Language of document : ECLI:EU:C:2024:616

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 11. Juli 2024(1)

Rechtssache C376/23

SIA „BALTIC CONTAINER TERMINAL“

gegen

Valsts ieņēmumu dienests

(Vorabentscheidungsersuchen des Augstākā tiesa (Senāts) [Oberster Gerichtshof, Lettland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Zollunion – Zollkodex der Union – Verbringen von Waren aus einer Freizone – Unionsrechtliche Pflichten eines Inhabers einer Freizone – Zollschuld bei einem Pflichtenverstoß – Grundsatz des Vertrauensschutzes – Vertrauensschutz durch ständige Verwaltungspraxis – Erstreckung der Rechtskraft eines Urteils, welches eine Sanktion aufgehoben hat, die wegen eines Verstoßes gegen zollrechtliche Pflichten verhängt worden war“






I.      Einführung

„Man muss Vertrauen haben zu den Menschen, sonst kann man nicht leben“ (Anton Pawlowitsch Tschechow, russischer Schriftsteller und Dramatiker von 1860 bis 1904).

1.        Schließt das zum Leben notwendige Vertrauen auch ein Vertrauen in eine ständige Praxis der Finanzverwaltung eines EU-Mitgliedstaates ein? Wie weit geht ein solcher Vertrauensschutz – erfasst er auch rechtswidriges Handeln der nationalen Behörden, und zwar nicht nur bezogen auf nationales Recht, sondern auch auf Unionsrecht? Wenn ein Gericht einen Verstoß gegen zollrechtliche Pflichten bereits rechtskräftig verneint hat und eine deswegen parallel verhängte Sanktion aufgehoben hat, kann der Betroffene dann darauf vertrauen, dass die staatlichen Behörden in einem anderen Verfahren nicht ihrerseits dennoch einen Pflichtenverstoß annehmen und deshalb Zollschulden festsetzen?

2.        All diesen grundsätzlichen Fragen kann der Gerichtshof im vorliegenden Verfahren nachgehen. Im Ergebnis geht es um die Änderung einer ständigen Verwaltungspraxis der lettischen Finanzverwaltung. Bislang wurden Waren in der betreffenden Freizone aufgrund des Beförderungspapiers der Waren (im Folgenden: CMR(2)-Frachtbrief) immer dann aus der Freizone entlassen, wenn die Finanzbehörden nach einer Überprüfung der Waren diese auf dem CMR-Frachtbrief durch einen Zollstempel und eine Unterschrift als „Unionswaren“ gekennzeichnet hatten. Letzteres kontrollierte der Inhaber der Freizone, zeichnete es auf und entließ die Waren aus der Freizone. Offenbar änderte die Finanzverwaltung im Juli 2019 diese ständige Praxis und warf dem Inhaber der Freizone vor, die Waren im Zeitraum von 2018 bis Juli 2019 ohne das Erfassen einer Hauptbezugsnummer aus der Freizone entlassen zu haben. Ob die Hauptbezugsnummer unionsrechtlich tatsächlich zu erfassen gewesen wäre, soll nun der Gerichtshof entscheiden. Für das vorlegende Gericht scheint dies nicht eindeutig zu sein.

3.        Ein anderes Gericht (Strafkammer am Regionalgericht Riga, Lettland) hatte eine zollrechtliche Pflichtverletzung – ohne dem Gerichtshof vorzulegen – zuvor hingegen verneint. Der Inhaber der Freizone habe in Übereinstimmung mit der gängigen Praxis der Finanzbehörden gehandelt, und diese habe keine Rechtsvorschrift nennen können, aus der sich die Verpflichtung zu einer weiter gehenden Überprüfung der von der Finanzverwaltung als „Unionswaren“ gekennzeichneten Waren ergäbe.

4.        Parallel setzte die Finanzverwaltung aber Einfuhrabgaben und Mehrwertsteuer gegenüber dem Inhaber der Freizone fest, da die Entlassung der Waren aus der Freizone unter Verstoß gegen seine Pflichten erfolgt sei. Deswegen schulde (auch) der Inhaber der Freizone die entsprechenden Zollschulden. Gegen diesen Bescheid wehrt sich der Betroffene.

5.        Dabei fragt er sich, wie er seinen Pflichten als Inhaber einer Freizone nachkommen soll, wenn bereits zwei staatliche Gerichte deren Umfang unterschiedlich beurteilen und die Frage so unklar zu sein scheint, dass zuvor der Gerichtshof in Luxemburg um Auslegung ersucht werden muss. Außerdem fragt er sich, wie eine rückwirkende Änderung der Verwaltungspraxis für ihn vorhersehbar sein solle. Vielmehr habe er auf die bisherige Praxis vertraut und auch vertrauen können. Dies gelte umso mehr, als sie rechtskräftig durch ein lettisches Gericht bestätigt worden sei.

II.    Rechtlicher Rahmen

6.        Der unionsrechtliche Rechtsrahmen dieses Falls ist recht komplex. Er besteht aus insgesamt drei verschiedenen Rechtsakten, nämlich einer Verordnung, einer Delegierten Verordnung und einer Durchführungsverordnung.

A.      Unionsrecht

1.      Verordnung (EU) Nr. 952/2013(3) (im Folgenden Zollkodex)

7.        Art. 79 des Zollkodex regelt das Entstehen einer Zollschuld:

„(1) Für einfuhrabgabenpflichtige Waren entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn Folgendes nicht erfüllt ist:

a)      eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung oder auf die Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung dieser Waren in diesem Gebiet,

(3) In den Fällen nach Absatz 1 Buchstaben a und b ist Zollschuldner,

a)      wer die betreffenden Verpflichtungen zu erfüllen hatte, …“

8.        Art. 158 Abs. 1 im Kapitel 2 („Überführung von Waren in ein Zollverfahren“) des Zollkodex regelt die Zollanmeldung von Waren sowie die zollamtliche Überwachung von Unionswaren:

„(1) Für alle Waren, die in ein Zollverfahren – mit Ausnahme des Freizonenverfahrens – übergeführt werden sollen, ist eine Zollanmeldung zu dem jeweiligen Verfahren erforderlich.“

9.        Die dafür nötigen Unterlagen werden in Art. 163 des Zollkodex geregelt:

„(1) Alle nach den Vorschriften über das Zollverfahren, zu dem die Waren angemeldet werden, erforderlichen Unterlagen müssen zum Zeitpunkt der Abgabe der Zollanmeldung im Besitz des Anmelders sein und für die Zollbehörden bereitgehalten werden.

(2) Die Unterlagen sind nach Maßgabe des Unionsrechts oder soweit für die Zollkontrollen erforderlich den Zollbehörden vorzulegen.

(3) In bestimmten Fällen können Wirtschaftsbeteiligte die Unterlagen erstellen, sofern sie von den Zollbehörden hierzu ermächtigt werden.“

10.      Der Betrieb von Lagerstätten zur Zolllagerung von Waren in einer Freizone setzt nach Art. 211 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex eine Bewilligung voraus:

„(1) Eine Bewilligung der Zollbehörden ist erforderlich für

b)      den Betrieb von Lagerstätten zur Zolllagerung von Waren, es sei denn, die Lagerstätten werden von der Zollbehörde selbst betrieben.

Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines oder mehrerer der in Unterabsatz 1 genannten Verfahren oder für den Betrieb von Lagerstätten werden in der Bewilligung festgelegt.“

11.      Art. 214 Abs. 1 des Zollkodex regelt die Aufzeichnungen, die in den besonderen Zollverfahren, dazu gehört nach Art. 210 Buchst. b des Zollkodex auch die Lagerung in einer Freizone, vorzunehmen sind:

„(1) Außer im Falle des Versands oder anderweitiger Regelungen müssen der Bewilligungsinhaber, der Inhaber des Verfahrens und sämtliche Personen, die an der Lagerung oder der Veredelung oder an dem Erwerb oder der Veräußerung von Waren in Freizonen beteiligt sind, geeignete Aufzeichnungen in der von den Zollbehörden genehmigten Form führen.

