Language of document : ECLI:EU:C:2024:572

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

4. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 13 – Stillhalteklausel – Anwendungsbereich – Begriff ‚neue Beschränkung‘ – Nationale Regelung, mit der restriktivere Voraussetzungen für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis eingeführt werden“

In der Rechtssache C‑375/23 [Meislev](i)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Højesteret (Oberstes Gericht, Dänemark) mit Entscheidung vom 6. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juni 2023, in dem Verfahren

EN

gegen

Udlændingenævnet

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter) sowie der Richter N. Wahl und J. Passer,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von EN, vertreten durch C. Friis Bach Ryhl und T. Ryhl, Advokater,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch J. F. Kronborg und C. Maertens als Bevollmächtigte im Beistand von R. Holdgaard, Advokat,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch O. Glinicka, B.‑R. Killmann und C. Vang als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem türkischen Staatsangehörigen EN und dem Udlændingenævn (Beschwerdeausschuss für Ausländer, Dänemark), der den Antrag von EN auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in Dänemark abgelehnt hatte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Assoziierungsabkommen

3        Nach Art. 2 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Assoziierungsabkommen), hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.

4        Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase, die es der Republik Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Art. 3), eine Übergangsphase, in der die Vertragsparteien die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung ihrer Wirtschaftspolitiken gewährleisten (Art. 4), und eine auf der Zollunion beruhende Endphase vor, die eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Vertragsparteien einschließt (Art. 5).

5        In Art. 6 des Assoziierungsabkommens heißt es:

„Um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die ihm in dem [Assoziierungsabkommen] zugewiesen sind.“

6        Der zu Titel II („Durchführung der Übergangsphase“) des Assoziierungsabkommens gehörende Art. 8 bestimmt:

„Zur Verwirklichung der in Artikel 4 genannten Ziele bestimmt der Assoziationsrat vor Beginn der Übergangsphase nach dem in Artikel 1 des Vorläufigen Protokolls geregelten Verfahren die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Durchführung der Bestimmungen bezüglich der einzelnen Sachbereiche des [EG-Vertrags], die zu berücksichtigen sind; dies gilt insbesondere für die in diesem Titel enthaltenen Sachbereiche sowie für Schutzklauseln aller Art, die sich als zweckmäßig erweisen.“

7        Art. 9 des Assoziierungsabkommens sieht vor:

„Die Vertragsparteien erkennen an, dass für den Anwendungsbereich des Abkommens unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die möglicherweise auf Grund von Artikel 8 noch erlassen werden, dem in Artikel 7 des [EG-Vertrags] verankerten Grundsatz entsprechend jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist.“

8        Der zu Kapitel 3 („Sonstige Bestimmungen wirtschaftlicher Art“) von Titel II des Assoziierungsabkommens gehörende Art. 12 bestimmt:

„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [45], [46] und [47 AEUV] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.“

 Zusatzprotokoll

9        Das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnete und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. 1972, L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Zusatzprotokoll (im Folgenden: Zusatzprotokoll), das nach seinem Art. 62 Bestandteil des Assoziierungsabkommens ist, legt nach Art. 1 „die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Art. 4 des Abkommens … genannten Übergangsphase“ fest.

10      Es enthält einen Titel II („Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“), dessen Kapitel I „Arbeitskräfte“ und dessen Kapitel II „Niederlassungsrecht, Dienstleistungen und Verkehr“ betrifft.

11      Art. 41 des Zusatzprotokolls, der in diesem Kapitel II enthalten ist, sieht vor:

„(1)      Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.

(2)      Der Assoziationsrat setzt nach den Grundsätzen der Artikel 13 und 14 des Assoziierungsabkommens die Zeitfolge und die Einzelheiten fest, nach denen die Vertragsparteien die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs untereinander schrittweise beseitigen.

