung der Möglichkeit für die Bürger, auch dann Zugang zu den im Rahmen einer Folgenabschätzung erstellten Dokumenten zu erhalten, wenn der Entscheidungsprozess der Kommission noch nicht abgeschlossen ist, nicht dadurch in Frage gestellt, dass ein Antragsteller eventuell die Möglichkeit hatte, an den von der Kommission im Rahmen der Folgenabschätzungsverfahren durchgeführten öffentlichen Konsultationen teilzunehmen, und dass eine Reihe von zu diesen Folgenabschätzungen gehörenden Dokumenten bereits zum Zeitpunkt der Annahme eines Beschlusses über die Verweigerung des Zugangs öffentlich verfügbar war. Auch wenn solche Konsultationen ebenfalls die Transparenz des Entscheidungsprozesses der Kommission und die Teilnahme der Bürger an diesem Prozess gewährleisten sollen, ersetzen sie nicht die Möglichkeit für die Bürger, auf Antrag Zugang zu den Folgenabschätzungsberichten und Stellungnahmen des Ausschusses für Folgenabschätzung zu erhalten.

(vgl. Rn. 84, 85, 90-94)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 96-98)

6.      Die Kommission muss zwar gemäß Art. 17 Abs. 1 bis 3 EUV in völliger Unabhängigkeit und ausschließlich im allgemeinen Interesse handeln, wenn sie Folgenabschätzungen vornimmt, doch ist das Folgenabschätzungsverfahren keine Verfahrensart, die als solche Merkmale aufwiese, aufgrund deren grundsätzlich keine uneingeschränkte Transparenz gewährt werden könnte. Im Gegenteil wird das Verfahren mit dem Ziel der Transparenz und der Offenlegung des Entscheidungsprozesses der Kommission durchgeführt. Dies gilt umso mehr, wenn das Verfahren Teil eines Gesetzgebungsverfahrens in Umweltangelegenheiten ist. Transparenz gewährleistet zudem die Glaubwürdigkeit der Tätigkeit der Kommission in den Augen der Bürger und betreffenden Organisationen, indem sie die Legitimität des Entscheidungsprozesses der Kommission stärkt, und trägt damit gerade dazu bei, dass die Kommission in völliger Unabhängigkeit und ausschließlich im allgemeinen Interesse handelt. Es ist eher das Fehlen von Information der Öffentlichkeit und Diskussion, das Zweifel hervorrufen kann, ob die Kommission ihre Aufgaben in völliger Unabhängigkeit und ausschließlich im allgemeinen Interesse wahrnimmt.

Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass im Fall der Verbreitung von Folgenabschätzungsberichten und Stellungnahmen des Ausschusses für Folgenabschätzung zu diesen Berichten, bevor die Kommission einen Beschluss über einen etwaigen Vorschlag gefasst hat, Dritte versuchen, auf die von der Kommission zu treffenden politischen Entscheidungen Einfluss zu nehmen oder Druck auszuüben, oder dass Interessengruppen, die während der von der Kommission im Rahmen der Folgenabschätzungsverfahren durchgeführten öffentlichen Konsultation Erklärungen eingereicht haben, zu den von der Kommission erwogenen Optionen und Fällen neue Stellungnahmen oder kritische Anmerkungen einreichen. Das Unionsrecht schreibt der Kommission jedoch grundsätzlich nicht vor, solche Dialoge in Einzelfällen zu führen. Art. 11 Abs. 2 EUV sieht zwar insoweit vor, dass die Unionsorgane einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft pflegen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kommission auf etwaige Anmerkungen, die sie nach der Verbreitung eines Dokuments auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission erhält, in jedem Einzelfall inhaltlich eingehen müsste. Zudem sind die Äußerungen der Öffentlichkeit oder von Interessengruppen zu den Entscheidungen und politischen Optionen, die von der Kommission im Rahmen ihrer Initiativen, insbesondere ihrer Gesetzesinitiativen in Umweltangelegenheiten, getroffen bzw. erwogen werden, bevor sie einen Beschluss über die geplante Initiative fasst, fester Bestandteil der Ausübung der demokratischen Rechte der Unionsbürger.

Daraus folgt, dass die Kommission zwar über einen Raum für Überlegungen verfügen muss, um einen Beschluss über die zu treffenden politischen Entscheidungen und die eventuell zu unterbreitenden Vorschläge fassen zu können, doch ist nicht anzunehmen, dass der Schutz des Initiativrechts der Kommission und die Bewahrung ihrer Möglichkeit, dieses Recht in völliger Unabhängigkeit und ausschließlich im allgemeinen Interesse auszuüben, grundsätzlich verlangten, dass die im Rahmen einer Folgenabschätzung erstellten Dokumente in der Regel vertraulich bleiben könnten, bis die Kommission einen solchen Beschluss gefasst habe.

(vgl. Rn. 103, 104, 106-109)

7.      Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission betrifft den Zugang zu Dokumenten für den internen Gebrauch, die sich auf eine Angelegenheit beziehen, in der das Unionsorgan noch keinen Beschluss gefasst hat. Weder nach ihrem Wortlaut noch aufgrund des von ihr geschützten Interesses schließt diese Bestimmung eine Beantragung des Zugangs zu vorläufigen Dokumenten aus. Die Vorläufigkeit als solche kann nicht allgemein und unabhängig von einer konkreten und individuellen Prüfung jedes einzelnen angeforderten Dokuments den Nachweis für die Gefahr einer ernstlichen Beeinträchtigung des Entscheidungsprozesses der Kommission liefern. Eine solche Beeinträchtigung hängt nämlich von Faktoren wie dem Bearbeitungsstand des fraglichen Dokuments, dem genauen Stand des Entscheidungsprozesses zu dem Zeitpunkt, zu dem der Zugang zu diesem Dokument verweigert wird, dem spezifischen Kontext dieses Prozesses sowie den Fragen ab, die noch innerhalb des betreffenden Organs zu diskutieren sind.

(vgl. Rn. 111)