Die Aufzeichnungen enthalten die Informationen und die Einzelheiten, die den Zollbehörden die Überwachung des betreffenden Verfahrens ermöglichen; dazu gehören insbesondere die Nämlichkeitssicherung der in dieses Verfahren übergeführten Waren, ihr zollrechtlicher Status und ihre Beförderungen.“

12.      Art. 215 des Zollkodex regelt die Erledigung eines besonderen Verfahrens wie das der Lagerung in einer Freizone:

„(1) Außer im Falle des Versands ist ein besonderes Verfahren unbeschadet des Artikels 254 erledigt, wenn die in das betreffende Verfahren übergeführten Waren oder die Veredelungserzeugnisse in ein anschließendes Zollverfahren übergeführt werden, aus dem Zollgebiet der Union verbracht oder zerstört werden und kein Abfall übrig bleibt oder nach Artikel 199 zugunsten der Staatskasse aufgegeben werden.

(2) Der Versand wird durch die Zollbehörden erledigt, wenn diese durch einen Vergleich der der Abgangszollstelle vorliegenden Daten mit den der Bestimmungszollstelle vorliegenden Daten feststellen konnten, dass das Verfahren ordnungsgemäß beendet wurde.

(3) Wird ein besonderes Verfahren nicht unter den vorgesehenen Voraussetzungen erledigt, so treffen die Zollbehörden alle erforderlichen Maßnahmen zur Regelung des Falls.

(4) Das Verfahren wird innerhalb einer bestimmten Frist erledigt, sofern nichts anderes bestimmt ist.“

13.      In Art. 7 Buchst. c des Zollkodex findet sich diesbezüglich folgende allgemeine Ermächtigung für die Kommission:

„Die Kommission wird ermächtigt, delegierte Rechtsakte gemäß Artikel 284 zu erlassen, in denen Folgendes festgelegt wird:

c)      die Art der Informationen und die Einzelheiten, die in den Aufzeichnungen gemäß Artikel 148 Absatz 4 und Artikel 214 Absatz 1 enthalten sein müssen.“

2.      Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446(4) (im Folgenden: DelVO)

14.      Art. 178 Abs. 1 Buchst. b, c, d und f, Abs. 2 und 3 DelVO sieht vor:

„(1) Die Aufzeichnungen gemäß Artikel 214 Absatz 1 des Zollkodex enthalten Folgendes:

b)       die MRN oder, wenn nicht vorhanden, eine andere Nummer oder ein anderer Code, anhand derer die Zollanmeldungen, mit denen die Waren in das besondere Verfahren übergeführt wurden, ermittelt werden können und, wenn das Verfahren gemäß Artikel 215 Absatz 1 des Zollkodex erledigt wurde, Informationen über die Art, wie das Verfahren erledigt wurde;

c)       Angaben, die eine eindeutige Feststellung anderer Zollpapiere als Zollanmeldungen, von anderen für die Überführung von Waren in ein besonderes Verfahren relevanten Unterlagen und von anderen für die betreffende Erledigung des Verfahrens relevanten Unterlagen ermöglichen;

d)       nähere Angaben, die für die Feststellung der Nämlichkeit der Waren erforderlich sind, Nummern, Anzahl und Art der Packstücke, Menge und handelsübliche oder technische Bezeichnung der Waren sowie gegebenenfalls das Kennzeichen des Behälters;

f)       zollrechtlicher Status der Waren;

(2) Im Fall von Freizonen enthalten die Aufzeichnungen zusätzlich zu den Angaben gemäß Absatz 1 Folgendes:

a)       Angaben zur Feststellung der Beförderungspapiere für Waren beim Eingang oder Ausgang aus den Freizonen;

b)       Angaben über die Verwendung oder den Verbrauch von Waren, deren Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr oder deren Überführung in die vorübergehende Verwendung gemäß Artikel 247 Absatz 2 des Zollkodex weder Einfuhrabgaben noch Maßnahmen der Gemeinsamen Agrar- oder Handelspolitik unterliegen würde.

(3) Die Zollbehörden können auf einige Angaben gemäß den Absätzen 1 und 2 verzichten, wenn sich dies nicht nachteilig auf die zollamtliche Überwachung und die Kontrollen der Inanspruchnahme eines besonderen Verfahrens auswirkt.“

3.      Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447(5) (im Folgenden: DVO)

15.      Wie der Nachweis des zollrechtlichen Status von Unionswaren zu führen ist, ergibt sich aus den Art. 199 ff. DVO. Art. 200 Abs. 1, 3 und 4 DVO sieht dabei vor:

„(1) Die zuständige Zollstelle bestätigt, außer in Fällen gemäß Artikel 128 Absatz 1 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446, den Nachweis des zollrechtlichen Status von Unionswaren gemäß Artikel 199 Absatz 1 Buchstaben b und c, registriert ihn und teilt der betroffenen Person die MRN dieses Nachweises mit.

(3) Der Nachweis gemäß Absatz 1 wird der zuständigen Zollstelle, bei der die Waren nach Wiederverbringung in das Zollgebiet der Union gestellt werden, unter Angabe der MRN vorgelegt.

(4) Diese zuständige Zollstelle überwacht die Verwendung des Nachweises gemäß Absatz 1 und stellt insbesondere sicher, dass der Nachweis nicht für andere Waren verwendet wird als für jene, für die er ausgestellt wurde.“

16.      Art. 211 DVO betrifft den Nachweis des zollrechtlichen Status von Unionswaren, deren Wert 15 000 Euro nicht übersteigt und lautet:

„Bei Waren mit dem zollrechtlichen Status von Unionswaren, deren Wert 15 000 EUR nicht übersteigt, kann der zollrechtliche Status von Unionswaren durch Vorlage der Rechnung oder des Beförderungspapiers für die betreffenden Waren nachgewiesen werden, sofern diese bzw. dieses nur Waren mit dem zollrechtlichen Status von Unionswaren betrifft.“

17.      Art. 226 DVO erläutert die MRN und lautet:

„Außer im Fall einer mündlichen Zollanmeldung, eines Vorgangs, der als eine Zollanmeldung gilt, oder einer Zollanmeldung mittels einer Anschreibung in der Buchführung des Anmelders gemäß Artikel 182 des Zollkodex unterrichten die Zollbehörden den Anmelder über die Annahme der Zollanmeldung und erteilen ihm eine MRN für die betreffende Anmeldung und teilen ihm das Datum der Annahme mit. Dieser Artikel findet erst zu den jeweiligen Zeitpunkten Anwendung, zu denen die Systeme AES und NCTS in Betrieb genommen werden und die nationalen Einfuhrsysteme gemäß dem Anhang des Durchführungsbeschlusses 2014/255/EU angepasst sind.“

B.      Lettisches Recht

18.      Art. 153 Abs. 3 der Administratīvā procesa likums (Verwaltungsverfahrensordnung) regelt:

„Tatsachen, die in den Gründen eines rechtskräftigen Urteils festgestellt worden sind, müssen im Rahmen der Prüfung einer Verwaltungssache, an der dieselben Parteien beteiligt sind, nicht erneut nachgewiesen werden.“

19.      Art. 16 Abs. 3 und 4 des Likums „Par tiesu varu“ (Gerichtsverfassungsgesetz) bestimmt:

„(3)      Nach dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren ist ein Urteil für das Gericht bei der Prüfung anderer mit dieser Rechtssache in Zusammenhang stehender Rechtssachen bindend.