…“

 Beschluss Nr. 1/80

12      Wie aus dem dritten Erwägungsgrund des Beschlusses Nr. 1/80 hervorgeht, soll dieser im sozialen Bereich zugunsten der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu einer besseren als der mit dem Beschluss Nr. 2/76 des Assoziationsrates vom 20. September 1976 eingeführten Regelung führen.

13      Kapitel II („Soziale Bestimmungen“) des Beschlusses Nr. 1/80 enthält einen Abschnitt 1 („Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer“), der die Art. 6 bis 16 des Beschlusses umfasst.

14      Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 sieht vor:

„(1)      Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

–        nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

–        nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

–        nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

(3)      Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt.“

15      Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:

„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“

16      Nach Art. 16 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sind die Bestimmungen des Abschnitts 1 von Kapitel II ab 1. Dezember 1980 anwendbar.

 Dänisches Recht

17      In § 11 des Udlændingelov (Ausländergesetz) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung, die sich aus der Gesetzesbekanntmachung Nr. 412 vom 9. Mai 2016 und späteren Änderungen ergibt (im Folgenden: Ausländergesetz) heißt es:

„(1)      Die Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 7-9f, 9i-9n oder 9p wird mit der Möglichkeit eines unbefristeten Aufenthalts oder für einen vorübergehenden Aufenthalt in Dänemark erteilt. Die Aufenthaltserlaubnis kann befristet werden.

(3)      Sofern die Aufenthaltserlaubnis nicht gemäß § 19 zu entziehen ist, kann ein Ausländer, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, unter den folgenden Voraussetzungen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis beantragen und erhalten:

1.      Vorbehaltlich des Abs. 7 muss sich der Ausländer – außer in den Fällen der Abs. 5 und 6 – seit mindestens sechs Jahren rechtmäßig in Dänemark aufhalten und während dieses gesamten Zeitraums über eine nach den §§ 7-9f, 9i-9n oder 9p erteilte Aufenthaltserlaubnis verfügt haben. …

(8)      Der Ausländer muss eine Vollzeitbeschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit (siehe Abs. 8) für mindestens zwei Jahre und sechs Monate innerhalb der letzten drei Jahre vor der Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ausgeübt haben.

(5)      Sofern die Aufenthaltserlaubnis nicht gemäß § 19 zu entziehen ist, kann einem Ausländer, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, sich mindestens vier Jahre lang rechtmäßig in Dänemark aufgehalten hat und während dieses Zeitraums über eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 7-9f, 9i-9n oder 9p verfügt hat, auf Antrag eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er die Voraussetzungen nach Abs. 3 Nrn. 2 bis 9 und Abs. 4 erfüllt. …

(16)      Auch wenn die Voraussetzungen des Abs. 3 Nrn. 4 bis 9 oder Abs. 4 Nrn. 1 bis 4 nicht erfüllt sind, kann einem Ausländer, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Erfüllung dieser Voraussetzungen gemäß den internationalen Verpflichtungen Dänemarks, einschließlich des [Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde (ABl. 2010, L 23, S. 35)], nicht verlangt werden kann.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Am 24. Mai 2013 wurde dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, einem türkischen Staatsangehörigen, wegen seiner Eheschließung mit einer im dänischen Hoheitsgebiet wohnhaften dänischen Staatsangehörigen eine befristete Aufenthaltserlaubnis in Dänemark erteilt, die mit Entscheidung der Udlændingestyrelsen (Ausländerbehörde, Dänemark) vom 15. Oktober 2020 bis zum 15. Oktober 2026 verlängert wurde.

19      Am 27. März 2017 stellte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, der in Dänemark den Status eines Arbeitnehmers hatte und daher in den Anwendungsbereich des Assoziierungsabkommens und des Beschlusses Nr. 1/80 fiel, bei der Ausländerbehörde einen Antrag auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in Dänemark.