(4)      Solche Urteile haben Gesetzeskraft, sind gegenüber jedermann  verbindlich und müssen genauso beachtet werden wie die Gesetze.“

20.      Das Ministru kabineta 2017. gada 22. Augusta noteikumi Nr. 500 ,,Muitas noliktavu, pagaidu uzglabāšanas un brīvo zonu noteikumi“ (Dekret Nr. 500 des Ministerrats vom 22. August 2017 zur Festlegung der Regeln über die Zollager, die vorübergehende Verwahrung und die Freizonen) sieht in Abschnitt 77 vor, dass eine Person, in deren Freizone Nicht-Unionswaren gelagert werden, Aufzeichnungen über die in der Freizone gelagerten Waren führen muss. Nach Abschnitt 78 müssen die Aufzeichnungen insbesondere die in Art. 178 Abs. 1 Buchst. b und c und Abs. 2 DelVO genannten Angaben enthalten. Nach Abschnitt 79 ist in den Aufzeichnungen über die Nicht-Unionswaren die Nummer des Zolldokuments bzw. die Nummer des Frachtbriefs der Waren anzugeben, mit dem diese in die oder aus der Freizone verbracht wurden.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsverfahren

21.      Die SIA „BALTIC CONTAINER TERMINAL“ (im Folgenden: Klägerin) ist Inhaberin einer Bewilligung für das Auf- und Abladen sowie die Lagerung von Waren in der Freizone des Freihafens Riga und verpflichtet, Aufzeichnungen über die in dieser Zone vorhandenen Waren zu führen.

22.      Der Valsts ieņēmumu dienests (lettische Steuerverwaltung, im Folgenden: Finanzverwaltung) nahm eine Überprüfung der Waren vor, die sich in der Freizone der Klägerin befanden, und stellte fest, dass in den Jahren 2018 und 2019 in drei Fällen Waren daraus entfernt wurden, ohne in ein anschließendes Zollverfahren übergeführt worden zu sein. Daher sei das besondere Verfahren der „Freizone“ nicht erledigt worden. Die Finanzverwaltung kam zu dem Ergebnis, dass diese Waren tatsächlich der zollamtlichen Überwachung entzogen worden und daher gemäß Art. 79 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. a des Zollkodex (auch) zulasten der Klägerin Zollschulden entstanden seien.

23.      Für ihre Verbringung aus der Freizone wurden die betreffenden Waren auf der Grundlage der CMR-Frachtbriefe übergeben, in denen der zollrechtliche Status der Waren als „Unionswaren“ („C“) angegeben war. Das hatte ein Beamter der Zollbehörde durch Anbringen des Zollstempels und seine Unterschrift bestätigt und entsprach der gängigen, wenn auch gesetzlich nicht ausdrücklich vorgesehenen Praxis. Danach überprüfte die Finanzverwaltung den zollrechtlichen Status von Waren, bevor diese den Hafen verließen, und vermerkte ihn in den Transportdokumenten. Nachdem die Waren aus der Freizone entfernt worden waren, stellten die Zollbeamten jedoch fest, dass sie über keine Dokumente zur Rechtfertigung der Änderung des zollrechtlichen Status der streitigen Waren von „Nicht-Unionswaren“ („N“) in „Unionswaren“ („C“) verfügten.

24.      Mit Entscheidung vom 19. Juli 2019 verpflichtete die Finanzverwaltung die Klägerin, Einfuhrabgaben sowie Mehrwertsteuer nebst entsprechenden Säumniszuschlägen an den Fiskus zu zahlen. Die Klägerin focht diese Entscheidung gerichtlich an.

25.      Die Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht, Lettland) wies die Klage zurück. Sie war der Ansicht, dass mit dem bloßen Anbringen des Stempels und der Unterschrift auf dem CMR-Frachtbrief der zollrechtliche Status von Unionswaren der als Nicht-Unionswaren eingeführten Waren nicht bescheinigt werden könne. Allein aus dem CMR-Frachtbrief sei nicht ersichtlich, in welches anschließende Zollverfahren die Waren übergeführt worden seien. Für eine Änderung des Status der Waren bedürfe es einer Anmeldung mit der Hauptbezugsnummer (Master Reference Number, im Folgenden und auch schon bisher: MRN) oder eines CMR-Frachtbriefs, der mit dem Zollstempel und der MRN versehen sei. Daran fehle es aber.

26.      Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim Augstākā tiesa (Senāts) (Oberster Gerichtshof, Lettland) eingelegt.

27.      Die Klägerin vertritt die Auffassung, dass der Tatbestand des Art. 79 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. a des Zollkodex nicht erfüllt und folglich keine Zollschuld entstanden sei. Sie habe die verlangten Aufzeichnungen nach Maßgabe der von der Finanzverwaltung erteilten Bewilligung geführt und dem Beförderer die Waren auf der Grundlage der vorgelegten CMR-Frachtbriefe übergeben. Der gängigen Praxis der Finanzverwaltung entsprechend seien daraus der vom Zollbeamten angegebene Status der Waren – als Unionswaren –, die Unterschrift des Beamten der Zollbehörde und der Zollstempel ersichtlich gewesen. Sie habe deshalb davon ausgehen können, dass sie zum freien Verkehr überlassen worden seien. Dadurch sei auch das besondere Verfahren der Freizone erledigt worden.

28.      Parallel focht die Klägerin beim Rīgas apgabaltiesas Krimināllietu kolēģija (Strafkammer am Regionalgericht Riga) eine verwaltungsrechtliche Sanktion an, die aufgrund desselben Sachverhalts gegen sie verhängt worden war. Mit Urteil vom 5. Februar 2021 hob dieses Gericht die verwaltungsrechtliche Sanktion mit der Begründung auf, dass die Klägerin nicht gegen die Vorschriften des Zollverfahrens verstoßen und in Übereinstimmung mit der gängigen Praxis der Zollbehörden gehandelt habe. Insbesondere habe die Finanzverwaltung keine Rechtsvorschriften benennen können, nach denen die Klägerin über die Bestätigung der Zollbehörden hinaus zur Überprüfung weiterer Angaben zur Gültigkeit der Änderung des Status der Waren verpflichtet gewesen wäre.

29.      Laut dem vorlegenden Gericht war es zu dem Zeitpunkt, als sich der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits ereignete, gängige Praxis  der Finanzverwaltung, dass die Zollbeamten den zollrechtlichen Status überprüften, bevor die Waren die Freizone verließen, und auf den verschiedenen Ausfuhrpapieren (im Regelfall CMR-Frachtbrief) die entsprechenden Vermerke anbrachten (zollrechtlicher Status der Waren, Stempel der Grenzkontrollstelle und Unterschrift des Zollbeamten). Auch das aktuell praktizierte Verfahren sieht vor, dass die Änderung des zollrechtlichen Status der Waren vom Zollbeamten selbst bestätigt wird und die Klägerin im Vertrauen auf dessen Informationen das besondere Verfahren der „Freizone“ erledigt.

30.      Der Augstākā tiesa (Senāts) (Oberster Gerichtshof, Lettland) hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV folgende fünf Fragen vorgelegt:

1.      Ist es nach Art. 178 Abs. 1 Buchst. b und c der Delegierten Verordnung 2015/2446 in Verbindung mit Art. 214 Abs. 1 des Zollkodex der Union erlaubt, das besondere Verfahren der „Freizone“ zu erledigen, ohne dass die Hauptbezugsnummer (Master Reference Number – MRN) zur Identifizierung der Zollanmeldung, mit der die Waren in das spätere Zollverfahren übergeführt werden, in das elektronische Aufzeichnungssystem eingegeben wurde?

2.      Ist es nach Art. 214 Abs. 1 und Art. 215 Abs. 1 des Zollkodex der Union sowie Art. 178 Abs. 1 Buchst. b und c der Delegierten Verordnung 2015/2446 erlaubt, dass der Inhaber des besonderen Verfahrens der „Freizone“ dieses Verfahren allein auf der Grundlage eines Vermerks über den zollrechtlichen Status der Waren, den ein Zollbeamter auf dem Beförderungspapier der Waren (CMR-Frachtbrief) angebracht hat, erledigt, ohne selbst die Gültigkeit des zollrechtlichen Status dieser Waren zu überprüfen?

3.      Falls die zweite Frage verneint wird: Welcher Überprüfungsumfang ist nach Art. 214 Abs. 1 und Art. 215 Abs. 1 des Zollkodex der Union sowie Art. 178 Abs. 1 Buchst. b und c der Delegierten Verordnung 2015/2446 ausreichend, um davon ausgehen zu können, dass das besondere Verfahren der „Freizone“ ordnungsmäßig erledigt worden ist?