20      Mit Bescheid vom 10. November 2017 lehnte die Ausländerbehörde diesen Antrag mit der Begründung ab, der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens erfülle weder die Voraussetzung eines rechtmäßigen Aufenthalt in Dänemark während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens sechs Jahren gemäß § 11 Abs. 3 Nr. 1 des Ausländergesetzes, noch die in § 11 Abs. 5 des Ausländergesetzes vorgesehenen besonderen Voraussetzungen, um nach vier Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in Dänemark eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.

21      Am 14. November 2017 legte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens gegen diesen Bescheid beim Beschwerdeausschuss für Ausländer Beschwerde ein. Mit Entscheidung vom 18. Juli 2018 bestätigte dieser Ausschuss den Bescheid der Ausländerbehörde mit der Begründung, dass der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens die im Ausländergesetz vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfülle.

22      Am 15. Oktober 2018 erhob der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens beim Københavns byret (Gericht Kopenhagen, Dänemark) Klage auf Aufhebung dieser Entscheidung.

23      Mit Beschluss vom 31. März 2020 verwies dieses Gericht die Rechtssache an das Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark), das mit Entscheidung vom 2. Februar 2022 dem auf Abweisung der Beschwerde gerichteten Antrag des Beschwerdeausschusses für Ausländer stattgab.

24      Am 1. März 2022 legte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens beim Højesteret (Oberstes Gericht, Dänemark), dem vorlegenden Gericht, ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein.

25      Dieses Gericht führt aus, damit eine Maßnahme als „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eingestuft werden könne, müsse sie bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in dem betreffenden Mitgliedstaat restriktiveren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen werde, die für ihn bei Inkrafttreten dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat gegolten hätten (Urteil vom 22. Dezember 2022, Udlændingenævnet [Für Ausländer vorgeschriebene Sprachprüfung], C‑279/21, EU:C:2022:1019, Rn. 30).

26      Der Gerichtshof habe zwar entschieden, dass die im Rahmen der Art. 45 bis 47 AEUV geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden müssten, die durch die Assoziation EWG-Türkei zuerkannte Rechte besäßen (Urteile vom 6. Juni 1995, Bozkurt, C‑434/93, EU:C:1995:168, Rn. 19 und 20, sowie vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 66). Das umfassendere Ziel der Erleichterung der Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, auf das die Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77), würde jedoch in Bezug auf den Beschluss Nr. 1/80 fehlen (Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 68).

27      Auch wenn der Gerichtshof im Übrigen bereits anerkannt habe, dass Änderungen der Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen in den Anwendungsbereich von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 fielen, sofern sie die Rechtslage von türkischen Arbeitnehmern beträfen (Urteil vom 9. Dezember 2010, Toprak und Oguz, C‑300/09 und C‑301/09, EU:C:2010:756, Rn. 44), habe er sich bisher noch nicht dazu geäußert, ob eine nationale Regelung, die restriktivere Voraussetzungen für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis als diejenigen vorsehe, die bei Inkrafttreten dieses Beschlusses in diesem Mitgliedstaat gegolten hätten, eine „neue Beschränkung“ im Sinne des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstelle.

28      Sollte dies der Fall sein, fragt sich das vorlegende Gericht, ob eine solche Beschränkung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann. Der Gerichtshof habe anerkannt, dass das von der dänischen Regierung geltend gemachte Ziel der Gewährleistung einer erfolgreichen Integration der Drittstaatsangehörigen im betreffenden Mitgliedstaat im Hinblick auf den Beschluss Nr. 1/80 einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen könne (Urteil vom 12. April 2016, Genc, C‑561/14, EU:C:2016:247, Rn. 56). Der Gerichtshof habe jedoch bisher keinen Anlass gehabt, zu beurteilen, ob Voraussetzungen in Bezug auf die Dauer des vorherigen Aufenthalts und der vorherigen Beschäftigung eines türkischen Arbeitnehmers in dem betreffenden Mitgliedstaat, an die die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis geknüpft sei, als geeignet angesehen werden könnten, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten.