4.      Kann die Bestätigung der Zollbehörden, dass sich der zollrechtliche Status der Waren von „Nicht-Unionswaren“ in „Unionswaren“ geändert habe, beim Inhaber des besonderen Verfahrens der „Freizone“ ein berechtigtes Vertrauen begründen, obwohl diese Bestätigung weder den Grund für diese Änderung des Status noch Angaben enthält, die die Feststellung dieses Grundes ermöglichen?

5.      Falls die vierte Frage verneint wird: Kann es im Licht des im nationalen Recht und im Unionsrecht anerkannten Grundsatzes der Rechtskraft einen Grund für die Befreiung von der Zollschuld aus Art. 79 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. a des Zollkodex der Union darstellen, dass ein nationales Gericht in einem anderen Rechtsstreit durch rechtskräftiges Urteil entschieden hat, dass der Inhaber des Zollverfahrens im Hinblick auf das Verfahren der „Freizone“ nach den Verfahren, die die Zollbehörden festgelegt haben, keinen Verstoß begangen hat?

31.      Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben die Klägerin, Lettland und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.

IV.    Rechtliche Würdigung

32.      Die fünf Vorlagefragen betreffen im Wesentlichen zwei Komplexe. Die ersten drei Fragen beziehen sich auf die zollrechtlichen Aufzeichnungs- und Prüfungspflichten eines Bewilligungsinhabers für das besondere Verfahren der Freizone (im Folgenden: Inhaber einer Freizone), der Nicht-Unionswaren, die dort gelagert waren, aus dieser entlassen hat (dazu unter A.). Die fünfte Frage betrifft hingegen die im nationalen Recht angeordnete Erstreckung der Rechtskraft eines Urteils, welches – möglicherweise unionsrechtswidrig – einen Verstoß gegen eine Sorgfaltspflicht des Inhabers einer Freizone verneint hat (dazu unter B.2.). Dem vorgelagert ist die vierte Frage nach dem Vertrauensschutz eines Inhabers einer Freizone, der sich an der bisherigen Praxis der Finanzverwaltung in dem Mitgliedstaat orientiert hat, auch wenn diese Praxis unionsrechtswidrig gewesen sein sollte (dazu unter B.1.).

A.      Zur Auslegung des Zollkodex der EU

33.      Gegenüber der Klägerin als Inhaberin einer Freizone wurde eine Einfuhrabgabenschuld (im Folgenden: Zollschuld) festgesetzt. Die Zollschuld eines Inhabers einer Freizone basiert auf Art. 79 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex. Sie knüpft an eine Verletzung der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union an. Ob die mit dem Verbringen in den freien Warenverkehr entstandene Zollschuld des Anmelders mittlerweile durchgesetzt werden konnte, ist dem Gerichtshof nicht bekannt.

34.      Den Inhaber einer Freizone treffen zwar besondere Pflichten,(6) deren Verletzung zur Entstehung einer Zollschuld führen kann. Diese ist aber nur eine zusätzliche, gesamtschuldnerische (siehe Art. 84 des Zollkodex) Zollschuld aufgrund einer eigenen Pflichtverletzung, die im Ergebnis die korrekte Erhebung der Zollschuld sicherstellen soll. Die (originäre) Zollschuld des Anmelders (Art. 77 Abs. 3 des Zollkodex) bleibt weiterhin bestehen.

1.      Zur Verpflichtung der Aufzeichnung einer „Master Reference Number“

35.      Die Klägerin hat keine MRN aufgezeichnet und in das elektronische System eingegeben. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Aufzeichnung und Eingabe der MRN unionsrechtlich geboten waren, so dass sich aus dem Unterlassen die für die Festsetzung einer Zollschuld nötige Pflichtverletzung der Klägerin ergibt.

36.      Dafür ist entscheidend, ob der Inhaber einer Freizone immer eine MRN aufzeichnen muss, um einer eigenen – neben die Zollschuld des Anmelders tretenden – Zollschuld nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 des Zollkodex zu entgehen. Art. 214 Abs. 1 des Zollkodex regelt die Aufzeichnungen, die in den besonderen Zollverfahren vorzunehmen sind. Zu den besonderen Zollverfahren gehört nach Art. 210 Buchst. b des Zollkodex auch die Lagerung in einer Freizone.

37.      Nach Art. 214 Abs. 1 des Zollkodex muss der „Inhaber des Verfahrens“ (hier des Freizonenverfahrens) geeignete Aufzeichnungen in der von den Zollbehörden genehmigten Form führen. Die Aufzeichnungen enthalten die Informationen und die Einzelheiten, die den Zollbehörden die Überwachung des betreffenden Verfahrens ermöglichen; dazu gehören insbesondere die Nämlichkeitssicherung der in dieses Verfahren übergeführten Waren, ihr zollrechtlicher Status und ihre Beförderungen.

38.      Für den Betrieb von Lagerstätten zur Zolllagerung von Waren in einer Freizone nach Art. 211 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex ist eine Bewilligung der Behörden nötig. In der Regel ergeben sich aus dieser Bewilligung konkrete Aufzeichnungspflichten, um die Erledigung dieses besonderen Verfahrens durch die Überführung in ein anderes Zollverfahren (oft die Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr – Art. 77 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex) zu dokumentieren und zu überwachen. Welchen genauen Inhalt die Genehmigung der Klägerin im vorliegenden Fall hat bzw. hatte, ergibt sich jedoch nicht aus dem Vorabentscheidungsersuchen.

39.      Jenseits der Aufzeichnungspflichten, die sich aus der Bewilligung ergeben können, ermächtigt Art. 7 Buchst. c des Zollkodex die Kommission, delegierte Rechtsakte zu erlassen, die die Art der Information und die Einzelheiten regeln, die in den Aufzeichnungen nach Art. 214 Abs. 1 des Zollkodex enthalten sein müssen. Demgemäß sieht Art. 178 Abs. 1 Buchst. b DelVO vor, dass die Aufzeichnungen nach Art. 214 des Zollkodex „die MRN oder, wenn nicht vorhanden, eine andere Nummer oder ein anderer Code, anhand derer die Zollanmeldungen, mit denen die Waren in das besondere Verfahren übergeführt wurden, ermittelt werden können und, wenn das Verfahren gemäß Artikel 215 Absatz 1 des Zollkodex erledigt wurde, Informationen über die Art, wie das Verfahren erledigt wurde“, enthalten müssen.

40.      Schon daraus wird ersichtlich, dass die MRN keinesfalls zwingend aufzuzeichnen ist.

41.      Zum einen betrifft Art. 178 Abs. 1 Buchst. b DelVO in seiner ersten Alternative nur die MRN, anhand derer die Zollanmeldungen, „mit denen die Waren in das besondere Verfahren übergeführt wurden“, ermittelt werden können. Für die Überführung in das besondere Verfahren der Freizone bedarf es keiner Zollanmeldung (vgl. Art. 158 Abs. 1 des Zollkodex). Mithin kann hier nur die Überführung in ein weiteres besonderes Verfahren gemeint sein. Hier wurden die Waren aber nicht in ein weiteres besonderes Verfahren (aus dem Titel VII des Zollkodex), sondern in das „normale“ Verfahren nach Titel VI des Zollkodex (Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr) überführt. Für diesen Fall verlangt Art. 178 Abs. 1 Buchst. b erste Alternative der DelVO die Aufzeichnung der MRN nicht.

42.      Zum anderen geht Art. 178 Abs. 1 Buchst. b DelVO selbst davon aus, dass eine MRN nicht bei jeder Zollanmeldung vergeben wird. Dies bestätigt Art. 226 DVO. Danach müssen die Zollbehörden dem Zollanmelder (nicht: dem Inhaber einer Freizone) zwar grundsätzlich eine solche MRN für seine Zollanmeldung erteilen. Aber dies gilt weder für jede Zollanmeldung noch vor den jeweiligen Zeitpunkten, zu denen die Systeme AES und NCTS in Betrieb genommen werden und die nationalen Einfuhrsysteme gemäß dem Anhang des Durchführungsbeschlusses 2014/255/EU angepasst sind. Ob dies hier überhaupt der Fall war, wurde dem Gerichtshof nicht mitgeteilt.

43.      Da die Finanzverwaltung dem Zollanmelder (und nicht dem Inhaber einer Freizone) die MRN mitteilt, verlangt Art. 178 Abs. 1 Buchst. b DelVO von dem Inhaber einer Freizone die Aufzeichnung dieser Nummer ausdrücklich nur dann, wenn sie vorhanden ist. Andernfalls genügt er seinen Aufzeichnungspflichten, wenn er eine andere Nummer oder einen Code aufzeichnet, mit denen die Waren ermittelt werden können. Eine zwingende Aufzeichnung der MRN ergibt sich aus dem Zollkodex und der DelVO – wie auch die Kommission zutreffend vorträgt – deshalb nicht. Das gilt erst recht, wenn die Waren nicht in ein besonderes Verfahren überführt wurden.

44.      Hinzu kommt noch die Regelung in Art. 178 Abs. 3 DelVO. Danach können die Zollbehörden auf einige Angaben gemäß den Abs. 1 und 2 verzichten. Also gebietet das Unionsrecht die Aufzeichnung der MRN nicht zwingend. Vielmehr ist entscheidend, ob das nationale Recht (welches die Zollbehörden bindet) oder die nationale Zollbehörde selbst auf eine solche Aufzeichnung verzichtet hat. Falls ja, kann eine fehlende Aufzeichnung keine Zollschuld begründen.

45.      Ein solcher Verzicht könnte hier z. B. auch in der vom vorlegenden Gericht mitgeteilten ständigen Verwaltungspraxis der lettischen Zollbehörden gesehen werden. Dem vorlegenden Gericht zufolge war es nämlich zu dem Zeitpunkt, als sich der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits ereignete, gängige Praxis  der Finanzverwaltung, dass die Zollbeamten den zollrechtlichen Status überprüften, bevor die Waren die Freizone verließen, und auf den verschiedenen Ausfuhrpapieren (im Regelfall CMR-Frachtbrief) die entsprechenden Vermerke anbrachten (zollrechtlicher Status der Waren, Stempel der Grenzkontrollstelle und Unterschrift des Zollbeamten). Dies genügte offenbar den bisherigen Aufzeichnungspflichten.

46.      Das Unionsrecht sieht keine besonderen Voraussetzungen für einen solchen Verzicht vor. Daher ist auch ein konkludenter Verzicht auf das Aufzeichnungserfordernis nach Art. 178 Abs. 1 Buchst. b DelVO denkbar. Dies gilt umso mehr, als dem Zollrecht – als einem Massenverfahren – konkludente Erklärungen nicht fremd sind. So besteht nach Art. 158 Abs. 2 des Zollkodex in Verbindung mit den Art. 135 ff. und 141 DelVO sogar die Möglichkeit, mündliche oder konkludente Zollanmeldungen abzugeben. Ob in der ständigen Verwaltungspraxis – wie sie das vorlegende Gericht beschreibt – ein ausdrücklicher oder konkludenter Verzicht der Finanzverwaltung zu sehen ist, ist eine Frage der Sachverhaltswürdigung, für die allein dieses Gericht zuständig ist.

47.      Die Antwort auf die erste Frage lautet daher, dass Art. 214 des Zollkodex in Verbindung mit Art. 178 DelVO von dem Inhaber einer Freizone nicht zwingend und nicht in jedem Fall verlangt, eine MRN aufzuzeichnen, um seinen dort normierten Aufzeichnungspflichten nachzukommen. Vielmehr gestattet er den Zollbehörden, abweichende Formen der Aufzeichnung ausdrücklich oder konkludent zu genehmigen.

2.      Erledigung des Verfahrens der Freizone

48.      In der ersten Frage fragt das vorlegende Gericht weiter, ob Art. 214 des Zollkodex es erlaubt, das besondere Verfahren der Freizone zu erledigen, ohne eine MRN aufzuzeichnen. Dies betrifft die zweite Alternative der in Art. 178 Abs. 1 Buchst. b DelVO genannten Aufzeichnungspflichten. Danach müssen auch Informationen über die Art, wie das Verfahren erledigt wurde, aufgezeichnet werden.

49.      Die Erledigung eines besonderen zollrechtlichen Verfahrens (hier das der Freizone) nach Art. 215 des Zollkodex ist von der oben behandelten Einhaltung der Aufzeichnungspflichten nach Art. 214 des Zollkodex zu unterscheiden. Die Erledigung tritt nämlich erst dann ein, wenn die Waren in ein anschließendes Zollverfahren überführt wurden. Hier wurden die Waren zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen (Titel VI des Zollkodex) und ihr Status ist von Nicht-Unionswaren zu Unionswaren geändert.

50.      Die Finanzverwaltung weiß lediglich nicht mehr, warum dies passiert ist. Auch aus der schriftlichen Stellungnahme Lettlands ergibt sich nicht, warum ein Zollbeamter den CMR-Frachtbrief überhaupt mit einem „C“ (für Unionswaren) versehen, abgestempelt und unterschrieben hätte, falls diese Waren weiterhin Nicht-Unionswaren sein sollten. Jedenfalls wurden sie nach einer Prüfung einer Person überlassen. Ob diese Überlassung zu Recht erfolgt ist (insbesondere ob eine entsprechende Zollanmeldung vorliegt) und ob die entstandene Zollschuld durch den Zollanmelder beglichen wurde, ist für die Erledigung des „Freizonenverfahrens“ jedenfalls irrelevant.

51.      Wie jedoch der Inhaber einer Freizone die entsprechenden Aufzeichnungen zu führen hat, schreibt das Unionsrecht nicht abschließend vor (siehe oben, Nrn. 36 ff.). Letztendlich hängt die Frage, ob die Erledigung des besonderen Verfahrens der Freizone durch die Aufzeichnung des CMR-Frachtbriefes, der mit einem Stempel und Unterschrift der Finanzverwaltung versehen war, von der nationalen Rechtslage (Inhalt der Bewilligung bzw. Verzicht der Finanzverwaltung auf bestimmte Aufzeichnungspflichten) ab. Dies kann daher nur das vorlegende Gericht beurteilen.

52.      Wenn sich aus der ständigen Praxis ergibt, dass die Ware dem Anmelder überlassen und der Status als Unionsware auf dem CMR-Frachtbrief per Stempel und Unterschrift eines Finanzbeamten bestätigt wurde und dies nur in den Fällen der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr geschieht, dann erscheint die Dokumentation dieses Frachtbriefs ausreichend, um auch die Erledigung des besonderen Verfahrens der Freizone durch die Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr zu dokumentieren. Darin kann ein unionsrechtlich zulässiger ausdrücklicher oder konkludenter Verzicht auf mögliche weitere Nachweisanforderungen liegen.

3.      Prüfungspflicht und Prüfungsumfang hinsichtlich der Gültigkeit des zollrechtlichen Status der Waren (Fragen 2 und 3)?

53.      Mit seiner zweiten und dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 214 Abs. 1 und Art. 215 Abs. 1 des Zollkodex dem Inhaber einer Freizone erlauben, das Freizonenverfahren zu erledigen, ohne selbst die Gültigkeit des zollrechtlichen Status der Waren überprüft zu haben, bzw. welchen Umfang eine entsprechende Prüfungspflicht hat.

54.      Hintergrund dieser Frage ist, dass Waren ohne Zollanmeldung in eine Freizone überführt werden können, um dann in der Regel mittels einer Zollanmeldung durch den Zollanmelder in weitere Zollverfahren überführt zu werden. Dabei können in einer Freizone z. B. Waren unterschiedlicher Art (Unionswaren wie Nicht-Unionswaren) gelagert werden (vgl. Art. 177 DelVO). Meistens werden die in einer Freizone gelagerten Waren anschließend in weitere spezielle Zollverfahren (Titel VII des Zollkodex – wie z. B. Verfahren der vorübergehenden Verwendung oder der Veredelung) oder auch in das allgemeine Zollverfahren (Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr – Titel VI des Zollkodex) übergeführt. Dies geschieht mittels einer Zollanmeldung (Art. 158 Abs. 1 des Zollkodex) durch einen Dritten (d. h. in der Regel nicht durch den Inhaber der Freizone).