29      Unter diesen Umständen hat das Højesteret (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Fallen nationale Bestimmungen, die Voraussetzungen für die Erlangung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in einem Mitgliedstaat festlegen, in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80?

2.      Falls dies zu bejahen ist: Kann eine Verschärfung der zeitlichen Voraussetzungen für die Erlangung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in einem Mitgliedstaat (d. h. eine Verschärfung der Mindestanforderungen an die Dauer des vorherigen Aufenthalts und der vorherigen Beschäftigung des Ausländers) dann als geeignet angesehen werden, eine erfolgreiche Integration von Drittstaatsangehörigen zu fördern?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

30      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats, die die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis an einen türkischen Arbeitnehmer, der sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses fällt, an restriktivere Voraussetzungen knüpft als diejenigen, die bei Inkrafttreten dieses Beschlusses in diesem Mitgliedstaat galten, eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses darstellt.

31      Aus dem Wortlaut von Art. 13 dieses Beschlusses ergibt sich, dass dieser eine Stillhalteklausel enthält, die den Mitgliedstaaten die Einführung neuer Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen untersagt, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind.

32      Nach ständiger Rechtsprechung verbietet diese Stillhalteklausel allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat restriktiveren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn beim Inkrafttreten dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (Urteil vom 9. Februar 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a. [Entzug des Aufenthaltsrechts eines türkischen Arbeitnehmers], C‑402/21, EU:C:2023:77, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Eine solche weite Auslegung des Umfangs der betreffenden Stillhalteklausel ist im Hinblick auf das Ziel des Beschlusses Nr. 1/80, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen, gerechtfertigt. Sowohl eine neue Beschränkung, die die Bedingungen für den erstmaligen Zugang zur Erwerbstätigkeit eines türkischen Arbeitnehmers oder seiner Familienangehörigen verschärft, als auch eine Beschränkung, die, wenn dieser Arbeitnehmer oder seine Familienangehörigen bereits Rechte in Bezug auf Beschäftigung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 genießen, seinen Zugang zu einer durch diese Rechte garantierten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschränkt, verstoßen nämlich gegen das Ziel des Beschlusses, die Freizügigkeit dieser Arbeitnehmer zu verwirklichen (Urteil vom 9. Februar 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a. [Entzug des Aufenthaltsrechts eines türkischen Arbeitnehmers], C‑402/21, EU:C:2023:77, Rn. 53).

34      Der Gerichtshof hat somit entschieden, dass Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen die Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Lage der türkischen Staatsangehörigen festgelegt werden sollen, indem u. a. die Voraussetzungen für den Aufenthalt dieser Staatsangehörigen im Gebiet dieses Staates erlassen oder geändert werden, neue Beschränkungen im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellen können. Er hat weiter entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, die den Entzug der Aufenthaltsrechte der Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich und Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 gestatten, deren Recht auf Freizügigkeit gegenüber demjenigen einschränken, über das sie bei Inkrafttreten dieses Beschlusses verfügten, und daher eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses darstellen (Urteil vom 9. Februar 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a. [Entzug des Aufenthaltsrechts eines türkischen Arbeitnehmers], C‑402/21, EU:C:2023:77, Rn. 58 und 59).

35      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens seit Mai 2013 Inhaber einer bis zum 15. Oktober 2026 verlängerten befristeten Aufenthaltserlaubnis in Dänemark ist, die ihn dazu berechtigt, in diesem Mitgliedstaat zu arbeiten und zu studieren. Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens hat daher den Status eines Arbeitnehmers, der sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält, und fällt in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80.