55.      Wichtig für die hier zu entscheidende Frage einer Prüfungspflicht bzw. des Prüfungsumfangs für einen Inhaber einer Freizone ist dabei, dass die Überprüfung der Zollanmeldung nach Art. 188 des Zollkodex allein durch die Zollbehörde erfolgt. Diese kann nach Art. 189 des Zollkodex eine Beschau der Waren etc. vornehmen. Prüfpflichten des Inhabers einer Freizone lassen sich im Zollkodex hingegen nicht finden. Auch die Überlassung der Waren erfolgt gemäß Art. 194 des Zollkodex ausschließlich durch die Zollbehörden (und nicht einen Privaten), wenn die Voraussetzung für die Überführung der Waren in das betreffende Verfahren erfüllt sind. Nach Art. 195 Abs. 1 des Zollkodex werden die Waren dem Anmelder dabei erst überlassen, wenn eine entstandene Zollschuld entrichtet oder dafür Sicherheit geleistet wurde. In Lettland erfolgte – so scheint es – die Überlassung der Ware durch die Zollbehörde in der Praxis durch das Abstempeln und Unterschreiben des CMR-Frachtbriefs.

56.      Demgegenüber ist das besondere Verfahren der Freizone in den Art. 210 ff. des Zollkodex geregelt. Eine Verpflichtung, die Zollanmeldung eines Dritten auf ihre inhaltliche Richtigkeit hin zu kontrollieren, lässt sich diesem Abschnitt jedoch ebenfalls nicht entnehmen. Vielmehr finden sich in Art. 214 des Zollkodex die bereits oben (dazu Nrn. 36 ff.) angesprochenen Aufzeichnungspflichten. Art. 215 des Zollkodex regelt, wann ein besonderes Verfahren (wie das der Freizone) erledigt ist, wobei der Haupterledigungsgrund die Überführung in ein anschließendes Zollverfahren sein dürfte.

57.      Art. 214 Abs. 1 Satz 2 des Zollkodex stellt dabei klar, dass die Aufzeichnungen diejenigen Informationen und die Einzelheiten enthalten (müssen), die den Zollbehörden die Überwachung des betreffenden Verfahrens ermöglichen; dazu gehören insbesondere die Nämlichkeitssicherung der in dieses Verfahren übergeführten Waren, ihr zollrechtlicher Status und ihre Beförderungen. Von der Gültigkeit des zollrechtlichen Status oder einer Überprüfung dieser Gültigkeit spricht Art. 214 des Zollkodex hingegen ebenso wenig.

58.      Auch daraus ergibt sich, dass nur Aufzeichnungen über den zollrechtlichen Status zu führen sind, nicht aber, dass dieser Status auf seine inhaltliche Richtigkeit geprüft werden müsste. Insofern kommt es wieder – dies scheint die Kommission zu übersehen – auf die in Lettland geltenden Nachweispflichten an. Wenn die Finanzverwaltung (ausdrücklich oder konkludent) auf weitere Nachweise als den CMR-Frachtbrief mit einem Stempel über den Status der Waren und eine Unterschrift des Zollbeamten verzichtet hat (vgl. Art. 178 Abs. 3 DelVO), dann ergeben sich auch keine weiteren Nachweis- und schon gar nicht weitere Prüfpflichten. Ob dem so ist, kann nur das vorlegende Gericht entscheiden.

59.      Eine Prüfung, warum der CMR-Frachtbrief abgestempelt wurde und warum die Waren darin durch die Zollbehörden als Unionswaren deklariert wurden, musste die Klägerin daher nicht durchführen. Es erscheint auch zweifelhaft, dass sie diese Prüfung wirksam durchführen kann.

60.      Der zollrechtliche Status der Ware ergibt sich nämlich aus der Zollanmeldung einer anderen Person, die von den Zollbehörden zu prüfen ist. Wurden die Waren dann aufgrund einer Entscheidung der Zollbehörde zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen, änderte sich ihr Status von Nicht-Unionswaren zu Unionswaren. Das hat der Zollbeamte durch den Stempel samt Unterschrift auf dem CMR-Frachtbrief anscheinend (siehe nur Frage 4 des vorlegenden Gerichts) hier bestätigt. Es erscheint weder geboten noch möglich, dass ein anderer Privater dies noch einmal überprüft. Auch in dem aktuellen Verfahren nimmt laut Angaben des vorlegenden Gerichts und den schriftlichen Ausführungen der Klägerin allein die Finanzverwaltung die Statusänderung im elektronischen System der Klägerin vor, ohne dass diese die Richtigkeit überprüfen kann.

61.      Die Rechtmäßigkeit und erst recht die Gültigkeit einer behördlichen Entscheidung wird üblicherweise durch eine andere (höhere) Behörde oder ein Gericht, nicht aber durch einen Privaten überprüft. Wenn keine Anhaltspunkte für eine Fälschung der vorgelegten Nachweise – hier über den Status der Waren – existieren, dann ergibt sich aus dem Zollkodex keine über die Aufzeichnungspflichten hinausgehende Prüfungspflicht eines Inhabers einer Freizone, ob der zollrechtliche Status der Waren auch wirklich „gültig“ ist.

62.      Auf die Fragen 2 und 3 ist daher zu antworten, dass die Erledigung des besonderen Zollverfahrens „Freizone“ nicht verlangt, dass der Inhaber der Freizone die Gültigkeit des von der Finanzverwaltung bescheinigten Status der Ware selbständig prüft. Anderes kann gelten, wenn Anhaltspunkte für eine Fälschung der Bescheinigung vorliegen. Wie diese Bescheinigung auszusehen hat und wie der Status der freigegebenen Waren nachzuweisen ist, ergibt sich – da die Zollbehörden nach Art. 178 Abs. 3 DelVO auf einige Angaben verzichten können – letztendlich aus der nationalen Rechtslage.

B.      Hilfsweise: zum Vertrauensschutz und der Erstreckung der Rechtskraft (Fragen 4 und 5)

63.      Mit den Fragen 4 und 5 fragt das vorlegende Gericht im Kern, ob der Klägerin (sollten die Waren keine Unionswaren gewesen sein und sie dies hätte prüfen müssen, bevor sie die Waren aus der Freizone entließ) zumindest ein gewisser Vertrauensschutz zugutekommt. Dafür spricht zum einen, dass die Finanzverwaltung mit Stempel und Unterschrift auf dem CMR-Frachtbrief den Status als Unionsware bestätigt hat. Zum anderen hat ein anderes Gericht bereits rechtskräftig einen Verstoß gegen Art. 79 des Zollkodex abgelehnt. Ein solcher Verstoß ist aber Voraussetzung für eine (zusätzliche) Zollschuld des Inhabers einer Freizone. Daher könnte auch die Rechtskraft dieser Entscheidung einer Festsetzung einer Zollschuld entgegenstehen.

64.      Beide Fragen stellen sich aber nur, wenn überhaupt ein Verstoß gegen die Nachweisanforderungen von Art. 214 des Zollkodex in Verbindung mit Art. 178 DelVO vorliegt. Das hängt aufgrund von Art. 178 Abs. 3 DelVO wiederum von der damaligen Entscheidung der lettischen Zollbehörde über den Umfang der Nachweispflichten ab. Wie oben ausgeführt (Nrn. 44 ff.), haben die Zollbehörden in ständiger Praxis auf weiter gehende Nachweise verzichtet, so dass eine zusätzliche Zollschuld der Klägerin eher fernliegt.

65.      Nur für den Fall, dass der Gerichtshof zu einem gegenteiligen Ergebnis käme oder das vorlegende Gericht dennoch einen Verstoß der Klägerin gegen zollrechtliche Pflichten annehmen sollte, stellen sich die obigen Fragen. Sie werden daher nur hilfsweise untersucht.