36      Diese Bestimmung verleiht dem türkischen Arbeitnehmer das Recht, nach einem bestimmten Zeitraum ordnungsgemäßer Beschäftigung seine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis bei dem gleichen Arbeitgeber oder im gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl weiter auszuüben oder jede Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis seiner Wahl frei aufzunehmen. Dies impliziert zwangsläufig, dass ein entsprechendes Aufenthaltsrecht besteht, weil sonst das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf Ausübung einer Beschäftigung völlig wirkungslos wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juni 1995, Bozkurt, C‑434/93, EU:C:1995:168, Rn. 28, und vom 2. Juni 2005, Dörr und Ünal, C‑136/03, EU:C:2005:340, Rn. 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Die Weigerung der zuständigen nationalen Behörden, türkischen Arbeitnehmern, die wie der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens unter Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 fallen und Inhaber einer befristeten Aufenthaltserlaubnis in Dänemark sind, nach dem Ausländergesetz eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu gewähren, hindert diese Arbeitnehmer nicht daran, weiterhin ihre Erwerbstätigkeit auszuüben und die Rechte aus dieser Bestimmung, insbesondere das Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat, in Anspruch zu nehmen. Eine solche Weigerung beeinträchtigt daher nicht die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch die in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallenden türkischen Arbeitnehmer, die sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhalten.

38      Demnach stellt das Ausländergesetz, das u. a. vorsieht, dass Ausländer, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten können, wenn sie sich mindestens sechs Jahre lang rechtmäßig in Dänemark aufgehalten haben und innerhalb der letzten drei Jahren vor der Erteilung dieser Erlaubnis mindestens zwei Jahre und sechs Monate lang eine Vollzeitbeschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt haben, zwar eine Verschärfung der Voraussetzungen für die Erlangung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis im Vergleich zu denjenigen dar, die bei Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 in diesem Mitgliedstaat galten, dieses Gesetz ist aber keine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80. Es beeinträchtigt nämlich nicht die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch türkische Staatsangehörige, die in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses fallen und sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhalten, im Hoheitsgebiet dieses Staats.

39      Jede gegenteilige Auslegung liefe darauf hinaus, zu verkennen, dass türkische Arbeitnehmer aus Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 in Verbindung mit Art. 45 Abs. 3 Buchst. d AEUV kein Recht auf unbefristeten Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ableiten könnten. Die nach Art. 45 AEUV anwendbare Regelung kann nämlich nicht automatisch auf türkische Arbeitnehmer übertragen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 1995, Bozkurt, C‑434/93, EU:C:1995:168, Rn. 41) und die in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltene Stillhalteklausel ist nicht aus sich heraus geeignet, türkischen Staatsangehörigen allein auf der Grundlage der Unionsregelung ein Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht zu verleihen (vgl. entsprechend Urteile vom 20. September 2007, Tum und Dari, C‑16/05, EU:C:2007:530, Rn. 52, und vom 24. September 2013, Demirkan, C‑221/11, EU:C:2013:583, Rn. 54).

40      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats, die die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis an einen türkischen Arbeitnehmer, der sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses fällt, an restriktivere Voraussetzungen knüpft als diejenigen, die bei Inkrafttreten dieses Beschlusses in diesem Mitgliedstaat galten, keine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses darstellt, sofern sie die Ausübung der Freizügigkeit durch türkische Staatsangehörige, die sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhalten, im Hoheitsgebiet dieses Staats nicht beeinträchtigt.

 Zur zweiten Frage

41      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden, da sie vom vorlegenden Gericht nur für den Fall gestellt wird, dass die erste Frage bejaht wird.

 Kosten

42      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei

ist dahin auszulegen, dass

eine Regelung eines Mitgliedstaats, die die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis an einen türkischen Arbeitnehmer, der sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses fällt, an restriktivere Voraussetzungen knüpft als diejenigen, die bei Inkrafttreten dieses Beschlusses in diesem Mitgliedstaat galten, keine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses darstellt, sofern sie die Ausübung der Freizügigkeit durch türkische Staatsangehörige, die sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhalten, im Hoheitsgebiet dieses Staats nicht beeinträchtigt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Dänisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.