1.      Vertrauensschutz bei unionsrechtswidriger Verwaltungspraxis

66.      Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ist Bestandteil der Unionsrechtsordnung und gilt für jede nationale Behörde, die mit der Anwendung des Unionsrechts betraut ist.(7) Also müssen die nationalen Behörden bei der Durchführung der Bestimmungen des Zollkodex und der DelVO den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten.

67.      Indessen kann der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht gegen eine klare unionsrechtliche Bestimmung angeführt werden.(8) Eine solche klare Vorschrift, aus der sich zwingend ergibt, dass die Klägerin die MRN aufzeichnen musste und dass Stempel und Unterschrift der Finanzverwaltung nicht ausreichen, ist hier nicht ersichtlich. Ebenso ergibt sich keine klare Vorschrift, wonach der Inhaber einer Freizone den Grund des Statuswechsels einer Ware prüfen muss (siehe oben, Nrn. 36 ff.). Zudem lehnte ein nationales Gericht diese Pflichten bereits ab, und ein anderes ist sich nicht sicher, so dass es den Gerichtshof um Auslegungshilfe fragt. Selbst wenn der Gerichtshof zu einem anderen Ergebnis kommen sollte, könnte daher keinesfalls von einer „klaren Bestimmung“ im Sinne der oben genannten Rechtsprechung gesprochen werden.

68.      Daher kommt ein unionsrechtlicher Vertrauensschutz hier in Betracht. Er setzt weiter voraus, dass die Handlungen der Verwaltungsbehörden in der Vorstellung eines umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmers vernünftige und berechtigte Erwartungen begründet haben.(9)

69.      Auch dies scheint hier der Fall zu sein. Die Klägerin vertraute offenbar darauf, dass sie ihre Aufzeichnungspflichten erfüllt hat, wenn sie den CMR-Frachtbrief aufzeichnet, auf dem die Zollbehörde nach einer Prüfung den Status der Ware per Stempel und Unterschrift vermerkt hat, und sich daraus die Überführung in ein anschließendes Zollverfahren (hier die Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr) ergab. Dadurch wurde aus ihrer Sicht das Verfahren der Freizone ordnungsgemäß erledigt. Dieses Vertrauen geht auf die – wie das vorlegende Gericht mitteilt – ständige Verwaltungspraxis der lettischen Finanzbehörden zurück, welche vermutlich den Bedürfnissen eines Massenverfahrens geschuldet war. Eine ständige Verwaltungspraxis, die – wie oben ausgeführt – nicht offensichtlich unionsrechtswidrig ist, kann die vernünftigen und berechtigten Erwartungen begründen, dass von dieser Praxis nicht rückwirkend abgewichen wird.

70.      Daher ist auf die vierte Frage zu antworten, dass eine ständige Verwaltungspraxis, die nach einer Prüfung der Zollbehörde auf dem CMR-Frachtbrief den Status der Waren per Stempel und Unterschrift vermerkt und es in der Vergangenheit immer ermöglichte, das Verfahren der Freizone wirksam zu erledigen, einen Vertrauensschutz begründen kann. Das gilt auch, wenn auf dem Dokument der Grund für die Statusänderung nicht näher angegeben wird. Dies verstößt jedenfalls nicht offensichtlich gegen das Unionsrecht, da dieses zulässt, dass die nationalen Zollbehörden abweichende Anforderungen an den Nachweis stellen (siehe oben, Nrn. 44 ff.).

2.      Erstreckung der Rechtskraft einer unionsrechtswidrigen Entscheidung

71.      Mit der fünften Frage, die ebenfalls nur hilfsweise zu beantworten ist, fragt das vorlegende Gericht im Ergebnis danach, ob der Grundsatz der Rechtskraft hier einer Festsetzung einer Zollschuld nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. a des Zollkodex entgegenstehen kann.

72.      Hintergrund ist, dass in einem Verfahren zur verwaltungsrechtlichen Sanktionierung der Klägerin ein Verstoß gegen zollrechtliche Pflichten rechtskräftig verneint wurde. In diesem Verfahren war anscheinend auch die Finanzverwaltung beteiligt. Nach dem geltenden nationalen Recht müssen die Tatsachen, die in den Gründen eines rechtskräftigen Urteils festgestellt worden sind, im Rahmen der Prüfung einer Verwaltungssache, an der dieselben Parteien beteiligt sind, nicht erneut nachgewiesen werden (Art. 153 Abs. 3 der Verwaltungsverfahrensordnung). Außerdem ist ein Urteil für das Gericht bei der Prüfung anderer mit dieser Rechtssache in Zusammenhang stehender Rechtssachen bindend (Art. 16 Abs. 3 und 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes). Weil das vorherige Gericht einen Verstoß gegen Pflichten nach dem Zollkodex rechtskräftig verneint hat, sieht sich das vorlegende Gericht an der Festsetzung einer Zollschuld gehindert, die einen Verstoß gegen Pflichten des Zollkodex voraussetzt.

73.      Dem Grundsatz der Rechtskraft kommt sowohl im Unionsrecht als auch in den nationalen Rechtsordnungen eine wichtige Bedeutung zu. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können.(10)

74.      Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte.(11)

75.      Aufgrund fehlender unionsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen dieser Staaten, die Modalitäten der Wirkung der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität).(12) Letzterer ist hier allerdings nur bedingt einschlägig. Denn vorliegend würde durch die Rechtskrafterstreckung eines (möglicherweise unionsrechtwidrigen) Urteils zulasten des Mitgliedstaats nicht die Ausübung von Rechten eines Einzelnen erschwert.

76.      Der Grundsatz der Effektivität steht aber dann dem Grundsatz der Rechtskraft nach nationalem Recht entgegen, wenn eine unionsrechtswidrige rechtskräftige Entscheidung auch für weitere Zeiträume, die gar nicht Gegenstand des rechtskräftigen Urteils waren, bindend wäre, weil dann eine Korrektur des unionsrechtswidrigen Zustandes auch in der Zukunft nicht möglich wäre.(13)

77.      Darum geht es hier – anders als die Kommission offenbar meint – aber nicht. Es wird nicht etwa die Rechtskraft eines Urteils auf weitere Zeiträume in der Zukunft erstreckt und damit eine Korrektur des unionsrechtswidrigen Zustandes in der Zukunft verhindert. Vielmehr wird allein die Rechtskraft eines Urteils bezüglich der juristischen Beurteilung einer bestimmten Handlung (Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten als Inhaber einer Freizone) für denselben Zeitraum von dem Sanktionsrecht auf das Zollrecht übertragen. Es geht mithin um die rechtliche Beurteilung einer identischen Handlung (eines identischen Zeitraums), die sowohl für die Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion als auch für die Festsetzung einer Zollschuld maßgeblich ist.

78.      Auch die unionsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten, abschreckende Verwaltungssanktionen vorzusehen, führt nicht etwa zur Durchbrechung der Rechtskraft.(14) Ein freisprechendes Strafurteil, welches nach nationalem Recht über Rechtskraft hinsichtlich eines Verfahrens zur Verhängung einer Verwaltungssanktion verfügte, in dem es um dieselbe Tat ging wie im Strafurteil, ist unionsrechtlich ebenso unbedenklich(15) wie hier ein freisprechendes Verwaltungssanktionsurteil. Auch im vorliegenden Fall kann die Verpflichtung zur Festsetzung der Zollschuld nicht die Durchbrechung der Rechtskraft eines Urteils verlangen, soweit es um dieselbe Handlung geht und soweit das innerstaatliche Recht eine solche Rechtskrafterstreckung vorsieht.

79.      Da in beiden Fällen ein Gericht eines Mitgliedstaates in einem kontradiktorischen Verfahren über das Vorliegen eines Verstoßes gegen zollrechtliche Pflichten entscheidet und in beiden Verfahren wahrscheinlich sogar dieselben Parteien (die Klägerin und die Finanzbehörde) beteiligt sind, würde eine gegenteilige Auffassung möglicherweise zu Problemen mit dem Grundsatz ne bis in idem (Art. 50 der Charta der Grundrechte) führen.(16)

80.      Die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Avio Lucos(17) betraf demgegenüber einen ganz anderen Fall. Hier sah der Gerichtshof einen Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz in der Tatsache, dass eine gerichtliche Entscheidung im Verwaltungsrechtsweg zulasten des Klägers auch auf den Zivilrechtsweg und alle Entscheidungen über das gleiche Rechtsverhältnis erstreckt wurde.

81.      Auch die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache CRPNPAC und Vueling Airlines, bei der eine Rechtskrafterstreckung eines unionsrechtswidrigen Strafurteils zulasten eines Privaten auf das Zivilrecht im Verhältnis zu anderen Personen verneint wurde, betraf eine andere Konstellation.(18) Um eine Bindung eines Privaten an ein unionsrechtswidriges Urteil zu seinen Lasten geht es hier nämlich nicht.

82.      Daher steht das Unionsrecht dem nicht entgegen, dass der innerstaatliche Grundsatz der Rechtskraft eine Festsetzung einer Zollschuld aufgrund eines Pflichtenverstoßes nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex verhindert, wenn ein nationales Gericht im Rahmen eines Sanktionsverfahrens bereits rechtskräftig einen Verstoß gegen zollrechtliche Pflichten im gleichen Zeitraum verneint hat.

V.      Ergebnis

83.      Somit schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Augstākā tiesa (Senāts) (Oberster Gerichtshof, Lettland) wie folgt zu antworten:

1.      Art. 214 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 in Verbindung mit Art. 178 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 verlangt von dem Inhaber einer Freizone nicht in jedem Fall, eine „Master Reference Number“ aufzuzeichnen, um seinen Aufzeichnungspflichten nachzukommen und das besondere Verfahren der Freizone zu erledigen.

2.      Ob die Erledigung des Verfahrens der Freizone durch die Aufzeichnung des CMR-Frachtbriefes, der mit Stempel und Unterschrift der Finanzverwaltung versehen war, erfolgen kann, hängt von dem Inhalt der Bewilligung bzw. dem Verzicht der Finanzverwaltung auf bestimmte Aufzeichnungspflichten ab. Dies kann nur das vorlegende Gericht beurteilen.

3.      Die Erledigung des besonderen Verfahrens der Freizone verlangt nicht, dass der Inhaber der Freizone die Gültigkeit des von der Finanzverwaltung bescheinigten Status der Ware selbständig prüft, wenn keine Anhaltspunkte für eine Fälschung der betreffenden Bescheinigung vorliegen. Wie diese Bescheinigung auszusehen hat und wie der Status der freigegebenen Waren nachzuweisen ist, ergibt sich – da die Zollbehörden nach Art. 178 Abs. 3 der Delegierten Verordnung 2015/2446 auf einige Angaben verzichten können –aus der nationalen Rechtslage.

4.      Eine ständige Verwaltungspraxis, die nach einer Prüfung der Finanzbehörden auf dem CMR-Frachtbrief den Status der Waren per Stempel und Unterschrift vermerkt und es in der Vergangenheit immer ermöglichte, das Verfahren der Freizone wirksam zu erledigen, kann einen Vertrauensschutz begründen, auch wenn auf dem Dokument der Grund für die Statusänderung der Waren nicht näher angegeben wird. Dies verstößt jedenfalls nicht offensichtlich gegen klare Bestimmungen des Zollkodex, weil dieser abweichende Nachweisanforderungen zulässt.

5.      Das Unionsrecht steht dem nicht entgegen, dass der innerstaatliche Grundsatz der Rechtskraft eine Festsetzung einer Zollschuld aufgrund eines Pflichtenverstoßes nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 952/2013 verhindert, wenn ein nationales Gericht im Rahmen eines Sanktionsverfahrens bereits rechtskräftig einen Verstoß gegen zollrechtliche Pflichten im gleichen Zeitraum durch die gleiche Handlung verneint hat.


1      Originalsprache: Deutsch.


2      Diese Abkürzung steht für „Convention relative au contrat de transport international de marchandises par route“.


3      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (Neufassung) in der Fassung vom 14. Dezember 2016 (ABl. 2016, L 354, S. 32).


4      Delegierte Verordnung der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union in der Fassung vom 28. Juli 2015 (ABl. 2015, L 343, S. 1).


5      Durchführungsverordnung der Kommission vom 24. November 2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union in der Fassung vom 18. April 2018 (ABl. 2015, L 343, S. 558).


6      So z. B. wohl Urteil vom 6. September 2012, Eurogate Distribution (C‑28/11, EU:C:2012:533, Rn. 27 ff. zum Zolllagerverfahren). Ähnlich zum Veredelungsverfahren: Urteil vom 6. September 2012, Döhler Neuenkirchen (C‑262/10, EU:C:2012:559, Rn. 41) – „müssen diejenigen, denen das Verfahren zugutekommt, die Verpflichtungen, die sich aus ihm ergeben, strikt einhalten“.


7      Ständige Rechtsprechung: Vgl. Urteil vom 14. Juli 2022, Sense Visuele Communicatie en Handel vof (C‑36/21, EU:C:2022:556, Rn. 26), vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 7. August 2018, Ministru kabinets (C‑120/17, EU:C:2018:638, Rn. 48), und vom 26. April 1988, Krücken (316/86, EU:C:1988:201, Rn. 22).


8      Ständige Rechtsprechung: Vgl. Urteile vom 14. Juli 2022, Sense Visuele Communicatie en Handel vof (C‑36/21, EU:C:2022:556, Rn. 28), vom 20. Dezember 2017, Erzeugerorganisation Tiefkühlgemüse (C‑516/16, EU:C:2017:1011, Rn. 69), vom 20. Juni 2013, Agroferm (C‑568/11, EU:C:2013:407, Rn. 52), und vom 26. April 1988, Krücken (316/86, EU:C:1988:201, Rn. 24).


9      Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Agroferm (C‑568/11, EU:C:2013:35, Nr. 59), und Urteil vom 14. September 2006, Elmeka (C‑181/04 bis C‑183/04, EU:C:2006:563, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Urteile vom 9. April 2024, Profi Credit Polska (Wiederaufnahme eines durch rechtskräftige Entscheidung beendeten Verfahrens) (C‑582/21, EU:C:2024:282, Rn. 37), vom 16. Juli 2020, UR (Mehrwertsteuerpflicht von Rechtsanwälten) (C‑424/19, EU:C:2020:581, Rn. 22), vom 4. März 2020, Telecom Italia (C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 64), vom 11. September 2019, Călin (C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 26), und vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub (C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 22).


11      Urteile vom 16. Juli 2020, UR (Mehrwertsteuerpflicht von Rechtsanwälten) (C‑424/19, EU:C:2020:581, Rn. 23), und vom 11. September 2019, Călin (C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Urteile vom 16. Juli 2020, UR (Mehrwertsteuerpflicht von Rechtsanwälten) (C‑424/19, EU:C:2020:581, Rn. 25), vom 4. März 2020, Telecom Italia (C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 58), vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti (C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 54), und vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub (C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 24).


13      Urteil vom 16. Juli 2020, UR (Mehrwertsteuerpflicht von Rechtsanwälten) (C‑424/19, EU:C:2020:581, Rn. 31 und 32).


14      Urteil vom 20. März 2018, Di Puma und Zecca (C‑596/16 und C‑597/16, EU:C:2018:192, Rn. 35).


15      Urteil vom 20. März 2018, Di Puma und Zecca (C‑596/16 und C‑597/16, EU:C:2018:192, Rn. 35).


16      Dies wäre denkbar, weil der Gerichtshof diesen Grundsatz im Verhältnis Strafverfahren zu Steuerverfahren für einschlägig hält – vgl. Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197). Insofern scheint es nicht ausgeschlossen, dass dieser Grundsatz auch im Verhältnis Verwaltungssanktionsverfahren zum Steuerverfahren einschlägig sein könnte.


17      Vgl. die sehr weitgehenden Aussagen im Urteil vom 7. April 2022, Avio Lucos (C‑116/20, EU:C:2022:273, Rn. 97 und 105).


18      Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines (C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 95 ff.).